| JENSEITS VON GUT UND BÖSE

Juni 2010  Druckansicht
Von Alex Demirović

»Guten Morgen« – »Guten Tag« – »Guten Abend« – es gehört zu den alltäglichen Ritualen, das Gute zu wünschen und zu beschwö- ren. Gebannt werden sollen das Böse, das Schlechte, die schädlichen Ereignisse, die die individuellen Pläne für den Tag, die bedrohlichen Träume, die die Nachtruhe stören, die Schatten, die sich über die Stimmung legen, die zur Enttäuschung beitragen, die den Tag vermiesen oder die entmutigen. Das Böse drohe, wenn es die Angst sehe. Die Angst, so schreibt Rafael Chirbes in Krematorium, ist der Nährstoff des Bösen, bei Gleichgültigkeit gedeihe diese Pflanze nicht. »Da ist sie, die Angst, aus der Routine auszubrechen, etwas nicht Alltägliches zu tun. Der Mensch ist das einzige Tier, […] das mit Blick auf die Zukunft wimmert, die Angst ist der Blick auf die Zukunft, nur der Mensch denkt an die Zukunft, plant die Zukunft, und die Zukunft, die Angst vor der Zukunft, ist die Wurzel allen Leids.«  Der Wunsch des Guten will diese Angst vor der Zukunft und das Böse bannen, er ist der Erfahrung und dem Wissen geschuldet, dass das individuelle Leben im Alltag so zerbrechlich ist. Mit der Gewohnheit, der Routine, damit, dass es einfach nur so weiter geht – was schon schlimm genug und die eigentliche Katastrophe ist, wie uns Benjamin und Adorno lehren – ist nicht zu rechnen. Die Krankheit, der Tod von Partnern und Freunden, der Streit, die plötzliche körperliche Ermüdung und Erschöpfung, der Anflug von Verdrieß- lichkeit, die Angst um den Arbeitsplatz oder die Sorge um den Schulerfolg des Kindes – all das weist auf die Unwahrscheinlichkeit eines gelingenden Lebensentwurfes hin, zu dem körperliche Unversehrtheit, ein Freundeskreis, ein ausreichendes Maß an materieller Versorgung mit Wohnung, Nahrung und Kleidung, Bildung, befriedigende sexuelle Erfahrung, eine sinnerfüllte Arbeit, die Möglichkeit der Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen, eine angenehme bauliche und natürliche Umwelt und vieles andere mehr gehören. Wir erfahren immer wieder, dass es mutigen und ungewöhnlichen Einzelnen gelingt, auf befriedigende Weise auch dann leben zu können, wenn sie nicht mit allen diesen körperlichen, kulturellen, gesellschaftlichen Minima ausgestattet sind. Aber für die meisten von uns, für den Durchschnitt der individuellen Leben erwarten wir, dass sie die Möglichkeit der vollen Teilhabe besitzen und dem Druck der Umstände, der auf ihnen lastet und droht, sie zu erniedrigten, geknechteten, verlassenen, verächtlichen Individuen zu machen, die ängstlich in Routinen erstarren und dem Bösen hilflos ausgesetzt sind, etwas entgegen zu setzen vermögen – diesen Block abwerfen und Freiheit gewinnen können. Eine existenzsichernde und sinnvolle Arbeit, die demokratische Beteiligung an allen das eigene Leben betreffenden Entscheidungen, einigermaßen überschaubare Zukunftshorizonte, gesellschaftliche Verhältnisse, unter denen nicht ständig in Konkurrenz gegeneinander um Selbsterhaltung gekämpft werden müsste und die nicht durch destruktive Dynamiken bestimmt wären – für viele wäre es schon etwas Gutes, der rationelle Gehalt des Guten, mit Freunden, Kollegen und Verwandten den eigenen und oftmals gar nicht so anspruchsvollen Lebenszielen nachgehen zu können. Die Verhältnisse jedoch, sie sind nicht so – und der Mensch ist viel zu gut und will es nicht glauben.

Die Politik des Imaginären hat in den vergangenen Jahren weit über solche Alltagserfahrungen hinaus das historische Register geöffnet, in dem Jahrhunderte sozialer Kämpfe eingetragen sind: es wurden in den USA von George W. Bush die Weltpolitik ebenso wie die amerikanische Innenpolitik als Kampf des Guten gegen das Böse symbolisiert. Das Gute, das sind »wir«, unsere von Gott gewollte und gesegnete Lebensweise, Demokratie und Marktwirtschaft, die zu verteidigenden Werte der westlichen Zivilisation gegen die Mächte des Bösen. Vielleicht ist dies der Hintergrund und mächtige Objektivitätsüberhang, der weit über den alltäglichen Bereich hinaus das Gute gegenwärtig zu einem weit verbreiteten Attribut werden lässt, das offensichtlich mit politischer Absicht benutzt wird. Alles soll gut sein und gut werden: gutes Leben, gute Gesellschaft, guter Kapitalismus, gute Regierung, gute Arbeit, gute Bildung etc. Die Rede vom Guten – wirkt sie nicht wie ein moralisches Sedativum, verspricht sie nicht die heile Welt allein aufgrund ethischer Überzeugung? Zwar befindet sich die Weltwirtschaft in der größten Krise seit 1929, aber es wird von unserer »guten Regierung«, von der Politik und von der Wirtschaft signalisiert, dass sie im Prinzip alles im Griff haben, dass alles gut ist oder doch gut werde: Gegenwärtig geht es noch schlecht, aber es wird schon, keine Sorge, das Schlimmste ist überwunden. Wir kümmern uns darum. Ja, die Arbeitslosigkeit, ja, die Staatsschulden, ja, die Boni der Banker – doch, wir bekommen das in den Griff. Sicher, die Börsen übertreiben, aber es gibt ermutigende Anzeichen von Wachstum: der Ifo-Geschäftsklimaindex, die geringere Zahl der Arbeitslosen, die Aktienkurse, die Exportentwicklung, die Konsumneigung. Handelt es sich um pathologischen Optimismus? Das auch. Das Bürgertum mag den bösen Blick auf seine Verhältnisse nicht und denunziert ihn als Miesmacherei, als Übellaunigkeit, als Angst. In einer eigenartigen idealistischliberalen Verkehrung wird so getan, als sei die Kritik schuld an den schlechten Verhältnissen: Würde man’s anders sehen, wäre auch alles besser, weil man sich anders, positiv verhielte. Negative self fulfilling prophecy will der Liberalismus meiden, der trotz so vieler schlechter Erfahrungen mit ihr immer noch die Schmiedekunst des eigenen Glückes propagiert.

Aber da ist noch mehr. Eine Strategie, über die vor langer Zeit schon Francis Bacon Auskunft gegeben hat, nachdem seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert Europa von mehreren Wellen sozialer Kämpfe erfasst wurde. Bacon, nicht der erste, nicht der letzte in diesem Genre, befasst sich mit der Frage, wie der Ausbruch von sozialen Unruhen zu vermeiden wäre. Eines der empfohlenen politischen Rezepte ist das des Versprechens der besseren Zukunft und die wiederholte Erneuerung der optimistischen Zukunftsverheißung: »Ein berechnendes und geschicktes Wachrufen und Nähren von Hoffnungen sowie Hinhalten der Menschen von einer Hoffnung zur andern ist eines der besten Gegenmittel gegen das Gift der Unzufriedenheit. Es ist daher ein sicheres Zeugnis für die Weisheit einer Regierung und ihrer Maßnahmen, die Herzen des Volkes durch Hoffnungen zu fesseln, wenn sie es nicht zufriedenstellen kann, und wenn sie alles so darzustellen versteht, dass kein Übel so hartnäckig erscheint, als dass nicht noch ein Ausweg zu erhoffen wäre.« (Bacon 1624, 62) Da ist keine Krise des Neoliberalismus, das Bürgertum ist nicht demoralisiert, es fasst sich ein Herz und gibt sich selbst und den Menschen Hoffnung. Die Übel mögen groß sein, die Politiker inkompetent, die Lösungsstrategien vage oder in die falsche Richtung gehend, das Misstrauen in der Bevölkerung verbreitet – dennoch lässt sich damit umgehen, dennoch kann eine Krise vermieden werden, wenn Zeit gewonnen wird, wenn die Probleme verzeitlicht und die Erwartungen auf die Zukunft verschoben werden. Das entspricht der Idee des Fortschritts, die ein säkularisierter Trost ist, alles von der Zukunft und nichts von der Gegenwart zu erwarten, die die Praxis der Veränderung aufschiebt, den gegenwärtigen Augenblick versäumt, weil in der Zukunft alles gut zu werden verspricht. Auf diese Weise können die, die über die Gegenwart verfügen, alles derart festlegen, dass auch die Zukunft nichts anderes sein wird als sich vollziehende Gegenwart, das Kontinuum der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse.

Das Versprechen, dass alles gut werde, dass es lohnt zu hoffen – wieso nehmen die Menschen es an? Was lässt sie trotz aller Zweifel diese Politik, diese Ökonomie, diese Verhältnisse hoffend ertragen, obwohl sie sie so dauerhaft knechten, so viele Male und immer wieder um ihre Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen betrogen, ihren Reichtum enteignet, ihre Arbeit vernichtet haben? Vielleicht sind viele der erklärenden Antworten der Linken falsch, es sind vielleicht nicht Naivität, Dummheit, Verblendung, Apathie, sondern untergründig wirkende Erfahrung und Erkenntnis. Es ist die aufgeklärte Skepsis, das mangelnde Vertrauen in die Alternativen, die die stärkste Überzeugungskraft haben. »In einer Zeit der Aufklärung ist man sogar bei den segensreichsten Taten ängstlich. Man spürt die alten Missbräuche und sieht die Abhilfe, doch sieht man auch schon die Missbräuche dieser Abhilfe. Man lässt das Schlechte bestehen, wenn man das noch Schlechtere fürchtet. Man lässt das Gute bestehen, wenn man über das noch Bessere Zweifel hegt.« (Montesquieu 1748, 90) Das Schlechte und das Gute sind miteinander und mit dem Bösen verschlungen, als sei es das ihnen innewohnende Andere. Denn es ist die Angst vor der Veränderung der Gewohnheiten, den Gefahren einer offenen Zukunft, den Möglichkeiten des Besseren, die dem Bösen so viel Platz im Gefühlshaushalt unserer Gesellschaft einräumt.

Mit dem Guten wird Hoffnung genährt, vom Schlechten zum Guten übergehen zu können, ohne dass die Abhilfe für die Missbräuche zu neuen Missbräuchen führen würde. Auf das Bessere wird verzichtet, weil es schon gut wäre, das Gute ohne Missbrauch zu bewahren. Es liegt offensichtlich nicht in der Hand der Einzelnen und ihrer Pläne, das Gute zu verwirklichen. Die Möglichkeit des Guten wird, so scheint es, verhindert durch den bisherigen Zuschnitt solcher gesellschaftlicher Aggregate wie Gesellschaft, Kapitalismus, Regierung. Mit dem Wunsch, sie mögen einmal gut sein, ist aber auch ein Verzicht verbunden, der Verzicht auf den Wunsch nach dem Anderen, nach der grundlegenden Veränderung hin zu anderen Verhältnissen. Das Gute beschwört die Fortexistenz dieser Einrichtungen so wie sie sind, nur sollten sie eben doch ein wenig anders zugeschnitten oder eingerichtet sein, so dass sich in Zukunft das Gute einmal einstellen kann.

Der Gute Kapitalismus wird von Dullien, Herr und Kellermann (vgl. im vorliegenden Heft) als keynesianische Antwort auf die Krise des Finanzmarktkapitalismus vorgestellt. Ihr Buch sei »kein fundamentaler Gegenentwurf zum bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, wie es der historische Versuch der kommunistischen Planwirtschaft etwa war. Wir halten radikale Gegenentwürfe zwar für intellektuell anregend, jedoch für die gegenwärtigen Probleme wenig hilfreich.« (Dullien, Herr, Kellermann 2009, 15). Der »gute Kapitalismus« käme dem Umstieg auf das neue Wirtschaftsmodell eines »besseren Kapitalismus« gleich: Lohnerhöhungen und binnenwirtschaftliche Nachfragestärkung, steuerliche Umverteilung von oben nach unten, ein stabiles und kontinuierliches Wirtschaftswachstum. Das Projekt gibt sich pragmatisch und aktualitätsbezogen, gleichwohl ist der »gute Kapitalismus« das »Fernziel eines durch Institutionen und Regeln gebändigten Kapitalismus« (228), auf das die Politik in einem längerfristig angelegten Prozess hinsteuern soll. Die Zyklizität, der Krisencharakter der kapitalistischen Reproduktion werden von dem Glauben verdrängt, der Markt ließe sich von politischen Regulationen einbinden. Sagt man Markt, sagt man: zu Ware machen des menschlichen Arbeitsvermögens, sagt man auch: Druck auf ihren Preis, den Arbeitslohn, extensive und intensive Ausbeutung, Arbeitslosigkeit – denn ohne diese kann es die Marktanreize, die zu Rationalisierung, Innovation, Produktivitätssteigerung führen, nicht geben. Der Wunsch nach dem Guten ersetzt die Analyse. Das Gute erlaubt es, von einer Reihe von negativen Eigenschaften des Kapitalismus zu abstrahieren, die ihn konkret zwar zu einem schlechten Kapitalismus machen, aber nicht sein Wesen zu definieren scheinen. Dieser Substanz muss angemessen Rechnung getragen werden, sie kann auch nicht sich selbst überlassen werden: der Markt, der Kapitalismus ist etwas Zerbrechliches, Gefährdetes, Einzuhegendes, muss vor sich selbst geschützt werden. Historisch ist dieser »gute Kapitalismus« in Gestalt des keynesianischen Wohlfahrtskapitalismus bereits erfahren worden. War er für die Beteiligten gut? Die Disziplinierung der Lohnabhängigen, der rigide, entpolitisierte und privatisierte Alltag, der Konsumismus, der Druck zum sozialen Konformismus und der Mangel an Freiheiten, die Vernutzung der Natur, der Mangel an Nachhaltigkeit, die Ineffizienz und der Bürokratismus waren ebenso viele Anlässe für Unzufriedenheit, Widerstand und Unruhe. Nachfrage und Konsum, Wirtschaftswachstum oder Export sollen im guten Kapitalismus gar nicht eingeschränkt, gar nicht verändert werden, nur die Relationen und Ungleichgewichte sind Gegenstand der Eingriffe, die zu neuen Gleichgewichten, zu einem neuen, stabilen Wachstumsmodell, zu einem guten Kapitalismus führen sollen.

Wie die Substanz des Kapitalismus, die gut ist, auf eine derart gute Weise behandeln, dass sein Gutes zur Geltung gelangt? Diese Frage stellen sich jüngere Vertreter der europäischen Sozialdemokratie unter dem Stichwort der »guten Gesellschaft« (Nahles/ Cruddas 2009). Lösungen für die Bewältigung der Wirtschaftskrise ließen sich nicht allein durch Anwendung ökonomischer Rezepte finden. Der Kapitalismus, die Märkte müssten durch Politik und Demokratie an die Gesellschaft zurückgebunden und von neuem in sie »eingebettet« werden. Die Konzeption der »guten Gesellschaft« ist eine selbstkritische Reaktion von britischen und deutschen Sozialdemokraten darauf, dass sie unter Blair und Schröder Teil des neoliberalen Konsenses wurden. Zu unkritisch gegenüber dem globalisierten Kapitalismus seien diese gewesen, auch hätten sie die strukturellen Veränderungen in den europäischen Gesellschaften falsch gedeutet und angenommen, die Klassengesellschaften hätten einer individualistischen, leistungsorientierten Kultur Platz gemacht. Doch auch nach einem Jahrzehnt sozialdemokratischer Regierung »ist die Gesellschaft immer noch maßgeblich von Klassenunterschieden geprägt«. Eine eigentümliche Feststellung, die sich realitätstüchtig gibt und doch etwas Beschönigendes hat. Denn wann in ihrer Geschichte hätte die Sozialdemokratie zur Beseitigung von Klassenunterschieden beigetragen? Die Sozialdemokratie saß ja nicht passiv auf der Zuschauerbank des neoliberalen Konsenses, sondern hat diesen mit ausgearbeitet und den sozialen Polarisierungsprozess aktiv verstärkt. Aus den Erfahrungen müsse gelernt werden, so Nahles und Cruddas. Den sozialdemokratischen Parteien seien Mitglieder und Wähler davon gelaufen, eine Minderheit identifiziere sich mit anderen Parteien, »die behaupten, ihre Interessen zu vertreten, wie Die Linke in Deutschland und, noch beunruhigender, die faschistische Partei BNP in Großbritannien« (4). Das ist kein gutes Signal, was die Sozialdemokraten da geben. Sie können nicht im Ernst die Linkspartei in die Nähe der Faschisten rücken und suggerieren, es gäbe keine Repräsentationsbeziehung zwischen der linken Partei, ihren Mitgliedern und ihren Wählern. Die Partei Die Linke wurde nicht zuletzt auch von früheren Sozialdemokraten mit gegründet, die von der Schröder-SPD mit ihrer autoritätsgebundenen Unfähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen, enttäuscht waren. Auch andere Formulierungen lassen an der Bündnisoffenheit und -fähigkeit des Konzepts der Guten Gesellschaft zweifeln. In schlechtester Tradition der Sozialdemokratie stehend, glauben ihre Vertreter, der allgemeine Repräsentant von sozialen Bewegungen und single-issue-Kampagnen sein zu können. Als »Demokratische Linke« meinen sie die Aufgabe zu haben, die »Idee des Allgemeinwohls, an dem alle teilhaben können, […] in der Bevölkerung heranreifen zu lassen« (6). Auch die Demokratisierung der politischen Institutionen dient instrumentell nur dem Ziel, die Repräsentationskrise der Sozialdemokratie durch einen neuen Zugang zu den Wählern zu überwinden und die sozialdemokratischen Parteien zu stärken (15). Das ist des Guten zu wenig, das ist zu wenig Bescheidenheit. Es wird suggeriert, das Wohl der Demokratie diene der sozialdemokratischen Partei, unterstellt, es gebe nur eine »Demokratische Linke«, und die sei identisch mit der Sozialdemokratie? »Geht’s noch«, möchte man fragen, »wie kommt ihr denn dazu«? Die Bevölkerung benötigt vielleicht die Sozialdemokratie heute weniger als diese jene. Die Sozialdemokratie sollte dankbar sein, wenn die sozialen Bewegungen sie irgendwann wieder als eine Partei sehen, die etwas zum gemeinsam zu bestimmenden Allgemeinwohl beitragen kann. Wenig bis nichts ihrer Politik in den vergangenen Jahren legt nahe, dass sie das getan hat oder in Zukunft könnte. Es ist nicht so, dass die sozialen Bewegungen und die Linken auf diese Demokratische Linke gewartet hätten und schon gar nicht darauf, dass diese nun bereit ist und für sich herausnimmt, etwas »heranreifen« zu lassen. Vielen Dank für das Angebot. Es liest sich eher wie eine Drohung, mit usurpierender Kraft alle anderen beiseite drängen zu wollen. Ohnehin wird man bei programmatischen Erklärungen aus dem Lager der Sozialdemokratie wissen wollen, wie viel Opportunismus, wie viel ernst gemeinter, auch das Regierungsamt noch bestimmender politischer Wille damit verbunden ist.

Tatsächlich handelt es sich um eine klassische Geste der Sozialdemokratie. Sie glaubt, das Allgemeinwohl zu vertreten, gegenüber den sozialen Bewegungen und linken Kräften, aber auch gegenüber dem Markt. Sie will den Interessen der Gesellschaft vor den »Interessen des Marktes« neue Geltung verschaffen. Der Kapitalismus soll der Demokratie gegenüber rechenschaftspflichtig werden, die Demokratie soll erneuert und vertieft werden. Die Erneuerung der Demokratie – und sie ist ohne Zweifel notwendig – sei der Kernpunkt der Guten Gesellschaft. Letztere soll demokratisch sein und werden – was sonst? Heutzutage würde niemand freiwillig auf diesen Hochwertbegriff verzichten. Doch auf der Höhe der demokratietheoretischen Diskussion sind die AutorInnen nicht. So scheint ihnen entgangen zu sein, dass da schon viele aktiv sind, die Demokratie zu erhalten, zu erneuern, zu vertiefen – ohne sich dabei am Ziel der »guten Gesellschaft« zu orientieren. In einer Demokratie geht es gerade um die Aushandlung dessen, was als Allgemeinwohl gilt. Dieses, ebenso wie der zu verfolgende Entwicklungspfad der Gesellschaft, ist immer strittig, immer Gegenstand der Willensbildung. Man lässt sich von der neoliberalen Ökonomietheorie andrehen, der Markt sei selbst ein System, das wieder eingebettet werden müsse, um die »Bedürfnisse der Menschen über den Profit« zu stellen. Doch auch der Markt ist – außer in den neoliberalen Phantasmagorien – Gesellschaft, er hat kein eigenes Interesse, sondern wird von Interessierten zu ihrem Nutzen geschaffen, durchgesetzt und aufrecht erhalten. Allein deswegen können die neoliberalen Fürsprecher des Marktes für ihren Anspruch auf Allgemeinwohl – Freiheit, Initiative, Arbeitsplatzsicherung, Generationengerechtigkeit, Wohlfahrt – überhaupt mit einer gewissen Zustimmung über die unmittelbar Interessierten hinaus rechnen. Das ist Gegenstand einer nicht nur ökonomisch-technischen, sondern einer demokratiepolitischen Auseinandersetzung. Der Neoliberalismus ist eine autoritäre Denkart und Regierungstechnik, die der Demokratie und der Freiheit grundlegend entgegensteht.

Auch kapitalismustheoretisch wird über die »gute Gesellschaft« weiter nachzudenken sein. Denn das Prinzip des Profits wird nicht in Frage gestellt, der Profit nur an die zweite Stelle gesetzt. Das Ziel der »guten Gesellschaft« schließt eine Umstrukturierung der Wirtschaft ein, so dass sie in den Werten und Institutionen der »guten Gesellschaft« verwurzelt wäre und eine Vielzahl von Eigentumsformen – die allerdings so nicht beim Namen genannt werden – darin ihren Platz haben (7).

Einige Überlegungen zur »guten Gesellschaft« weisen durchaus Anschlüsse für gemeinsame linke Politik auf. Da ist zunächst die Einsicht, dass neue demokratische politische Strukturen geschaffen werden müssen, die politische Beteiligungen und Kommunikationen von unten nach oben ermöglichen. Positiv ist weiter das deutliche Votum für Wirtschaftsdemokratie – auch wenn ihr Gehalt nicht näher bestimmt wird und die Demokratie insgesamt eher im liberalen Sinn auf politische Institutionen verengt verstanden wird. Mit der »guten Gesellschaft« und der gerechten Wirtschaft verbindet sich das politische Ziel eines transformativen Wandels, der sich an den Werten Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Nachhaltigkeit und Sicherheit orientieren soll. Trotz aller Unschärfe dieser Normen – warum nicht? Die Wirtschaft soll politisch reguliert und gesellschaftlich eingebunden werden, die Unausgewogenheit von Produktion und Konsum, der Wachstumsund Exportorientierung, der Besteuerung sollen korrigiert werden und verschiedene Eigentumsformen pluralistisch nebeneinander existieren können. Das klingt nicht schlecht und könnte zur Grundlage eines linken Blocks in der Bundesrepublik werden, der strukturelle Mehrheiten zu mobilisieren und zu organisieren vermag. Das wäre in weiteren Diskussionen der Linken auszuloten und zu vertiefen.

Denn es stellen sich Fragen: Werte sind unverbindlich und abhängig von den jeweiligen Ausdeutungen. Was ist unter Freiheit oder Gleichheit oder Nachhaltigkeit zu verstehen? »Gute Gesellschaft« legt eine gewisse Nähe zur Tradition des Sozialismus nahe, soweit auch dieser das Ziel einer Transformation der Gesellschaft hin zur Verwirklichung von Gleichheit und Freiheit beinhaltete. Allerdings war Sozialismus immer mit der Vorstellung einer Überwindung der Profitwirtschaft und einer Verstaatlichung bzw. Vergesellschaftung der Produktionsmittel verbunden. Die »gute Gesellschaft« kennt weiterhin den Profit. In ihr geht es allein um den Pluralismus in der Politik und der Wirtschaft: Aber können angesichts der Dynamik starker Monopole und Oligopole solche gemischten Wirtschaften überhaupt existieren? Bedürfte es nicht einer enormen staatlichen Macht, den Pluralismus zu erhalten, also kleine gemeinwirtschaftliche Wirtschaftseinheiten gegen die Macht transnationaler Oligopole zu schützen – und wer würde wiederum diese staatliche Macht kontrollieren? Wie würde die Macht der Gesellschaft auf Dauer gestellt, so dass diese sich gegen die Macht der Unternehmen und des Staates zur Wehr setzen und ihre Freiheit sichern könnte?

Traurig stimmt schließlich die zeitliche Perspektive. Der Aufbau einer solchen »guten Gesellschaft« sei die größte Herausforderung unserer Zeit und werde das Leben vieler zukünftiger Generationen prägen (5). So tritt die »gute Gesellschaft« im sozialdemokratischen Bewusstsein tatsächlich an die Stelle von Sozialismus und wird zu einer weit in die Ferne gerückten Idee. Der politischen Idee der »guten Gesellschaft« scheint etwas Utopisches anzuhaften. Was ist mit all denen, die zwischendurch auf der Strecke bleiben? Und was steht in Aussicht, verwirklicht zu werden? Hat es die Kraft, Menschen über viele Generationen zu mobilisieren, vergleichbar der himmlischen Vorstellung von der Erlösung oder der irdischen Vorstellung einer freien Kooperation der Individuen? Das ist besonders problematisch: wenn sich die Menschen seit mehreren Jahrtausenden nicht darauf haben verständigen können, was diese Werte und Normen bedeuten, bleibt auf Dauer in der Schwebe, was überhaupt erreicht werden könnte mit der »guten Gesellschaft«. Da ist kein Ziel – nirgendwo. Aus einer koalitionspolitischen Perspektive stellt sich die »gute Gesellschaft« als ein Trick dar. Sie wirkt wie ein gemeinsames Ziel, hinter dem sich alle versammeln können sollen: pluralistisch. Doch es ist gleichzeitig mehr: die Sozialdemokratie der Zukunft, und eine solche ohne Ziel – außer Pluralismus. Was ist mit dem Moment des politischen Willens? Damit, zum Engagement der Menschen beizutragen? Demgegenüber könnte ein umfangreiches Argument auf die kurze Formel gebracht werden: »Her mit dem schönen Leben!«

Der gute Kapitalismus, die gute Gesellschaft wollen wohl zur Verwirklichung des guten Lebens beitragen. Das gute Leben beschäftigt die europäische Philosophie seit Aristoteles. Die us-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum hat sich vor dem Hintergrund entwicklungspolitischer Erfahrungen für ein moralphilosophisches Verständnis vom »guten Leben« eingesetzt. Es beinhaltet vieles, was oben angeführt wurde: Die Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen, sich guter Gesundheit zu freuen, angemessen zu ernähren, eine angemessene Unterkunft zu haben, ein sexuell befriedigendes Leben zu führen, mobil zu sein, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben, die fünf Sinne zu benutzen, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst zu haben, diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen und kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken, für andere und bezogen auf andere zu leben, Verbundenheit mit anderen Menschen zu erkennen und soziale Beziehungen einzugehen, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben, zu lachen, zu spielen, und Freude an erholsamen Tätigkeiten zu haben, sein eigenes Leben und nicht das eines anderen in einem selbstbestimmten Zusammenhang zu leben. Das ist sicherlich kein erschöpfender, aber schon sehr umfangreicher Katalog von Merkmalen eines »guten Lebens«. Vieles leuchtet unmittelbar ein, gerade weil es so elementar für unser Leben erscheint. Um Überzeugungskraft für diese Ziele zu gewinnen, beruft sich Nussbaum (1999, 48) auf allgemeinste menschliche Erfahrungen, die in kulturübergreifenden Geschichten erzählt werden.

Wohlstand als monetärem Reichtum, von Wachstum als Dynamik des sich selbst verwertenden Werts kann – im Sinne der Überlegungen von Aristoteles – nicht zu einem Konzept des »guten Lebens« gehören. Geld lässt sich nicht essen, mit Geld das Glück nicht kaufen. So allgemein kann dem wohl jede und jeder zustimmen. Daher bleibt die Norm unverbindlich und kann viele Menschen nicht überzeugen, die über mehr als dieses Basale verfügen. Wer von denen, die ihr »gutes Leben« auf Kosten der anderen erlangen, ließe sich von diesen Maßstäben des »guten Lebens« derart überzeugen, dass sie sich dem »guten Leben« der anderen nicht länger entgegenstellen? Gleichzeitig sind die Forderungen konkret und geben eine bestimmte Art zu Leben vor. Die »Apokalypseblindheit« (Günther Anders) der Menschen aber lässt sie verkennen, dass das materielle Wachstum ohne Ende auf den kollektiven Selbstmord hinausläuft. Demgegenüber stellt in Ecuador oder Bolivien das »gute Leben« eine konkrete Alternative dar, weil es anders als das westliche Fortschrittsmodell den verschiedenen Lebensformen, Zeitvorstellungen, der Plurinationalität und Plurisozialität der Gesellschaft Rechnung trägt. Und es ermutigt diejenigen, die als Feinde der Modernisierung und des Fortschritts denunziert, entrechtet, kolonisiert, ausgebeutet wurden, neue Formen der Demokratie auszuprobieren. Auf der Grundlage der Rechte der Menschen und der Rechte der Natur wird hier das »gute Leben« zum Ausgangspunkt einer Suche nach neuen Entwicklungsmodellen, neuen Wohlfahrtsgesichtspunkten und gemeinsamen Gestaltungsmöglichkeiten (vgl. Ernst/ Radhuber 2009, Larrea und Filomena im vorliegenden Heft).

In der Kritik an der mangelnden Zukunftsfähigkeit der materiellen Akkumulation, in den Forderungen nach neuen Formen des Verhältnisses zur Natur, der Pluralität gibt es weitgehende Übereinstimmung zwischen der andinen Kosmovision und linker Gesellschaftskritik. Doch die große Überzeugungskraft und Herausforderung des modernen Liberalismus lässt sich nicht überspringen. Sie besteht gerade darin, dass er sich nicht mehr für die konkrete Lebensweise der Individuen interessiert, sondern nur dafür, dass sie bereit sind, ihre verschiedenen Auffassungen vom »guten Leben« wechselseitig zu tolerieren und dennoch gemeinsam in einer Gesellschaft zu leben. So kann sich noch jeder als Kämpfer für die Freiheit fühlen, wenn er für Pluralismus nicht nur der politischen Meinungen, sondern auch der Lebensformen eintritt. Für die Linke ist das eine Herausforderung, weil sie allein mit einer pluralistischen Position, die jeweils nur die Freiheit der anderen negativ bewahren will, keine Kritik und keine transformativen Prozesse initiieren kann. Die Alternative des »guten Lebens« ist zu wenig, weil zu allgemein, und zu viel, weil zu konkret. Die Linke hat zum Ziel eine Freiheit der Gestaltung der konkreten Lebensverhältnisse derart, dass die Freiheit aller größer und immer größer werden kann. Das wäre mehr als ein gutes Leben, guter Kapitalismus, gute Gesellschaft. Besser besser leben als gut leben.

 

LITERATUR

Bacon, Francis, 1624: Essays, hgg. von Levin L. Schücking, Leipzig 1967
Dullien, Sebastian, Hansjörg Herr und Christian Kellermann, 2009: Der gute Kapitalismus … und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, Bielefeld
Ernst, Tanja, und Isabella Radhuber, 2009: Indigene Autonomie in Bolivien, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, 2, 68–75
Montesquieu, 1748: Vom Geist der Gesetze, eingeleitet, ausgewählt und übersetzt von Kurt Weigand, Stuttgart 1965
Nahles, Andrea, und Jon Cruddas, 2009: Die gute Gesellschaft. Das Projekt der Demokratischen Linken, www.spd-linke.de/veroeffentlichungen/2493223.html
Nussbaum, Martha C., 1999: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/M