| LUCAS COMBINE

September 2010  Druckansicht
von Andrew Bowman und Hilary Wainwright

ERFAHRUNGEN MIT BETRIEBLICHER KONVERSION

Die Beschäftigten des vom Konkurs bedrohten Windturbinenwerks Vestas auf der Isle of Wight besetzten 2009 mit Unterstützung von grünen, gewerkschaftlichen und sozialistischen Aktivisten die Fabrik. Für die britische LabourRegierung unter Gordon Brown war das eine Herausforderung. Der für Klimaschutz zuständige Minister Ed Miliband rief zwar die Öffentlichkeit dazu auf, Druck auszuüben, um ein härteres Vorgehen gegen Emissionen rechtfertigen zu können. Als die Arbeiter von Vestas mit ihm sprechen wollten, zeigte die Regierung jedoch keinerlei Interesse an praktischer Reaktion auf öffentlichen Druck. Wie die Vergesellschaftung einer Branche praktisch vollzogen wird, markiert eine erhebliche Lücke unseres Wissens.

Bereits vor 35 Jahren hatten die Arbeiter bei Lucas Aerospace einen »alternativen Unternehmensplan« entwickelt, mit dem eine betriebliche Konversion von Rüstungsproduktion hin zu gesellschaftlich nützlichen und umweltpolitisch wünschenswerten Produkten durchgesetzt werden sollte.1 Welche Lehren können daraus angesichts der gegenwärtigen Krise der Weltwirtschaft und des Ökosystems gezogen werden?

Rückblende zum Januar 1975 und zu einem Treffen des Gesamtvertrauensleutekörpers von Lucas Aerospace: Die Unternehmensführung hatte auf die Krise mit Entlassungen reagiert. 60 Delegierte aus 13 Fabriken diskutierten auf einem Treffen in einem gewerkschaftlichen Bildungszentrum außerhalb Sheffields über Aktionsmöglichkeiten. Anders als die Arbeiter von Vestas waren sie gut gewerkschaftlich organisiert und wurden anfangs durch einen Minister der Regierung zum Handeln ermutigt.

Am Ende jenes Januarwochenendes hatten die Vertrauensleute von Lucas Aerospace, darunter die besten Luftfahrtentwickler, hochqualifizierte Werkstattmechaniker und so genannte ungelernte Arbeiter mit starkem Klassenbewusstsein und Verankerung in der Gemeinde, eine bahnbrechende Entscheidung getroffen: Sie würden an ihre Arbeitsplätze zurückkehren und ihre Mitglieder an der Entwicklung und der Einforderung eines »alternativen Unternehmensplans für eine gesellschaftlich nützliche und umweltpolitisch wünschenswerte Produktion« beteiligen. »Lasst uns einen Plan ohne die Unternehmensleitung entwickeln«, sagte Vertrauensmann Mike Reynolds. »Lasst uns einen Plan ausarbeiten, mit dem wir zu unseren Bedingungen die Bedürfnisse unserer Gemeinde befriedigen können.« »Wo immer man auch hinblickt, wird von der Krise gesprochen«, so Mike Cooley, ein Designer, der später wegen seines Engagements im Gesamtvertrauensleutekörper gefeuert wurde. »Die gegenwärtige Wirtschaftsentwicklung steckt in der Krise. Wir nicht. Wir haben unsere Fähigkeiten nicht verloren, wir können immer noch Dinge entwickeln und produzieren.« Die breite Beteiligung der Arbeiter zeigte, dass Cooley die Haltung vieler ausdrückte. An jede Fabrik wurde ein Fragebogen verschickt, um ein Inventar von verfügbaren Fertigkeiten und Maschinen zu erstellen und zu fragen, welche Produkte die Kollegen herstellen sollten. »In kurzer Zeit hatten wir 150 Ideen für Produkte, die wir mit den bei Lucas Aerospace vorhandenen Werkzeugmaschinen und Fertigkeiten herstellen konnten.«

ALTERNATIVEN IN DER PRAXIS AUFZEIGEN

Diese konkreten Ideen illustrieren die methodischen Prinzipien der Vertrauensleute – und sind daher noch heute interessant. Sie wurden eher als Zeichnungen und Modelle, denn als schriftliche Beiträge vorgelegt. Gegen die traditionelle Betonung der linguistischen Fertigkeiten und eines Wissens, das auf Aussagenlogik und kodifizierten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, wurde die Bedeutung des impliziten Wissens betont, der »Dinge, die wir wissen, aber nicht ausdrücken können«. Die Arbeiter waren sich bewusst: Technik ist nicht wertneutral, sie erfordert Richtungsentscheidungen.

So sollten mit einigen Produktideen medizinische Erfordernisse befriedigt werden: Dialysemaschinen; ein leichtes, tragbares Lebenserhaltungssystem für Rettungswagen; ein einfaches System mit Wärmetauscher und Pumpe, um während kritischer Operationen einen gleichmäßigen Blutfluss und eine konstante Temperatur zu garantieren. Weitere Vorschläge umfassten alternative Energiequellen, darunter Solaranlagen für Niedrigenergiehäuser; eine Reihe von Windgeneratoren, für die auf die Kenntnisse der Arbeiter in Aerodynamik zurückgegriffen wurde.

Andere Vorschläge drehten sich um alternativen Transport, etwa ein »StraßenSchienen«-Fahrzeug, das in den Städten auf Straßen fahren und zusätzlich das nationale Schienennetz nutzen und größere Steigungen überwinden konnte als herkömmliche Fahrzeuge. Ein »Prototyp« wurde realisiert und als eine Form des technologischen Agitprop genutzt. Ein Batterieantrieb sollte in Kombination mit einem kleinen Verbrennungsmotor die Effizienz von Elektro-Autos erhöhen und giftige Emissionen radikal reduzieren. Schließlich gab es auch eine Reihe von Vorschlägen, die den Bau von ferngesteuerten Apparaten vorsahen, die die Bewegungen des Menschen nachahmen und Aufgaben in Echtzeit, aber in Distanz zum Arbeitsprozess ausführen konnten. Die Arbeiter könnten so ihre Fähigkeiten einsetzen und entwickeln, wie es ein bloßer Roboter nicht könnte: indem sie als Minenarbeiter, als Ölarbeiter den Herausforderungen der physischen Welt begegnen können, sich aber in einer ungefährlichen und sicheren Umgebung befinden.

Der Plan sah demokratische Alternativen in Bezug auf die Organisation des Produktionsprozesses wie auf die Endprodukte vor. Durch die Betonung der gesellschaftlichen Nützlichkeit und der Umweltverträglichkeit dieser Produkte wurde der Zwang zur Akkumulation und zur Profitmaximierung infrage gestellt – auch wenn einige der Produkte spä- ter innerhalb eines kapitalistischen Umfeldes Profite erzielen sollten. Mit dem Plan verbunden war die Vorstellung einer anderen Art von Wachstum, deren Logik sich von der bicycle economy, 2 die zur Akkumulation gezwungen ist, einfach um das System am Laufen zu halten, unterscheidet.

DAS MANAGEMENT WEIGERT SICH ZU VERHANDELN

Die radikale und pragmatische Initiative wurde im kollektiven Verhandlungsprozess mit Management und Regierung entwickelt. Die Führung von Lucas Aerospace weigerte sich, ernsthaft darüber zu verhandeln. Dadurch wäre bei Tarifverhandlungen das alleinige Entscheidungsrecht durch die Unternehmensführung infrage gestellt worden. Die Mitglieder des Gesamtvertrauensleutetreffens hofften, dass die Regierung aktiv werden würde. Die Vorstellung öffentlicher Eigentümerschaft lag in der Luft. Im November 1974 drängte sich eine Delegation des Gesamtvertrauensleutetreffens in das Büro des Industrieministers Tony Benn, um die Zukunft der Branche zu diskutieren. Es stünde nicht in seiner Macht, das Unternehmen zu verstaatlichen, er hob jedoch hervor, wie wichtig die Diversifizierung und die Fortführung der Produktion »während des Konjunkturrückgangs« wäre. Damit legte er den Grundstock für die Idee eines alternativen Unternehmensplans. Er bot ein Treffen mit Vertretern der Regierung, des Unternehmens und des Gesamtvertrauensleutetreffens an, um dies zu diskutieren.

Als der Plan im Januar 1976 fertiggestellt war, hatte Harold Wilson auf den Druck des britischen Industrieunternehmerverbandes (CBI) reagiert und Tony Benn bereits aus dem sensiblen Amt des Industrieministers entlassen. Die Türen des Ministeriums blieben den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten verschlossen. Der Angriff der ThatcherRegierung auf Gewerkschaften und radikale Bezirksregierungen in den 1980ern zerstörte jenen kreativen oppositionellen Geist vollends.

WAS BLEIBT?

»Wieder einmal wird uns erzählt, dass es für viele keine Arbeit mehr gebe. Verfügen unsere Krankenhäuser über so viel Personal und Ausstattung, sind die Dienstleistungen in unserem öffentlichen Nahverkehrssystem so gut ausgebaut, sicher und umweltverträglich, ist unser Wohnungsbestand so angemessen und gepflegt, dass es dort nichts mehr zu tun gibt? Guckt Euch nur um. Überall gibt es Arbeit zu tun. Was fehlt, sind die Vorstellungskraft und der Mut, dies kreativ anzugehen.« (Mike Cooley) Die Vertrauensleute von Lucas Aerospace haben gezeigt, dass die effektivste Form, die Herrschaft des kapitalistischen Marktes herauszufordern, in konkreten Aktionen besteht, vor allem in der Formulierung alternativer Formen, Dinge herzustellen. Vielleicht ist die Zeit für den Alternativplan der Lucas-Arbeiter gekommen?

HILARY WAINWRIGHT IM GESPRÄCH MIT »LUXEMBURG«

Es scheint, als könnten mittlerweile einige der im Alternativplan vorgesehenen Produkte in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen, sofern eine angemessene Finanzierung des Gesundheitswesens sichergestellt wäre. Was macht den Kern eines »revolutionären Produktwechsels« aus?

Wainright: Es hat weniger mit dem Produkt an sich zu tun. Von Bedeutung sind vielmehr die industriellen und politischen Machtverhältnisse in den Kämpfen um Produkte und Technologien. Um die Vorschläge der Lucas-Arbeiter umzusetzen, wäre nicht nur eine Veränderung der Machtverhältnisse im Unternehmen erforderlich gewesen. Die Regierung hätte gegenüber Finanzmärkten und Unternehmern öffentliche Interessen stärken müssen. Produktvorschläge dienen nur dann einer Transformation, wenn sie die Dynamik besitzen, betriebliche und gesellschaftliche Entscheidungen privaten Interessen zu entziehen. Es reicht nicht aus, einfach einen »guten Vorschlag« zu machen, der innerhalb der existierenden Machtverhältnisse umgesetzt werden kann. Die umfassenderen politischen und industriellen Machtverhältnisse müssen herausgefordert werden.

Mit der Erarbeitung des Alternativplans wurde das traditionelle Herrschaftsverhältnis im kapitalistischen Unternehmen und das angeblich überlegene technische und Branchenwissen der Manager infrage gestellt. Wie müsste angesichts der durch lean production angeblich flacher gewordenen Hierarchien und des Aufstiegs der so genannten Wissensökonomie industrielle Solidarität beschaffen sein?

Lean production und Wissensökonomie sind in ambivalenter Form z.T. ein Ergebnis der Antworten der Unternehmer auf die Kampfkraft der Arbeiter und die umfassenderen gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse sozialer Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren. Das Problem besteht darin, wie Arbeiter aller Qualifikationen sich in Verbindung mit Bürger- und insbesondere umweltpolitischen Bewegungen organisieren und eine nichthierarchische Arbeitsorganisation und die Wissensökonomie nutzen können, um soziale, demokratische und insbesondere umweltpolitische Ziele zu erreichen. Dazu bedarf es des Umdenkens in den Gewerkschaften, damit sie sehr viel offener und politischer werden und ihre Organisationen im Inneren horizontaler ausrichten.

Wie sollte vor dem Hintergrund der umweltpolitischen Auswirkungen jeder industriellen Produktion die Beteiligung des Gemeinwesens strukturell und institutionell beschaffen sein? Wenn wir von Industrie- oder Gemeinwesenräten sprechen, welcher Art von Prinzipien sollten diese unterliegen?

Es gab in einigen Fällen Beteiligung der Gemeinden. Diese waren häufig durch die trades councils organisiert,3 lokale Gewerkschaftszusammenschlüsse, die eng an die Gemeinde gebunden waren. Sie sind mittlerweile geschwächt. Wir müssen passende Angelpunkte für die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Bürgerorganisationen mit verschiedensten Anliegen finden. Nichtkommerzielle soziale Netzwerke im Internet können nützlich sein. Aber wir brauchen physisch vorhandene Zentren; soziale Zentren sind ein Anfang, aber die Möglichkeiten müssen noch erweitert werden. Die verschiedenen sich herausbildenden Initiativen müssen zusammengebracht werden, um voneinander zu lernen. Wir sollten diese Entwicklung kritisch verfolgen und die neuen Formen dokumentieren. Zeitschriften wie Luxemburg oder Red Pepper können dabei eine wichtige Rolle spielen.

Aus dem Englischen und Gespräch Lars Stubbe

 

Anmerkungen

1 Lucas Aerospace war ein großer britischer Rüstungskonzern, der ab den 1970ern an Marktanteilen verlor. Zwischen 1970 und 1982 sank die Beschäftigtenzahl von 18000 auf 11000.
2 Damit wird in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion in Analogie zum Fahrrad die Vorstellung bezeichnet, dass eine Ökonomie umso stabiler ohne Eingriffe funktioniert, je schneller sie läuft, also je stärker sie wächst; Anm.d.Ü.
3 Zwar gibt es auch in Großbritannien mit dem TUC einen dem DGB ähnlichen Gewerkschaftsdachverband, die Trades Councils blicken jedoch auf eine längere Geschichte zurück und standen deshalb in der Vergangenheit auch gelegentlich in Widerspruch zur TUC-Politik; Anm.d.Ü.