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Zur Verleugnung von Race

Von Stuart Hall

Dies ist das leicht gekürzte vierte Kapitel des demnächst im Argument-Verlag erscheinenden Buches »Vertrauter Fremder«. Darin zeichnet Stuart Hall ein komplexes Ganzes widersprüchlicher Spannungsverhältnisse zwischen den Zeiten, den Orten und dem verschieden Gelernten seines Lebens. Das Buch ist gewollt keine Biografie, sondern der Versuch einer Reflexion, und es folgt einem roten Faden: »Es gab keinen einzigen Augenblick auf meinem Entwicklungsweg, der nicht von meiner rassisierten Positionierung befeuert worden wäre.«

Halls Erinnerung an Jamaika, wo er aufwuchs, ist keine an ein Zuhause, sondern an einen bekannten, aber nicht wieder zu erreichenden Ort zwischen Fiktion und Geschichte. Sie liegt an einem doppelten Rand: dem der Erinnerung und jenem des britischen Kolonialismus. Die Vergangenheit wird zu einer realen Fantasie, die Hall aus dem Gedächtnis, aus Gesprächen und aus dem Erinnern körperlicher Empfindungen webt. Hall erschafft so eine biografische Repräsentation, die er als im ständigen Übergang begreift. »Metaphorisch ausgedrückt könnte man sagen, ich klebte fest auf der Türschwelle zwischen der kolonialen und der postkolonialen Welt.« Im Zentrum des Empire erlebte er, dass die britische Gesellschaft die Geschichte ihrer Verbindungen zu den Kolonien und ihre gewaltvollen Konsequenzen unsichtbar und vergessen zu machen suchte: »Ich friere hier immer.« Dieses Vergessenmachen wird durch Schulbücher, Geschichten, Literatur, kurz durch eine ganze koloniale Ordnung der Dinge ermöglicht. Das »Nicht-mehr« und das »Noch-nicht« bilden ein Hauptmotiv seiner Rekonstruktion, in der es um das vertraute Fremde geht, um das Überschreiten der Grenze zwischen Zentrum und Diaspora. Zweck des »Entidentifizierens« ist, sich das Gewohnte bewusst fremd zu machen. Es sei aber ungleich schwerer für all jene, die am Boden der Hierarchie festgehalten werden, die gewaltvollen Zuordnungen des Identifiziertwerdens aufzubrechen.

»Vertrauter Fremder« liest sich wie ein Erfahrungsbericht über die Kraft der Migrationsbewegungen nach Jamaika, über die komplizierten lokalen und nationalen Hierarchien innerhalb des Empire und die Familiengeschichten, die zwischen Authentizitätsglauben und kritischer Genealogie changieren. Hall versucht, Wendepunkte, Brüche und Diskontinuitäten aufzuzeigen. Angetrieben durch den Willen zur Kritik des Unrechts und getragen von einer Offenheit für das Neue, Ungemütliche und Unbekannte schreibt Hall: »Anders ausgedrückt hoffe ich, dieses Buch könnte vielleicht eine Innensicht der widersprüchlichen Stationen des Wandlungsprozesses dieser uralten Geschichte liefern – des langen quälenden und niemals zu einem Ende kommenden Wegs raus aus der kolonialen Subalternität.«

Jan Niggemann

Wie antwortet man auf die unschuldige – oder gar nicht so unschuldige – Frage: »Woher kommst du?« So einfach sie vordergründig zu sein scheint, ist sie doch schwer mit zusätzlichen Bedeutungen aufgeladen. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an James Baldwins Begegnung mit einem Westinder [ref]Bewohner der Westindischen Inseln, die aus mehreren karibischen Inselgruppen bestehen.[/ref] im British Museum in den 1960er Jahren, wo er mit ebendieser Frage konfrontiert wurde. »Woher kommen Sie?« Selbst nachdem Baldwin seine Herkunft in aller Deutlichkeit dargelegt hatte – »Ich wurde im Harlem General Hospital geboren« –, ließ sein Gesprächspartner nicht locker, bis er Baldwin schließlich fragte: »Aber wo wurden Sie davor geboren?« Ganz genau! In dieser Frage kann es von versteckten, tückischen Vorannahmen nur so wimmeln.

Um mich einer Antwort zu nähern, muss ich sagen, wie ich dazu erzogen wurde, ein bestimmtes Verständnis davon zu entwickeln, auf welche Weise ich Teil der Geschichte bin; und dann, wie ich gelernt habe, mich von dieser Sichtweise zu befreien, und mit welchen Konsequenzen. Gewiss, das sind Meta-Fragen: Es geht weniger um mein Leben als darum, wie ein Leben erzählt werden sollte. Doch wie ich immer betone, lässt sich mein Leben von meinen Anschauungen nicht sauber trennen. Wenn man die Geschichte von jemandem erzählt, der am falschen Ort geboren wurde, fernab der Hauptströmungen der Geschichte, ist nichts selbstverständlich. Nicht einmal das Erzählen eines Lebens.

Bevor ich den Bericht meiner Reise von Jamaika nach England an die Oxford University fortsetze, komme ich auf das Thema Verleugnung und die Beziehung zwischen Verleugnung und race auf Jamaika zurück.[ref]Die Übersetzung des Buches wird von einem Editorial Board, bestehend aus Natascha Khakpour, Jan Niggemann, Ingo Pohn-Lauggas, Nora Räthzel, Victor Rego Diaz und Juha Koivist, begleitet. In diesem Kreis wurde entschieden, den Begriff »Race« zu verwenden, weil er auf einen anderen historisch-kulturellen Kontext verweist, als »Rasse« im Deutschen. Detaillierte Begründungen zur Übersetzung finden sich im Editorial des Buches.[/ref] […] Was war das für eine kollektive Psyche, die so viel Energie in die Aufrechterhaltung von rassisierter Dominanz investierte und die Wirkmächtigkeit von race gleichzeitig kategorisch leugnete? Verleugnung ist kein ungewöhnliches historisches Phänomen, vor allem in Fragen von race. […] Frantz Fanon glaubte, dass koloniale Gesellschaften durch race funktionieren. Damit meinte er, dass die gesellschaftlichen race-Verhältnisse – die den ursprünglichen Antagonismus zwischen Siedler und Einheimischem prägten – besonders rigoros das Gewicht kolonialer Herrschaft stützten. […] Gleichzeitig wurde das Thema race selten als das benannt, was es war, oder auch nur zur Kenntnis genommen. Race war überall und in jeder Hinsicht gegenwärtig, aber konnte nie wirklich lokalisiert oder artikuliert werden. Auf Schritt und Tritt begegneten uns Formen der Verleugnung mit ihren tief greifenden, verunsichernden Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen. Um die Dynamiken meiner karibischen Formierung aufzudecken, sehe ich mich gezwungen, diesen Widerspruch direkt anzugehen, der, so ungreifbar er auch war, das gesamte Alltagsleben durchzog. Ich will diese Koexistenz von absoluter Herrschaft der rassisierten Ordnung auf der einen Seite und ihrer beständigen Verleugnung auf der anderen Seite so gut ich kann begreifen.

Race und Colour

Wenn man in der Karibik race erforscht, ist colour der Joker im Spiel. Gail Lewis hat die Komplexität der »Sprache der Haut und ihre gesellschaftliche Bewertung« untersucht. Ein wichtiger Aspekt bei der Bedeutung von Haut(-farbe) in der Karibik war das Versteckspiel zwischen race und colour in dem Post-Sklaverei-Gesellschaftssystem, das sich im Laufe von drei Jahrhunderten aus den starren Kategorien des versklavten Jamaika entwickelt hatte. In dieser Gesellschaft arbeitete das Bewusstsein von race und colour ständig auf Hochtouren. Feine Unterscheidungen bezüglich race oder colour wie auch hinsichtlich Wohlstand und gesellschaftlicher Stellung waren von enormer Bedeutung. Es existierte eine soziale Obsession im Sinne von Freuds (1930, 474) »Narzissmus der kleinen Differenzen«. Um ein Individuum innerhalb eines race/colour-Systems zu verorten, sollte man sich idealerweise auf einen Unterscheidungscode beziehen, der unmittelbar sichtbar ist und mit einem Blick gelesen werden kann. Unter diesen Umständen wird Sichtbarkeit selbst zu einer Art Wahrheit. Man muss imstande sein abzubilden, was man sieht, es zu strukturieren und einzuordnen. Dies erreicht man, indem man ein Unterscheidungsmerkmal (zum Beispiel Hautfarbe) mit einem anderen (zum Beispiel race) korreliert. Durch diese Strategie des ›sozialen Lesens‹ wird die Position jedes Individuums kartografierbar und race oder colour als entscheidendes Bestimmungsmerkmal bestätigt. Schließlich darf es auf keinen Fall passieren, dass jemand der falschen race zugeordnet wird!

Lévi-Strauss nennt diese Art des Denkens – diese Form von mentalem Raster – »kombinatorisch«, eine lebendige Matrix zum Zweck der sozialen Verortung. Meine Großmutter mütterlicherseits behauptete immer, sie könne bei denen, die sich besonders anstrengten, als Weiße ›durchzugehen‹, die verräterischen Zeichen dessen erkennen, was sie treffend »mit dem Teerpinsel in Kontakt gekommen« nannte.

Die Artikulationen von race, colour und Klasse stützten die gesamte soziale Hierarchie. Wie ich dargelegt habe, fanden sich die nahezu Weißen oder ›hiesigen Weißen‹ an der Spitze der Pyramide der kolonialen Klassenordnung. Darunter bildeten die coloured, genauer gesagt: die Braune oder kreolische Mittel- und untere Mittelschicht eine Art Pufferklasse im Herrschaftssystem, die ›Wehrpflichtigen‹ der kolonialen Ordnung. Ganz unten war die breite Masse der überwiegend Schwarzen, armen Vertreter*innen der Klasse der Arbeiter*innen oder Bauern und Bäuerinnen, die in der Stadt oder auf dem Land lebten oder ständig dazwischen hin- und herpendelten. Sie bildeten eine separate soziale Welt. Als weitere, unabhängige Trennungslinie zog sich das Geschlecht mit eigenen, spezifisch kolonialen Merkmalen durch diese Kategorien.

Diese Artikulationen waren charakteristisch für eine Gesellschaft dieses Typs und brachten unzählige mögliche Identitätspositionen hervor. Die Situation erzeugte eine schädliche doppelte Spaltung zwischen dem Selbst und dem Anderen, zwischen einem Hier und einem Dort. Der direkte Zugang der Versklavten zu ihren früheren afrikanischen kulturellen Wurzeln war durch gewaltsame Eroberung und Verpflanzung in die Sklaverei der Neuen Welt brutal und entschieden gekappt worden. Gleichzeitig war der Zugang zu allem, was für ›authentisch britisch‹ hätte stehen können, grundlegend umgestaltet worden, nicht nur durch seine Verpflanzung in koloniale Bedingungen, sondern durch seine Funktion als Teil eines Systems von Macht und Unterwerfung. Auf dem Palimpsest der jamaikanischen Kultur, wie sie mir beim Eintritt ins Erwachsenenalter vertraut war, hinterließen diese symbolischen Repertoires zwar Spuren, aber keins davon konnte Vollständigkeit, Autonomie oder eigenständige Authentizität für sich beanspruchen. Sie waren weder intakt noch autark oder autonom. Sie hatten das produziert, was Salman Rushdie einmal polemisch kulturelle ›Bastarde‹ nannte. Ihre gegensätzlichen Elemente waren im kolonialen Kochtopf zusammengerührt und unwiederbringlich kreolisiert worden. Die Kultur konnte nie mehr auf die Summe ihrer Einzelteile reduziert werden. Die Kontaktzone – der ›dritte Raum‹, die ›Urszene‹ ihres erzwungenen Miteinanders – erwies sich als der schlagkräftigste und einflussreichste Ort der Veränderung. […]

Daraus ergibt sich, dass auch auf diesem Feld, so wie auf jedem anderen, die Authentizität der Herkünfte problematisch ist. Nur wenig von den ursprünglichen Kulturen hat überlebt; ihre Träger*innen erlagen den extrem harten Arbeitsbedingungen, denen sie unterworfen wurden. Niemand von denen, die nachfolgten, stammte aus der Region, alle kamen von woanders. Das mag auch die Quelle der Verwirrung um diesen anderen umstrittenen Begriff sein – Hybridität –, mit dem die karibische Kultur beschrieben wird. Hybridität bekommt zwar einige Aspekte zu fassen, kann aber auch in die Irre führen, wenn sie auf die vielfältigen Anfänge der Gesellschaft verweist, ihren ›Resultat‹-Charakter. Zu oft wirkt Hybridität mehr wie eine Anspielung auf ›Blutvermischung‹ als wie ein Hinweis auf das Zusammenspiel historischer und kultureller Faktoren. Für meinen Geschmack liegt dies zu nahe an einer gewissen Spielart von biologischem Reduktionismus.

Ab den 1930er Jahren, also etwa zum Zeitpunkt meiner Geburt, begann die ererbte rassisierte Ordnung auf Jamaika zu bröckeln, ihre gesellschaftliche Macht löste sich auf. Vollziehen wir nur mal nach, wie der Begriff ›Schwarz‹ in den öffentlichen Wortschatz einging und wie er zur Triebkraft kollektiver Anstrengungen wurde, ein neues Selbst zu konzipieren. […] Am sichtbarsten wurde dieser Bruch in dem Moment, der sekundäre Entkolonisierung genannt wird, als in den späten 1960er Jahren die pan-karibische Ausprägung von Black Power entstand.

In meiner Jugend benutzte die Mittelschicht den Begriff Schwarz zur Selbstbeschreibung absolut nicht. Man zog das Wort coloured vor. Schwarz galt als zu unhöflich, selbst gegenüber Leuten, die ganz offensichtlich Schwarz waren. Ich sah mich nie als Schwarz, obwohl ich wusste, dass ich dort, wo ich war, nicht hingehörte. Und keine*r meiner Freund*innen hätte mich oder sich selbst als Schwarz bezeichnet. Dabei war einer überwältigenden Mehrheit der Schwarzen Jamaikaner*innen ihre rassistische Inferiorisierung sehr wohl bewusst: von erniedrigenden Alltagserfahrungen bis zu den rassisierten Hierarchien, die das Ordnungsprinzip der Gesellschaft darstellten. Sehr genau kannten sie den Umfang und die Tiefe der Vorurteile, die Weiße und People of Color ihnen gegenüber hegten. Nur war zu diesem Zeitpunkt Schwarzsein noch kein positiver Begriff, den man für sich reklamierte, auch keine Leitkategorie für eine Gruppenidentifikation oder kollektive politische Organisation – wobei sich das rasch änderte, vor allem innerhalb der aufstrebenden panafrikanischen Minorität. Die Idee des Schwarzseins war erbarmungslos stereotypisiert und abgewertet worden; Ängste gegenüber dem Schwarzsein gehörten zu den unhinterfragten Selbstverständlichkeiten des Alltagsverstands, seine Negativität noch verstärkt durch unbewusste feindselige Gefühle und verkompliziert durch unaufgelöste psychische Knoten und Abwehrmechanismen, über die nicht gesprochen wurde, obgleich man sie hätte erkennen können. All dies ist gemeint, wenn man sagt, was eigentlich absurd klingt: dass Jamaika sich bis zur kulturellen Revolution der 1960er und 1970er Jahre nicht als Schwarze Gesellschaft sah.

Erst in dieser Periode, also nachdem der rassisierten gesellschaftlichen Ordnung der Kampf angesagt war, wurde dieses Tabu gebrochen. Das war nicht nur eine Angelegenheit der Karibik, sondern der ganzen Welt. Die Entkolonisierung und die Entstehung neuer nicht-Weißer – ›blockfreier‹ – Staaten läuteten eine neue historische Epoche ein. Sie umfasste die Bürgerrechtsbewegung und die Black Power-Bewegung in den Vereinigten Staaten; den Garveyismus in der Karibik (gleichwohl nicht nur dort), in Kombination mit Rastafarianismus und Reggae; den langen Kampf gegen die Apartheid; den ›Kulturkampf‹ der Schwarzen in Großbritannien und die Mobilisierung antirassistischer Bewegungen in den 1970er Jahren. Und vieles mehr. In der Zeit nach den 1960er Jahren errang das Wort Schwarz seine heutigen positiven Konnotationen und veränderte die Möglichkeiten des popularen Lebens grundlegend. Dieser Bedeutungsumbruch und das Entstehen neuer Schwarzer Identitäten wurde von Tag zu Tag in alternativen kulturellen Formen wie Musik, Street-Styles und Tanz sichtbar, in denen das Neue artikuliert, verkörpert und vorgeführt wurde. Durch Rastafarianismus und Reggae spielte Jamaika eine überproportionale Rolle bei den weltweit entstehenden neuen Vorstellungen davon, was die Emanzipation von rassistischer Unterdrückung versprechen mochte.

Für meine Generation Brauner Mittelschicht-Jamaikaner*innen verdeckte die Repression ein beredtes Schweigen, sie blendete das Unübersehbare aus, das (wiederum) gehört werden wollte und – aus ebendiesem Grund – unaussprechlich blieb. Das Wesen der Verleugnung besteht gerade darin, gleichzeitig zu wissen und nicht zu wissen. Foucault hat dargelegt, dass Verbote, weit davon entfernt, das Unaussprechliche erfolgreich zu unterdrücken, eine produktive Zunahme des Darüber-Sprechens erzeugen, was paradoxerweise das endgültige Scheitern des Verbots signalisiert. Wenn uns verboten wird, etwas zu sagen, so Foucault, finden wir andere Wege – indirekte, verschobene, aber zugleich nachdrücklichere Wege, es zu sagen. So hatte laut Foucault die repressive viktorianische Sexualmoral den Effekt, eine gewaltige Flut von neuartiger erotischer Literatur, Pornografie und Gerede über dieses angeblich Unaussprechliche, nämlich Sex, auszulösen. Jamaika war kein Fall von Repression an sich, sondern einer von kollektiver psychischer Verleugnung. Da das Sprechen über die bedrohliche Existenz von race zensiert war, produzierte Jamaika – speziell seine Mittelschicht – angesichts dieser nicht manifesten und doch vorhandenen Leerstelle nicht nur eine Fülle an Redeweisen, sondern tausend Euphemismen, Ausweichmanöver und Umschreibungen. Je mehr die Gesellschaft versuchte, das Thema zu vermeiden, desto ausufernder und raffinierter wurde die Terminologie und desto wirkungsvoller öffnete dies die Tür für das rassisierte Unbewusste in der Umgangssprache. In ihrer Studie zu Lord Macaulay hat Catherine Hall gezeigt, dass dieses Vergessen im kolonialen Diskurs eine Form von ›Rassisierung ohne Rasse‹ darstellt.

In diesem Zusammenhang mag es nützlich sein, sich die Unterschiede zwischen den Funktionsweisen von race in der Karibik und in den Vereinigten Staaten zu vergegenwärtigen.

In Jamaika stellten die Weißen eine kleine Minderheit dar, die den versklavten und befreiten Schwarzen zahlenmäßig weit unterlegen waren. In den meisten nordamerikanischen Staaten, in denen Sklaverei herrschte, lebten mehr Weiße als Schwarze, die – wie Brodber und andere dargelegt haben – folglich versuchten, sich innerhalb der dominanten Weißen Welt einen eigenen Raum zu schaffen. In Jamaika hingegen und in der Karibik generell drehten sich die Ideen von Freiheit zunehmend darum, einen Raum anderswo oder außerhalb zu imaginieren, was sich beispielsweise in der wachsenden Identifikation mit Afrika zeigte.

In den USA war das Gefälle der Rassisierung steiler und stützte sich scheinwissenschaftlich auf das genaue Verhältnis von Weißem und Schwarzem Blut in den Adern einer Person: quadroon, octoroon und so weiter. Entsprechend wurden in den Südstaaten rassistische Unterscheidungen juristisch schärfer definiert und gesellschaftlich wirksamer durchgesetzt als in der Karibik. Der Amerikanische Bürgerkrieg hat trotz seiner Versprechungen die rassistischen Spaltungen nur ansatz- und zeitweise gelockert. Die Reconstruction, der ambivalente Versuch des Nordens, nach dem Krieg im Süden ein neues gesellschaftliches Regime zu etablieren, wurde von den tonangebenden Geschäftemacher*innen und Karrierist*innen rasch kompromittiert. Die Staaten erhielten das Recht, eigenständig gesetzlich zu regeln, welche Freiheiten und Einschränkungen für befreite Schwarze gelten sollten. Die organisierte Opposition gegen die Emanzipation wurde schon bald offensichtlich in den Bestrebungen, die Jim-Crow-Gesetze einzuführen, welche die Linien rassistischer Diskriminierung festigten und formalisierten und faktisch eine neue Trennung nach Hautfarben herstellten. Eine extremistische Fraktion – der Ku-Klux-Klan – griff nach seinen weißen Kapuzen und Stricken. Letztlich wurde die gesellschaftliche Apartheid der Plantagen-Ära nach der Sklavenbefreiung reinstalliert. In Jamaika existierte ein solches rassistisches Gefüge nicht, und die Trennung zwischen den Hautfarben war weniger stark institutionalisiert. Sie funktionierte nicht qua Gesetz, sondern durch Sitte und Gewohnheit. Man denke, was die karibische Situation betrifft, nur an die Enklaven der Weißen, repräsentiert durch ihre Jachtclubs, wo es keine Zugangsverbote gibt. Das ist auch gar nicht notwendig. Diese Klubs sind einfach traditionell Weiß. In der Praxis war race in Jamaika ein gleitender Signifikant. Die soziale Abweichung – das Gleiten des Signifikanten – war beträchtlich und konstitutiv für das gesellschaftliche Leben selbst. Es gab eine breite Variation von Hautfarben, selbst innerhalb einer Familie, so wie in meiner eigenen. In der jamaikanischen Gesellschaft war die fortwährende, verwirrende Fluidität der körperlichen Erscheinung Gegenstand von Tratsch, intensiver Überwachung und zügelloser Spekulation. Diese Fluidität, das war das Jamaika meiner Kindheit.

Race und Sex

Ein solches Gesellschaftssystem erfordert, dass wir nicht nur über die gesellschaftlichen Verhältnisse nachdenken, die es stützen, sondern auch darüber, wie es tagtäglich reproduziert wird. Dies wiederum bringt uns zu Fragen nach der geschlechtlichen Konstruktion von Körpern, von Sexualitäten und nach den mannigfaltigen Transaktionen zwischen den Variationen ›epidermischer Schemata‹ auf der einen Seite und erotischem Begehren auf der anderen. Es führt uns zur Verbindung von race und Sexualität. Ich habe bereits darauf angespielt, als ich die Situation in meiner eigenen Familie diskutierte: mein Schicksal als junger (dunkel-)Brauner Angehöriger der Mittelschicht und die beherrschende Präsenz meiner Mutter. Gail Lewis bezieht sich auf den Psychoanalytiker Wilfred Bion, um über die Natur der »mütterlichen Fantasien« nachzudenken, die sich auf das Baby übertragen, und führt dann weiter aus, dass die Haut selbst als mysteriöse Trägerin von »Geheimnissen, Begehren und Wissen« fungieren kann.

Das Verleugnen derer, die für die Elendsten gehalten werden, ist nicht nur an race oder colour gebunden. Es zieht sich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse von Klasse, Geschlecht, Sexualität und Intimität. In dieser Hinsicht ist die Bürde der Vergangenheit im heutigen Jamaika unmittelbar präsent. Die gegen queere Männer verübte Gewalt, um das prominenteste Beispiel zu nennen, bestätigt dies. Früher ergingen sich die Anständigen in wortreichen Umschreibungen. Es war ja nicht so, dass die ehrenwerte Gesellschaft nicht über Homosexualität sprach; sie wurde ständig thematisiert, auch wenn sie niemals als das benannt wurde, ›was sie war‹. Als ein dunkler Unterstrom war sie immer vorhanden. Heute bilden race, Sex und Macht einen dynamischen erotischen Cocktail. Der Albtraum Weißer Männer scheint zu sein, dass Schwarze Männer ihnen sexuell – in Größe oder Performance – überlegen sein und sie bei Weißen Frauen ausbooten könnten. Die Angst, von einem sexuell rebellischen ›Niederen‹ übertrumpft zu werden, lieferte die Zutaten für machtvolle Weiße Fantasmen. In »Schwarze Haut, weiße Masken« beobachtet Frantz Fanon, dass Weiße oft davon fantasieren, Schwarze Männer hätten Penisse von den ›Ausmaßen einer Kathedrale‹. In Reaktion auf solche weit verbreiteten Fantasmen ist eine übertriebene Schwarze Maskulinität zu einem der Terrains geworden, auf denen gestohlene Freiheiten umkämpft und kompensiert und historische Kämpfe symbolisch ausgefochten werden. Dieser tief sitzende, gestörte Zug eines männlichen Chauvinismus in der jamaikanischen Gesellschaft, gepaart mit der entsprechenden Homophobie, ist ein entstellendes zeitgenössisches Erbe der rassistischen Vergangenheit. Die ungenierte Gewalt gegen Frauen ist ein weiteres. Sexuelle Leistungsfähigkeit ist für Schwarze Männer ein Weg, sich in einer Welt der Abhängigkeiten ihrer Maskulinität zu versichern; eine der wenigen Sphären von Freiheit und Macht, die noch nicht außer Kraft gesetzt wurden.

Für eine beträchtliche Anzahl Schwarzer Frauen ist Sexualität in der populären Kultur ebenfalls zu einem hoch aufgeladenen Schauspiel geworden, in dem sie ihre Unabhängigkeit behaupten und inszenieren, vor allem als Freude am Sex. Diese Elemente prägen nachhaltig die heutige urbane Kultur der slackness, in der sowohl Männer als auch Frauen aktive und hoch sexualisierte Rollen spielen.

Auch wie jungen Schwarzen Briten in der Diaspora typischerweise unterstellt wird, sie würden mit verschiedenen baby mothers Kinder in die Welt setzen, steht in Beziehung zu dieser ideologischen Rhetorik. Jedoch stehen am Ende dieser fantasmatischen Kette des Begehrens immer jene, die Objekte und Opfer dieser Prozesse sind – vor allem Frauen und schwule Männer.

Sichtbarkeit als Wahrheit

Das heißt, race/colour funktioniert tatsächlich als Artikulationsprinzip, das sich durch die ganze Gesellschaft zieht: als Mittel, durch das multiple Formen von Unterdrückung ineinandergreifen und Bedeutung erlangen. Race, was immer dieser Begriff bedeuten mag, kann ausschließlich in ihren Erscheinungsformen gesehen werden, während Hautfarbe nur allzu sichtbar ist. Also ist man versucht, das eine zu benutzen, um das andere zu repräsentieren.

Von diesen beiden Begriffen – race und colour – war und ist race die ursprüngliche Kategorie. Man ging davon aus, dass race-Unterschiede biologisch und genetisch vererbt werden. Tatsächlich hat Skip Gates schon vor langer Zeit dargelegt, dass ›Rasse‹ »zu einem bildlichen Ausdruck irreduzibler Unterschiede zwischen Kulturen, Sprachgruppen oder Anhängern besonderer Glaubenssysteme geworden ist, die oft auch fundamental gegensätzliche ökonomische Interessen haben«. Daraus ergibt sich das Problem, dass rassisierte Vererbung nicht mit bloßem Auge erkennbar ist. Deshalb ist es schwierig, um genetische Verschiedenheit eine dem Alltagsverstand einleuchtende – in Alltagssprache ausdrückbare – Abgrenzung zu konstruieren, wenn die Bezugsgrößen nicht sichtbar, eindeutig und leicht verfügbar sind. Die Farbe der Haut wiederum ist nur allzu deutlich sichtbar. Ihre Sichtbarkeit war und ist ihr größter diskursiver Wert. Sie ermöglicht ein sofortiges Erkennen. Sichtbarkeit wird somit zum Synonym für Wahrheit. In Anlehnung an Jacqueline Roses wunderbares Buch »Sexualität im Feld der Anschauung« kann man sagen, dass diese Manöver race im ›Feld der Anschauung‹ verorten. So lieferte die Ersetzung von race durch colour einen lesbaren Code, innerhalb dessen sich ein Begriff durch den anderen ersetzen ließ. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe nennen diese Denkstruktur »System der Äquivalenz«.

In diesem diskursiven System war biologische ›Rasse‹ die primäre Unterscheidungskategorie. Hautfarbe aber war die offensichtlichste visuelle Grenzmarkierung. Sie ermöglichte es uns, Vorgänge zu erfassen, die mit bloßem Auge nicht zu sehen waren, von denen wir aber wussten, dass sie unsichtbar im Körper wirkten. Diese Äquivalenzen sind von herausragender Bedeutung: nicht weil, wie deren Kritiker behaupten, »es dabei nur um Sprache geht«, sondern weil solche diskursiven Systeme die sozialen Praxen formen und steuern und umgekehrt.

Der Prozess der gesellschaftlichen Kartografierung beinhaltete nicht nur die Stereotypisierung von ›Blut‹, sondern auch von kulturellen Merkmalen. Im kolonialen Diskurs wurden nicht-Weiße Völker generell als von Geburt faul, unzuverlässig, aggressiv, über-emotional, über-sexualisiert, irrational, intellektuell minderbemittelt kategorisiert und daher als von der Natur dazu bestimmt, in der Rangordnung der zivilisierten Gesellschaften für immer ganz unten zu rangieren. Als der Sklavenhandel im Gange war und man die grundsätzliche Menschlichkeit der Sklaven schließlich widerwillig anerkannte, wurden sie in der Regel als Angehörige der negro race wahrgenommen und damit als vollkommen separate und tiefer stehende Kategorie von Menschen, die dauerhaft auf eine niedrigere soziale Entwicklungsstufe beschränkt blieben. Kulturelle Stereotype ließen sich damit wie colour denken: stabil und unveränderlich, weil sie sich – scheinbar – nicht aus der Geschichte ableiteten, sondern aus der Natur. Das ließ sich auch so darstellen, dass rassisierte kulturelle Merkmale sich, wenn überhaupt, dann nur im Zeitlupentempo natürlicher Evolution verändern. Im Alltag hingegen werden sie als dauerhaft, gesichert und ewig unveränderbar erfahren, sind also kein Gegenstand für Reformen oder Veränderungen.

Der Effekt war, rassisierte Unterschiede zu fixieren, zu naturalisieren und zu normalisieren, indem physische Erscheinungsformen in soziale Bedeutungen übersetzt wurden. In »Mythen des Alltags« hat Roland Barthes in seiner Erörterung zum Titelbild von Paris Match, auf dem ein Schwarzer Soldat vor der französischen Flagge salutiert, diese Argumentation benutzt. Er bezeichnete den zugrunde liegenden ideologischen Prozess, die Praxis, Geschichte auf Natur zu reduzieren, als »Naturalisierung«. Damit folgte Barthes Marx, der beobachtet hatte, mit welchen Mitteln die bürgerliche Ideologie die Mechanismen des kapitalistischen Marktes normalisiert: indem er dargestellt wird, als sei er ein von der Natur selbst ermächtigtes ökonomisches System.

Der Begriff Naturalisierung erinnert auch an Fanon, der ein auf Hautfarbe basierendes System rassisierter gesellschaftlicher Distinktion als »epidermisches Schema« bezeichnet. Aus dieser Perspektive wird der Körper zu einem Ding, mittels dessen »Unterschiede gedacht« werden und das unmittelbar Furcht und Angst auslöst. »Tiens, Maman! Un nègre!«, ruft das Kind in Fanons berühmtem Zitat. In diesen wenigen Worten ist das Bedrohliche von race verdichtet. Und wie Fanon anhand solcher scheinbar unbedeutende Praxen demonstriert, wird die Weiße Angst vor dem Schwarzen selbst normalisiert.

Das Herausarbeiten dieses ›Systems der Artikulation‹ brachte mich zu der in meiner Eröffnungsrede im DuBois Center for African-American Studies in Harvard gestellten Frage »Ist race nichts weiter als ein gleitender Signifikant?« Meine kurze Antwort lautete: Race ist beides, eine sozioökonomische ›Tatsache‹ und ein soziales Konstrukt oder diskursives ›Ereignis‹ – auch wenn sie natürlich niemals ein unveränderliches, beweisbares, objektives wissenschaftliches Gesetz bezeichnet, das außerhalb des Diskurses wirkt und ein Garant für ihre Gültigkeit sein kann.

Der Stellenwert von race/colour als diskursiver Signifikant, der gesellschaftliche Bedeutung organisiert, impliziert nicht (wie die Skeptiker*innen meinten), dass Diskurs in der »realen Welt« (wie sie sagen) keine Rolle spielt, weil es sich »nur um Sprache« handelt. Diskurs und Praxis sind keine fundamentalen Gegensätze. Praxen haben immer eine Bedeutung, und Bedeutungen organisieren Praxen und haben reale Auswirkungen. Innerhalb eines Systems der Repräsentation dieser Art, argumentierte ich, müssen wir keine prinzipielle analytische Unterscheidung zwischen körperlichen und kulturellen Faktoren treffen, um Rassismus zu erklären. Vielmehr wurden die beiden, wie ich es damals ausdrückte, »die zwei Register des Rassismus«.

Der Entkolonisierungsprozess in Jamaika musste sich an vielen verschiedenen Fronten auf die heimische Kultur einlassen. Dabei war es entscheidend, das zuvor fortwährend Verleugnete ins Zentrum des bewussten Denkens und Sprechens zu rücken. Dies ist eine Möglichkeit, die periodisch wiederkehrende Dynamik der kulturellen Revolutionen der späten 1960er und der 1970er Jahre zu verstehen, die versprachen, uns von der sozialen Gewohnheit des Verleugnens zu befreien, die die Funktionsweise des modernen Jamaika garantiert hatte.

Als ich heranwuchs, war es noch nicht so weit. Es gab keinen solchen kollektiven Willen abseits der verschiedenen Unterströmungen dieses anderen Jamaika, das die Angehörigen meiner Klasse und colour kaum kennen konnten. Dies führte zu einer nerven- und kräftezehrenden Erfahrung: Wir fühlten, dass keine Sprache zur Verfügung stand, mit der sich verstehen ließ, was tief in uns allen steckte und brannte. Die Abreise aus Jamaika musste eine Reise zu etwas Neuem sein, das uns ermöglichen würde auszusprechen, was in uns war.

Aus dem Englischen von Ronald Gutberlet, Lektorat von Iris Konopik

Literatur

Freud, Sigmund, 1930: Das Unbehagen in der Kultur, in: GW 14, Wien