| Mehr als ein Mauerfall

Von Annett Gröschner

Je älter ich werde, desto schneller vergeht die Zeit. Im letzten Jahr dachte ich, oh, schon gleich wieder fünf Jahre um, was kommt dieses Jahr in Sachen Erinnerungskultur? Wer hat diesmal die Mauer geöffnet und den Ostdeutschen das Paradies geschenkt? Will ich mich daran beteiligen, indem ich das Ganze von der Seite kommentiere und eine andere Erzählung dagegensetze, oder setze ich mal zehn Jahre aus und sortiere meine Erinnerungen? Wobei das mit der Erinnerung immer so eine trügerische Sache ist. Man erinnert sich nach Jorge Luis Borges ja immer nur an die letzte Erinnerung der Erinnerung.
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| 1989 war ich Underground

Von Enno Stahl

1989 war ich Underground. Und das war gut so. Denn wir wollten ums Verrecken nicht so sein wie die anderen – die Bölls, Grass‘, Walsers. Wenn man Trash und Indierock hört, kann man Wasserglaslesungen mit Blumenbouquet weniger goutieren. Literatur und die dazugehörigen Lesungen sollten Punk sein, was natürlich schwierig ist bis unmöglich. Literatur ist ein weit weniger aufreibendes Medium als harte Gitarrenmusik, besonders körperlich – wenngleich sie hier und da schon für rauschhafte Erfahrungen zuständig sein kann, aber die geschehen bekanntlich mehr im Kopf.
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| Wer schreibt Geschichte? Rückblicke auf die Wendezeit

1989/90 war eine Zäsur in der deutschen Geschichte. Die Hoffnungen auf eine Demokratisierung und Erneuerung des Sozialismus in der DDR wurden schnell von den Ereignissen überrollt und gerieten in ein neues Fahrwasser. Der Mauerfall, Wahlen, der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, eine vorzeitige Währungsunion, die Privatisierung der volkseigenen Betriebe, ein bis dato unbekannter Anstieg der Massenarbeitslosigkeit sowie die Übernahme von Führungspositionen durch Westdeutsche haben die (ost-)deutsche Geschichte und die Biografien der in der DDR aufgewachsenen Menschen nachhaltig geprägt und beschädigt. Die Wunden sind kaum vernarbt und werden erst langsam anerkannt. Aber auch die alte BRD, die manchen Ostdeutschen mit ihrer Reisefreiheit und ihrem hohen Konsumniveau als Sehnsuchtsort galt, veränderte sich. Der Neoliberalismus, entstanden aus der Krise des Fordismus in den 1970er Jahren, entfaltete nun, wo er sich ungehindert globalisieren konnte, seine volle Dynamik und setzte die alte Wohlfahrtsstaatlichkeit der BRD massiv unter Druck.Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat diese Zäsur(en) in sich aufgenommen und gespiegelt, ver-spiegelt oder zerr-spiegelt ästhetisch verhandelt und die subjektive Seite der Ereignisse von 1989/90 nachgezeichnet. Zahlreiche Romane haben die Einzelgeschichten und Schicksale, die doch immer auch Typen reflektieren und Allgemeines aussagen, erinnerlich gemacht: Ingo Schulze, Annett Gröschner, Regina Scheer, Clemens Meyer, Jenny Erpenbeck, Erasmus Schöfer, Reinhold Andert, Christoph Hein, Manja Präkels, Peter Richter, um nur einige zu nennen. Was denken diese Schriftsteller*innen heute über die Ereignisse von damals? Bewerten sie sie neu? Was hat sich damals eigentlich verändert? Was ging zu Ende und was begann? Und was ist für sie das Allgemeine hinter ihrem konkreten Schicksal? Die Zeitschrift LuXemburg wirft einen Blick auf 30 Jahre seit der Wende und die Folgen. In der Reihe “Wer schreibt Geschichte?” erscheinen Beiträge von Künstler*innen, die sich mit der Zäsur 1989/90 auseinandersetzen.

Betrachtungen eines Heimarbeiters
Von Jens Sparschuh

Eskalator hoch und runter
Von Manja Präkels

Damals
Von Anke Stelling

Die Schildkröte
Von Steffen Mensching

Mehr als ein Mauerfall
Von Annett Gröschner

Mauerfall Memories
Von Norbert Niemann

Es war einmal
Von Heike Geißler

Never back in the USSR
Von Michael Wildenhain

Neunundachtzig Neunzig
Von Ingo Schulze

Die zerfetzte Fahne
Von Erasmus Schöfer

Der nutzlose Punker Samuel Beckett
Von Leonhard F. Seidl

Vergeigt
Von Reinhold Andert

1989 war ich Underground
Von Enno Stahl

 

| NEUNUNDACHTZIG NEUNZIG

Von Ingo Schulze

Je unsicherer die Gegenwart, desto drängender das Bedürfnis, sich in der Vergangenheit des eigenen Herkommens zu vergewissern. Um das dreißigjährige Jubiläum der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989 zu feiern, gibt es grob gesagt zwei unterschiedliche Ansätze. Der eine reduziert alles auf den 30. Jahrestag des Mauerfalls, der andere begreift den Herbst als Prozess, in dem die Öffnung der Westgrenze ein Meilenstein war, aber nicht der einzige.

Ich halte den zweiten Ansatz für den angemessenen. Die Ereignisse der Friedlichen Revolution/des Umbruchs/des Herbstes 89 auf den Mauerfall zu konzentrieren, ist allerdings das herrschende Deutungsmuster, nicht nur, weil ein Datum, ein Ereignis griffiger ist als ein Prozess, es für den »Mauerfall« Bilder und Reportagen gibt und der Begriff »Mauer« die Qualität eines mythischen Elementes besitzt, also über sich hinausweist.
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| Rowing against the current: teaching and learning with Rosa Luxemburg

by Miriam Pieschke

One of the many iconic images we have of Rosa Luxemburg depicts her at the SPD Party School, where she began to teach in 1907. Luxemburg stands on the left, apart from her there are only very few other women in the picture. Unlike her friend Clara Zetkin, a trained teacher, Rosa Luxemburg had no pedagogical background. Yet, as her texts quickly reveal, it was not only her knowledge and analytical acumen that qualified her for the job: it was her capacity to explain contexts and complex issues. This makes reading Rosa Luxemburg’s texts a delight even today.
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| ICH WERDE SEIN – Jubiläumsausgabe zum 100. Todestag von Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg ist eines der ikonischen Gesichter der sozialistischen Bewegung. Und eine der wenigen Frauen, vielleicht die einzige, deren zentrale Rolle darin unbestritten ist. Sie beeindruckt als brillante Autorin und klarsichtige Theoretikerin, als mitreißende Rednerin und engagierte Politikerin, als lyrische Chronistin und streitbare Genossin. Und sie steht für eine Haltung, in der Entschiedenheit im politischen Kampf und »weitherzigster Menschlichkeit« ein Ganzes bilden.

Luxemburg ist nicht nur Namensgeberin der Stiftung, sondern auch Patin dieser Zeitschrift. Das von ihr gelebte Zueinander von Theorie und Praxis, von Analyse und Veränderung, von Strategie und eingreifendem Handeln steht für die Perspektive der LuXemburg und für die Entwicklung eines linken Projekts, als dessen Teil und Debattenorgan sich die Zeitschrift versteht.
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| »Nur keine Sentimentalität«. Eine israelische Perspektive

Von Gal Hertz

Im Juni 1916 wurden die Gründer des Spartakusbundes Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wegen unpatriotischer Aktionen während des Ersten Weltkriegs festgenommen (vgl. Solty in diesem Heft). Nach ihrer Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Schutzhaft kommentierte Luxemburg in ihrer Junius-Broschüre (1916, 163) vom Gefängnis aus die Verheerungen des Krieges:
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| Ständig bei Marx

Von Judith Dellheim

Gestützt auf Raya Dunayevskaya (1982) darf die These vertreten werden, dass keine Revolutionärin, die zugleich Theoretikerin war, kein Theoretiker und Revolutionär außer Engels sich so umfassend und intensiv mit Marx befasst hat wie Rosa Luxemburg. Unentwegt hat sie in Marx’ Schriften und Notizen gesucht – um sein Denken, seine Methode, sein politisches Agieren und sein Leben zu verstehen und zu erklären, um Probleme zu erfassen und sich mit ihnen radikal auseinanderzusetzen.
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| Dissidenz. Luxemburg als Patin eines undogmatischen Sozialismus

Von Jan Toporowski

Gemeinsam mit ihrem Genossen und Lebensgefährten Leo Jogiches gehörte Rosa Luxemburg 1893 zu den Begründer*innen der Sozialdemokratie des Königreichs Polens und Litauens (SDKPiL). Der Bezug auf das Königreich im Namen der Partei ergab sich aus der geografischen Lage des russisch besetzten Polen und war nicht als Huldigung der polnischen Wahlmonarchie gemeint. Die Partei verstand sich als linke radikale Alternative zur etwa zeitgleich gegründeten Polnischen Sozialistischen Partei (PPS). Letztere war durch heftige interne Fraktionskämpfe gekennzeichnet – insbesondere hinsichtlich der polnischen Unabhängigkeit. Eine von Józef Piłsudski angeführte Strömung der PPS, die den Kampf um nationale Unabhängigkeit als Vorbedingung für die Befreiung der polnischen Arbeiterklasse ansah und priorisierte, wurde als »Revolutionäre Fraktion« bekannt. Ihr gegenüber stand in dieser Frage der linke Flügel (Lewica), der wiederum auf den gemeinsamen Kampf mit anderen nationalen und sozialen Gruppierungen gegen die zaristische Autokratie setzte. Die SDKPiL verfolgte derweil eine entschieden antinationalistische Linie und propagierte ein Programm, das die Auflösung aller Nationalstaaten und die Errichtung einer internationalen proletarischen Republik vorsah. Angesichts einer Vielzahl an sprachlichen, religiösen und ethnischen Identitäten innerhalb der städtischen Bevölkerung und vor allem der industriellen Arbeiterklasse war die nationale Frage von erheblicher Bedeutung. Tatsächlich war die größte Organisation der Arbeiterklasse Polens zu jener Zeit der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund, kurz Bund, der sowohl als Gewerkschaft als auch als politische Partei fungierte.
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| Luxemburgismus. Geschichte einer politischen Verfolgung

Von Holger Politt

Mit dem Kampfbegriff Luxemburgismus wurde versucht, spezifische Merkmale im politischen Denken Rosa Luxemburgs zusammenzufassen. Dabei ging es darum, sie aus dem nach Lenins Tod in der Sowjetunion und in der Kommunistischen Internationale kanonisierten Marxismus-Leninismus auszuschließen. Der Ausdruck war von Anfang an pejorativ gemeint, denn keiner der damaligen Anhänger*innen Luxemburgs wäre auf die Idee gekommen, ihr Denken auf diese Weise zu charakterisieren. Zu sehr galt sie als umstrittene, streitbare, indes konsequente Marx-Schülerin. Der Begriff machte also nur Sinn aus Sicht eines neu geschaffenen ideologischen Konstrukts, des sogenannten Marxismus-Leninismus. Dieser sollte einerseits den Bruch Lenins mit zentralen Elementen der Marx’schen Lehre bemänteln, andererseits den Anspruch durchsetzen, dass es sich hierbei um eine legitime und logische Weiterentwicklung der Marx’schen Theorie handelt. Mit der Diskreditierung vermeintlich »luxemburgistischer« Strömungen verbindet sich ein nur wenig bekanntes Kapitel der Bolschewisierung und politischen Verfolgung insbesondere polnischer Kommunist*innen. Die Aufarbeitung dieser Geschichte erinnert auch an den oft vergessenen Einfluss Luxemburgs auf die kommunistischen Bewegungen im Nachbarland.
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