| Zwang und Profit. Direkte Gewalt in der kapitalistischen Produktion

Dezember 2020  Druckansicht
Von Heide Gerstenberger

Mit dem Kapitalismus ist die rohe Gewalt nicht aus den Arbeitsverhältnissen verschwunden. Zwang und Entrechtung sind elementarer Teil der globalen Wertschöpfungsketten.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich bereits weitgehend durchgesetzt, dass die Nutzung der Arbeitsfähigkeit von Menschen dann legal ist, wenn sie auf einem Vertrag basiert. Jeder Arbeitsvertrag unterstellt, dass ihn die Vertragspartner freiwillig und zum gegenseitigen Nutzen abschließen. Zu Lebzeiten von Marx hatte die Bedeutung von Arbeitsverträgen bereits dadurch immens zugenommen, dass sich in der internationa­len Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei das Fehlen eines Arbeitsvertrages als ent­scheidendes Merkmal zur Unterscheidung zwischen freier Lohnarbeit und Sklaverei durchgesetzt hatte. Während Befürworterin­nen und Befürworter des Kapitalismus diesen Unterschied als den zwischen Freiheit und Zwang verstehen, verweisen Kritiker*innen darauf, dass in beiden Fällen Gewaltverhält­nisse vorliegen.

Im Falle der Sklaverei basiert die Gewalt darauf, dass Menschen das Eigentum an ihrer Person einbüßen und ganz und gar in der Gewalt ihres Eigentümers sind, eine Situation, der sie sich nur durch Flucht oder Selbstmord entziehen können. Im Falle der freien Lohnarbeit basiert die Gewalt auf den Verhältnissen, die Menschen dazu zwingen, die Nutzung ihrer Arbeitskraft als eine Ware auf Märkten anzubieten. In den letzten Jahrzehnten ist es üblich geworden, diesen Sachverhalt mit einem Terminus zu bezeich­nen, den Johann Galtung vorgeschlagen hat: »strukturelle Gewalt«. Diese kann von Menschen als eine vom Staat und von vielen geteilte Erwartung an ihr Verhalten erlebt werden, aber auch als Entzug ihrer Freiheit und aller Möglichkeiten des Überlebens. Doch auch in Produktionsprozessen, die auf freier Lohnarbeit basieren, gibt es Prakti­ken direkter Gewalt. Dies ist etwa der Fall, wenn Menschen durch Androhung privat oder staatlich ausgeführter Strafen daran gehindert werden, ein Arbeitsverhältnis zu verlassen. Um direkte Gewalt handelt es sich auch, wenn Pausen verweigert werden, keine Möglichkeit der Flucht aus einem Fabrikgebäude besteht oder der Schutz vor gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingun­gen unterbleibt. Zumeist wird direkte Gewalt in der Produktion nicht von denen ausgeübt, die von der Nutzung der Arbeitskraft profi­tieren, sondern von deren Beauftragten. In den kapitalistischen Zentren sind solche Praktiken im Laufe der Zeit zurückgedrängt worden, aber auch hier sind sie tatsächlich und latent weiterhin Elemente der herrschen­den Produktionsverhältnisse.

DIE EINDÄMMUNG DIREKTER GEWALT IN DER PRODUKTION

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts konstatier­ten nicht nur Kritiker, sondern auch Befürwor­ter des Kapitalismus, dass es auch in Europa Arbeitsverhältnisse gab, in denen nicht nur die Arbeitsleistung von Menschen beherrscht wurde, sondern sie selbst. Auch war – in den meisten deutschen Staaten (bis 1869) und im Vereinigten Königreich (bis 1875) Lohnarbeit keineswegs im heutigen Verständnis frei. Ein Sonderstrafrecht stellte sicher, dass Arbeite­rinnen und Arbeiter, die ihren Arbeitsvertrag ohne Zustimmung des Arbeitgebers beenden wollten, damit rechnen mussten, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden. Von der Möglichkeit einer Anklage machten nicht alle, aber viele Unternehmer Gebrauch. Weder diese rechtlichen Freiheitsbeschränkungen noch die Legalität der Sklaverei in den USA und den europäischen Kolonien sind beendet worden, weil eine nennenswerte Zahl von Unternehmern und Sklavenhaltern eingese­hen hätte, dass die Vermittlung von Arbeits­kräften über den Markt ohne Zutun staatlicher und privater Gewaltmittel ihren Interessen förderlich wäre. Vielmehr sind die rechtlichen Beschränkungen der Freiheit von Arbeitskräf­ten überall durch staatliche Aktionen beendet worden. Und niemand hat den Fehlschluss ökonomischer Theoretiker hinsichtlich der geringen Produktivität versklavter Menschen je deutlicher werden lassen als all die frühe­ren Sklavenhalter, die weltweit bemüht waren, Arbeitsverhältnisse zu erfinden, die denen der Sklaverei so ähnlich wie irgend möglich waren. Unterstützt wurden sie von Gesetzge­bern, die eine Ausweitung der Schuldsklaverei ermöglichten und mit Vagabundengesetzen zahlreiche Frauen und Männer in Arbeit zwangen, die sie sich nicht ausgesucht hatten. Vor allem aber brachte der Handel mit Kuli­verträgen viele Menschen in Asien in Arbeits­verhältnisse, die davon geprägt waren, dass die Unternehmer und ihre Beschäftigten bis vor Kurzem über Sklaven geherrscht hatten.

Nicht wegen mangelnder Produktivität, sondern allein durch politische Veränderun­gen, die von organisierten Arbeitskräften unter Einsatz ihrer Freiheit, ihrer Gesundheit und ihres Lebens erzwungen wurden, sind Gewaltverhältnisse in der kapitalistischen Produktion allmählich an den Rand gedrängt worden. Mit der Legalisierung von Gewerk­schaften und Streiks wurde die Aushandlung von Arbeitsbedingungen institutionalisiert, was gewaltsame Auseinandersetzungen redu­zierte. Dies hat den Kapitalismus in Ländern, deren Regierungen solche Aushandlungen schließlich legalisierten, gewissermaßen domestiziert. Wie fragil diese Entwicklung auch in entwickelten kapitalistischen Gesell­schaften weiterhin bleibt, wurde nirgends deutlicher als in Deutschland, wo der Orga­nisationsfreiheit in der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre und im Nationalsozialismus der Garaus gemacht wurde.

KOLONIALE UND POSTKOLONIALE GEWALTPRAXIS

Eine Domestizierung kapitalistischer Ausbeu­tung ist nur möglich, wenn Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern formal das gleiche Recht zugesprochen wird, ihre Interessen organi­siert zu vertreten. In europäischen Kolonien war dies nicht der Fall. Zwar galt in den englischen Kolonien offiziell englisches Recht, faktisch aber hatten Einheimische mindere Rechte. In anderen Kolonien, insbesondere in den französischen, wurde für Einheimische der mindere Rechtsstatus des Eingeborenen erfunden. Alle Kolonialstaaten waren Institu­tionen zur Förderung der privaten Aneignung von Fremden.

Weil mit politischer Souveränität nicht zugleich wirtschaftliche Unabhängigkeit errungen werden konnte, wurden nicht nur die natürlichen Ressourcen postkolonialer Gesellschaften weiterhin ganz überwiegend von ausländischen Kapitaleignern ausgenutzt, sondern auch die menschlichen. Bauern und Bäuerinnen wurden weiterhin der Möglichkeit zur autonomen Versorgung beraubt und viele Hoffnungen auf bessere Arbeitsverhältnisse durch die politische Unabhängigkeit wurden enttäuscht. Dies umso mehr, als mit dem Ende des Kalten Krieges die Einnahmen wegfielen, die aus der Konkurrenz der politi­schen Blöcke hatten gezogen werden können. Innenpolitische Entwicklungen in vielen postkolonialen Staaten wurden in erheblichem Maße durch den Wettstreit um politische Schaltstellen bestimmt, was die Möglichkeit privater Bereicherung eröffnete. Dies umfasst insbesondere die Förderung der Interessen ausländischer Investoren. Ihnen werden nicht nur vielfach Genehmigungen erteilt, die den Interessen der lokalen Bevölkerung entgegen­stehen. Vielerorts werden ihnen auch eigene bewaffnete Sicherheitskräfte zugestanden. Zusätzlich können sie sich in vielen Ländern noch immer darauf verlassen, dass Streiks und andere Formen des Widerstands von Staats wegen unterbunden und unterdrückt werden. Internationale Investoren profitie­ren somit von der politischen Souveränität früherer Kolonien.

ARBEIT IM OFFSHORE DES RECHTS

Im globalisierten Kapitalismus sind zahl­reiche Ausnahmen von der Allgemeinheit nationalen Rechts geschaffen worden. Um solche Offshore-Gebiete des Rechts handelt es sich auch bei den sogenannten Exportproduk­tionszonen und bei Flags of Convenience (soge­nannten Billigflaggen). In diesen gesonderten Rechtsgebieten werden Kapitalinteressen besondere Durchsetzungschancen gegenüber Arbeitskräften zugestanden.

Staaten, welche die Benutzung ihrer Flagge, genauer gesagt die Eintragung in ihr Schiffsregister auf dem Weltmarkt anbieten, verzichten darauf, die nationale Zusammen­setzung der Besatzungen vorzuschreiben. Das ermöglicht den Schiffseignern, ihre Seeleute legal irgendwo auf der Welt zu Bedingungen anzuheuern, die für sie günstig sind, was das Angebot an potenziellen Seeleuten immens erhöht. Weil die Seeleute zumeist aus Ländern kommen, deren Regierungen ein Interesse an ihren Steuerabgaben und der erhöhten Konsumkraft ihrer Verwandten haben, sind diese Regierungen an reibungslo­sen Vermittlungen interessiert. Im Falle eines Protestes gegen schlechte Arbeitsbedingun­gen riskieren Seeleute, in Zukunft nicht mehr durch die Agenturen ihres Herkunftslandes vermittelt zu werden. Da immer mehr Ha­fenanlagen in privatem Besitz sind, ist auch die früher übliche solidarische Unterstützung ihrer Kämpfe durch Hafenarbeiter sehr erschwert.

Werden Seeleute nach ihren Erfahrungen mit direkter Gewalt in ihrem Arbeitsleben gefragt, so antworten auch Besatzungs­mitglieder auf Schiffen mit angemessener Versorgung ganz eindeutig: Sie nennen ihren Arbeitsplatz ein Gefängnis, weil sie allen internationalen Konventionen zum Trotz über Wochen und Monate kaum an Land können. Seit Ende 2001 ist dies nicht mehr nur den ökonomisch bedingten kurzen Liegezeiten geschuldet, sondern auch einem Abkommen, das nach dem Angriff auf das World Trade Center in New York geschlossen wurde. Der International Ship and Port Facility Security Code (ISPS) behandelt Seeleute als potenzielle Terroristen, deren Kontakt zu den Gesellschaf­ten an Land streng kontrolliert werden muss.

Auch Exportproduktionszonen operieren im Offshore des Rechts. Die für solche Zonen charakteristischen Regelungen wurden erstmals eingeführt, als US-amerikanische Firmen in den 1960er Jahren Montagebe­triebe in Mexiko errichteten. Später wurden Hunderte solcher rechtlichen Sondergebiete vor allem in Asien geschaffen. Bis vor einigen Jahren konnten sich Investoren hier darauf verlassen, dass Regierungen auf Zölle für die Einfuhr von Produktionsmitteln und die Ausfuhr der fertigen Produkte verzichteten und in den Betrieben keine Gewerkschaften zugelassen wurden. Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen ist erschwert, weil andere Beschäftigungsmöglichkeiten be­grenzt sind und manche Investoren im Falle eines Arbeitskampfes mit der Verlagerung der Betriebe drohen. Die überwiegend geringe maschinelle Ausstattung solcher Betriebe erleichtert derartige Praktiken. Auch wenn Löhne mancherorts erhöht wurden, sind sie allemal niedriger als in den Ländern, in denen die Investoren ihren Sitz haben.

Die Grenzen der Ausbeutung von Arbeitskraft, die national und international als akzeptabel gelten, haben sich im Laufe der Zeit verändert. Seit Ende der 1990er Jahre ist ihre international bekannteste Fassung diejenige der »Kernarbeitsnormen«, die von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) beschlossen und zumeist in dem Terminus decent work zusammengefasst werden.

ÜBER INDUSTRIE UND EMANZIPATION

Ungeachtet des immensen Ausmaßes moderner Sklavenwirtschaft und aller erdenk­lichen Formen von Ersatzsklaverei gingen und gehen Theoretikerinnen und Theoretiker des Kapitalismus davon aus, dass dieser selbst die Dominanz freier Lohnarbeit hervorbringen werde bzw. hervorgebracht hat. Seit Adam Smith wird unterstellt, unfreie Arbeitskräfte seien nicht genügend motiviert für kompli­zierte Tätigkeiten, weshalb auch Kapitaleigner aus ökonomischem Interesse schließlich rechtliche Emanzipation fördern würden. Anders gesagt: Die ökonomische Rationalität des Kapitalismus gilt als Ursache der zuneh­menden Überwindung von direkter Gewalt in der Produktion. Die reale Geschichte des Kapitalismus hat diese Auffassung widerlegt. Stattdessen hat sich gezeigt, dass – von Aus­nahmen abgesehen – Kapitaleigner alle Mög­lichkeiten der Profitproduktion nutzen, die sich ihnen in einer bestimmten historischen Situation in einer konkreten Gesellschaft bieten. Konkurrenz kennt keine Grenzen, die ihr nicht von außen aufgezwungen werden. Nicht die Anforderungen der Produktion selbst haben Verbesserungen notwendig gemacht: Industrielle Produktion war auch mit versklavten Menschen möglich und auch heute lassen sich viele Produktionsprozesse so organisieren, dass sie in Teilbereichen extrem ausgebeutete Arbeitskräfte einschließen.

Die Basis rechtlicher und politischer Eman­zipation ist keiner inneren Dynamik des Kapitalismus geschuldet. Jede Regulierung muss politisch erkämpft werden und wird nur beibehalten, wenn ihre tatsächliche Umset­zung kontrolliert wird. Ohne die beständige Aufmerksamkeit nationaler und internatio­naler Öffentlichkeiten bleiben Zwangsarbeit, Kinderarbeit, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und andere Formen direkter Gewalt in der Produktion eine beständige Möglichkeit. Die anhaltende Forderung nach besseren Regelungen und die stetige Kontrolle ihrer Durchsetzung brauchen einen längeren Atem, als im big business der Nachrichtenin­dustrie angelegt. Nachdem die betrieblich verschuldeten Todesfälle in Textilfabriken in Bangladesch 2012 und 2013 internationale Empörung hervorgerufen hatten, folgten Ver­einbarungen zur Verbesserung der Sicherheit. Die Regierung des Landes musste Abstand davon nehmen, den Investoren ein Verbot gewerkschaftlicher Organisierung zuzugeste­hen. Laut einer Studie, die von Human Rights Watch 2025 durchgeführt wurde, hat das aber nicht verhindert, dass wenige Jahre später ak­tive Gewerkschaftsmitglieder in den Betrieben weiterhin bedroht wurden und nicht nur mit Entlassung, sondern auch mit körperlicher Gewalt rechnen mussten.

Viele Menschen, die sich diesen Gefahren aussetzen, können ihre Forderungen nicht unter der Bedingung eines national mehr oder minder begrenzten Arbeitsmarktes erheben und sind darum auf Unterstützung angewie­sen. Öffentliche Kritik im In- und vor allem im Ausland führt manchmal, oft nach langer Zeit, zu Erfolgen.

Nachdem in Katar seit Jahren immer wieder angekündigt wurde, das Kafala-System abzuschaffen, wurde im September 2020 tatsächlich beschlossen, ausländische Arbeits­kräfte nicht länger schutzlos der Herrschaft ihres »Kafils«, eines einheimischen »Spon­sors«, auszuliefern. Und auch in Saudi-Arabien sollen Beschäftigte seit November 1920 berechtigt sein, ihren Arbeitsvertrag zu beenden oder den Arbeitsplatz zu wechseln. Ohne beständige öffentliche Kontrolle werden sich diese Ankündigungen nicht realisieren, da nicht nur viele Bauarbeiter aus Asien betroffen sind, sondern auch zahllose Hausan­gestellte, die ganz auf sich allein gestellt sind, wenn sie versuchen, ihre Rechte durchzuset­zen. Ohne Unterstützung wird ihnen auch die 2011 verabschiedete Konvention der IAO zu decent work für Hausangestellte nicht weiter­helfen.

Um solche Zusammenhänge zu begreifen, müssen wir nicht ins Ausland schauen. Seit Jahren sind die Zustände etwa in deutschen Schlachtbetrieben bekannt. Zwar gab es zwischenzeitlich Änderungen der gesetzlichen Bestimmungen, nicht aber der Dichte und Gründlichkeit von Kontrollen. Erst die massenhafte Verbreitung von Covid-19 in einem der Betriebe, der auch die Menschen außerhalb gefährdete, hat zu einem neuen öffentlichen Interesse an den Zuständen geführt.

Die Verhinderung solcher Praktiken verlangt entschlossenes politisches Handeln, das in aller Regel nur erfolgt, wenn es von einer kritischen Öffentlichkeit nachdrücklich gefordert wird. Und das gilt auch, wenn es darum geht, der Rücknahme einmal beschlos­sener Regelungen entgegenzutreten.