- Zeitschrift LuXemburg - https://legacy.zeitschrift-luxemburg.de -

Wohnen, wohnen, wohnen. Warum es eine rebellische, linke, solidarische Stadtpolitik braucht

Von Stefan Thimmel

Wem gehört die Stadt? Wem gehört Hamburg? Wem gehört Berlin? Wem gehört Leipzig? Wem gehört Konstanz? Nachdem Anfang der 2000er Jahre viel über schrumpfende Städte, Leerstandsprobleme, Rückbau und ökologische Fragen diskutiert wurde, sind seit einigen Jahren steigende Mieten, Wohnungsmangel, Verdrängung und Obdachlosigkeit zum drängenden Problem geworden. Anfang April 2019 haben allein in Berlin 35.000 Menschen gegen den Mietenwahnsinn protestiert. Die Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« nutzte die spektakuläre Demo als Auftakt für ihr Volksbegehren zur Vergesellschaftung der Berliner Bestände großer Immobilienkonzerne. Denn es geht nicht nur um bezahlbare Wohnungen, um Wohnungsneubau im Allgemeinen und sozialen Wohnungsbau im Besonderen. Es ist die Eigentumsfrage, die gegenwärtig auf der Agenda steht.

Kein Wunder, denn die Probleme sind gravierend. Alarmierend sind die absoluten Zahlen, aber auch der Trend: Innerhalb von nur einem Jahr stiegen die anteiligen Wohnkosten in Berlin von 40 auf 46 Prozent, das heißt, durchschnittlich wird fast die Hälfte
des verfügbaren Einkommens für Wohnkosten ausgegeben. Dabei ist für Expert*innen unumstritten, dass die Bruttokaltmiete nicht mehr als 30 Prozent des Nettoeinkommens betragen sollte. In größeren Städten sind die Mieten besonders hoch. 2018 mussten bei Neuvermietungen im Mittel 11,57 Euro/m2 gezahlt werden. Aber das Wachstum der Neuvertragsmieten fiel seit 2010 in keiner der Städte so hoch aus wie in Berlin. Die Neuvertragsmieten stiegen bis Ende 2018 nominell um 73 Prozent. Es gibt kaum mehr zu vermietende Wohnungen, die Leerstandsquote in den großen Städten beträgt 3,6 Prozent.

Dass dieses Problem nicht allein durch massenhaften Neubau gelöst werden kann, dämmert mittlerweile auch denjenigen, die noch zu Beginn des Jahres 2019 darin das Allheilmittel sahen. »Wenn man die Mieten im Griff haben will, muss man bauen, bauen, bauen – ob es Frau Lompscher gefällt oder nicht.« So der Fraktionschef der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, in der Fraktionsklausur vom Januar 2019. Der Markt reguliert das Problem aber nicht. Die Preise sinken nicht, obwohl das Angebot wieder leicht ansteigt. Worauf kritische Stadtforscher*innen schon seit Jahren hinweisen: Die meisten der neu gebauten Wohnungen sind für Normalverdienende und erst recht für Geringverdienende nicht bezahlbar. 1,9 Millionen Wohnungen, die für Menschen mit niedrigem Einkommen erschwinglich sind, fehlen in Deutschland.

Mit rund 310.000 fehlenden Wohnungen in diesem Segment steht Berlin an der Spitze (Holm et al. 2018). Es werden viel zu wenige Sozialwohnungen gebaut, aktuell nur 26 000 im Jahr, es müssten über 80 000 sein. Aber nicht nur die Menge stellt ein Problem dar – es fehlt ein schlüssiges Konzept (vgl. Prognos AG 2019 und Kuhn in diesem Heft [1]).

Gleichzeitig fallen jährlich Zehntausende Sozialwohnungen aus der Mietpreisbindung und werden auf dem sogenannten freien Markt angeboten, nicht selten als Eigentumswohnungen, ob mit oder ohne Sanierung (vgl. Holm in diesem Heft). Infolge sind innerhalb von nur sechs Jahren die durchschnittlichen Quadratmeterpreise für Bauland in den sieben größten Städten Deutschlands von 600 auf
1 120 Euro gestiegen. Selbst in mittelgroßen Städten gingen die Preise nach oben, von 240 auf 500 Euro. Eine besondere Zahl kursiert inzwischen in Bezug auf München: Dort haben sich die Baulandpreise seit 1950 um 39.000 Prozent verteuert (Fabricius 2019). In Berlin sind die Preise für bebaute Grundstücke zwischen 2008 und 2017 von 1.700 Euro auf fast 4 500 Euro/m2 gestiegen (vgl. Heinz/Belina 2019 und Heinz in diesem Heft [2]).

In den 2000ern hieß es, »Deutschland ist gebaut«. Das hat nie gestimmt und stimmt heute weniger denn je. Es wird ausgegrenzt und verdrängt, nicht mehr an den sprichwörtlichen Stadtrand, denn auch dort gibt
es keinen signifikanten Leerstand mehr und kaum noch bezahlbare Wohnungen, sondern ins Umland, in prekäre Wohnverhältnisse, Verschuldung und Wohnungslosigkeit. »Es gibt kein Grundrecht auf Wohnen in der Stadtmitte!«, so ein Kommentar im Berliner Tagesspiegel vom 4. Februar 2013.

Nicht unwidersprochen

Aber es tut sich etwas. Vor allem in den Städten, dort, wo auch die Probleme wohnen. Der Verdrängung, der neben den unteren jetzt auch mittlere Einkommensgruppen ausgesetzt sind, widersetzen sich die Betroffenen zunehmend. Die Menschen wollen bleiben. In den Innenstädten, in den Außenbezirken, in ihren Kiezen und in ihren Vierteln. Sie verweigern sich Räumungsbeschlüssen, schließen sich
als Hausgemeinschaften zusammen, führen erfolgreiche und manchmal auch erfolglose Kämpfe, organisieren politische und kulturelle Events, gründen Informationsportale, recherchieren Besitzverhältnisse und setzen kommunale Politik und Landesregierungen unter Druck. Zumindest in den Großstädten ist das NIMBY-Phänomen (Not in my backyard – Nicht in meinem Hinterhof) heute weniger präsent als die rebellische, linke und solidarische Aktion. In allen größeren Städten gibt es lokale Mieterinitiativen, in Berlin beispielsweise Bizim Kiez,1 Kotti & Co, Stadt von unten oder das Bündnis Zwangsräumung stoppen, um nur einige zu nennen. Sie alle setzen sich gegen die aktuelle Wohnungspolitik zur Wehr, entwickeln Alternativen und machen mit eindrucksvollen Aktionen auf Immobilienspekulation, Verdrängung und Luxussanierungen aufmerksam. Sie erzählen auch die Geschichten der betroffenen Menschen.

Ende Februar 2019 kamen mehrere Hundert Menschen aus diesen Initiativen, der Berliner Landesregierung, der Linkspartei sowie kritische Wissenschaftler*innen bei »RLS-Cities: Rebellisch.Links.Solidarisch«, der wohnungspolitischen Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung, in Berlin zusammen. Sie diskutierten gemeinsam über eine progressive Stadtpolitik und eine Art Halbzeitbilanz nach zwei Jahren Mitte-links-Regierung.

Die Veränderungen gehen langsam. Aber nach gut zwei Jahren rot-rot-grüner Wohnungspolitik kommt in Berlin durchaus etwas in Bewegung: Der im Mai 2019 veröffentlichte neue Mietspiegel weist erstmals seit Langem einen gebremsten Mietenanstieg aus. Die Mieten in der Stadt stiegen mit 2,5 Prozent nur noch halb so schnell wie bei der letzten Erhebung von vor zwei Jahren, als es noch 4,8 Prozent jährlich waren. Auch einzelne Maßnahmen der linken Wohnungs- und Stadtpolitik wirken mittlerweile: So dürfen die öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften, die aktuell in Berlin einen Bestand von 300 000 Wohnungen verwalten (weitere 100 000 Wohnungen sollen in den nächsten sechs Jahren gebaut und erworben werden), ihre Mieten seit einer 2017 geschlossenen Kooperationsvereinbarung nur noch um maximal zwei Prozent jährlich erhöhen. Bei privaten Vermietern greift eine Kappungsgrenze von maximal 15 Prozent in drei Jahren. Dazu sorgen inzwischen 57 Milieuschutzgebiete dafür, dass preistreibende Luxussanierungen in 460 000 Wohnungen schwieriger geworden sind. Durch das kommunale Vorkaufsrecht oder Abwendungsvereinbarungen wurden 2018 Mieter*innen in 3 050 Wohnungen vor Verdrängung geschützt.

Für einen radikalen Umbau der Städte reicht das noch lange nicht. Die verschärfte Lage hat aber den Diskurs nach links verschoben. Dies spiegelt sich auch im Beschluss des Berliner Landesverbands der LINKEN vom
11. Mai 2019. Der Leitantrag »Rebellische Stadtpolitik: in Berlin und in einem europäischen Netzwerk der Metropolen« wurde mit großer Mehrheit angenommen. Die Kernforderungen von stadtpolitischen Initiativen und Mietervereinen zum Beispiel zur Bodenpolitik, zu einem Mietendeckel oder zu einer Vergesellschaftung sind darin aufgenommen.2

Zentral: die städtische Ebene

Dass sich etwas bewegt, liegt auch daran, dass sich immer mehr Menschen lokal organisieren und sich wehren. Diese klassen- und barrierenüberwindende politische Praxis nimmt zu und schafft Verbindlichkeiten, wirkliche Vernetzung und neue Bündnisse. Die soziale Dynamik und das plurale Miteinander, das sich in Häusern und Kiezen bildet und konsolidiert, deren Bewohner*innen unterschiedslos alle den sprichwörtlichen Brief erhalten haben, in dem der Eigentümerwechsel angekündigt wird, sind ein neues Phänomen. Hier vor Ort, auf dieser lokalen Ebene entsteht auch Druck auf die Verwaltungen. Wie gut oder schlecht die Zusammenarbeit von Initiativen, Hausgemeinschaften und Bündnissen mit den verschiedenen Verwaltungsebenen funktioniert, ist ein Schlüsselmoment für eine erfolgreiche rebellische Stadtpolitik. Es entwickelt sich ein verändertes Verhältnis von Bewegungen und Initiativen, linken Parteien und Regierungen. Die kommunale, die städtische Ebene hat international enorm an Bedeutung gewonnen, sowohl was den administrativen Spielraum als auch was die Mobilisierungsfähigkeit betrifft. Vor wenigen Jahren wurde hinsichtlich der kontroversen mieten- und wohnungspolitischen Themen noch oft achselzuckend und scheinbar ohnmächtig auf die bundespolitische Ebene verwiesen. Inzwischen entsteht auf der lokalen und kommunalpolitischen Ebene tatsächlich soziale Gegenmacht.

Die Enteignungsdebatte macht Mut – auch International

Schon 2013 forderte David Harvey, der britisch-US-amerikanische Sozialtheoretiker und Stadtforscher, in seinem Buch »Rebellische Städte« eine urbane Revolution gegen die »Akkumulation durch Enteignung«. In Berlin soll jetzt »zurückenteignet« werden.
Es herrscht große Aufregung. Die Zustimmungswerte schwanken hin und her, mal ist eine Mehrheit der Berliner und Berlinerinnen dafür, mal dagegen. Aber vor allem durch die Medienpräsenz und -resonanz der Kampagne »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« ist Berlin stadtpolitisch auch international zu einer Referenz geworden. Initiativen in Barcelona, London und New York sprechen in den höchsten Tönen über die aktuelle Entwicklung in Berlin und betonen deren Bedeutung für ihre eigenen lokalen Kämpfe. Und Leilani Farha, Rechtsanwältin aus Toronto und gegenwärtig Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für angemessenes Wohnen, zeigte sich Anfang Mai 2019 bei einem Berlin-Besuch auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung begeistert.

Dabei sind Enteignungen alltägliche Praxis, sie stehen im Grundgesetz, sind Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Praktiziert werden sie bis dato aber nur im Straßenbau und im Tagebau, nicht aber beim Wohnen. Im Mai 2019 liefen 200 Enteignungsverfahren bundesweit, 102 davon, um Boden für Autobahntrassen und 98, um Platz für Bundesstraßen zu schaffen. Dass Wohnen kein Luxusgut sein darf, ist inzwischen in aller Munde. Wohnen darf aber auch kein Spekulationsgut und damit auch keine Ware sein. Sechs Jahre nach dem Erscheinen von David Harveys Buch liegt jetzt auch in Deutschland ein Hauch von Rebellion in der städtischen Luft. Die Situation wird von den finanzmarktorientierten Wohnungsunternehmen durchaus ernst genommen, zu denen nicht nur die berühmt-berüchtigte Deutsche Wohnen, Vonovia oder Blackstone gehören, sondern beispielsweise auch die dänische Pensionskasse PFA.3 Michael Voigtländer, Immobilienökonom beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln, bezeichnet die Debatte um Enteignungen großer Immobilienunternehmen als »Tabubruch«. Es sei »erschreckend, dass die Politik sie nicht viel entschiedener zurückweist«, so Voigtländer im Handelsblatt (Kersting 2019).

Nimmt man die eigenen Beschlüsse ernst, gehört zu einer rebellischen Stadtpolitik auch das Bekenntnis: Ja, wir wollen Investoren abschrecken! 2017 gab es mit 240 Milliarden Euro einen neuen Umsatzrekord am Immobilienmarkt, der wiederum die Immobilien- und Bodenpreise extrem anheizt. Neubauprojekte mit Eigentumswohnungen zu 5.000 Euro pro Quadratmeter sind keine Seltenheit, aktuell hält in Berlin ein Objekt mit 7.500 Euro pro Quadratmeter an der East Side Gallery den Rekord. Solche Investitionen braucht kein Mensch. Dafür aber umso
mehr eine Politik, die das Recht auf Wohnen umsetzt. Die Instrumente dafür liegen im Prinzip bereit. Sie heißen: Mietendeckel
und Mietpreisbremse, Vorkaufsrecht und Milieuschutzsatzungen, Spekulations- und Zweckentfremdungsverbot, Transparenzregister und Verbot von Share-Deals, Verbot von Zwangsräumungen, staatlich regulierte Neubauten, Förderung des gemeinwohlorientierten Wohnungsbaus und von Sozialwohnungen, Diskriminierungsverbote, Bodenfonds und Community Land Trusts. Vieles liegt auf Schreib- und Zeichentischen, noch mehr in Schubladen. Weiteres kann erfunden werden. Und dann kommen Städte wie Berlin einer rebellischen, linken und solidarischen Stadtpolitik näher, sodass es irgendwann tatsächlich authentisch heißen kann: Und die Stadt gehört Euch.

LITERATUR

Anmerkungen

1 Bizim Kiez ist eine seit 2015 bestehende offene Initiative mit Plattformcharakter und projektbezogenen Arbeitsgruppen. Bizim heißt »unser« auf Türkisch. Bizim Kiez wurde gegründet von solidarischen Nachbar*innen aus Protest gegen die Kündigung des familiengeführten Obst- und Gemüseladens Bizim Bakkal im Kreuzberger Wrangelkiez.

2 Vgl. dielinke.berlin/partei/parteitag/beschluesse/det/news/rebellische-stadtpolitik-in-berlin-und-in-einem-europaeischen-netzwerk-der-metropolen/ [6].

3 Wer in Berlin welche Wohnungsbestände besitzt, findet sich in der im Mai 2019 erschienenen Studie »Profitmaximierer oder verantwortungsvolle Vermieter? Große Immobilienunternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen in Berlin im Profil« [7] von Christoph Trautvetter und Sophie Bonczyk, Hg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.