| Wiederkehr der Monster

Juni 2012  Druckansicht
Von David McNally

Vampire, Zombies und Kapitalismus

Insgeheim sind wir fasziniert von Monstern – von Zombies, Vampiren, Werwölfen oder welches Geschöpf es auch sei. Das mag wie eine verschrobene Obsession scheinen, und darüber zu sprechen, macht Spaß. Doch in welchem Sinne sind diese Monster ein Bild für das Leben in einer kapitalistischen Gesellschaft?

Die Time erklärte den Zombie zum »offiziellen Monster der Rezession«.Ausdrücke wie »Zombiebanken«, »Zombiekapitalismus«, »Zombiewirtschaft«, »Zombiekonzerne« füllen die Finanzmarktseiten der Zeitschriften und Zeitungen. In einer großartigen Passage über die Finanzkrise beschrieb ein USJournalist die Investmentbank Goldman Sachs als »einen riesigen Vampirtintenfisch, der sich über das Antlitz der Menschheit gelegt hat und erbarmungslos seine Fangarme um alles schließt, was nach Geld riecht«.2  Vampire liegen als Metapher nahe: Sie saugen Blut, saugen anderen das Leben aus – ein einfaches Bild. Doch das Bild des Zombies scheint mir als Metapher für den Kapitalismus besonders wichtig und mächtig.

Zu den Gebieten, die von der neoliberalen Globalisierung am stärksten getroffen wurden, gehört Subsahara-Afrika. Der Lebensstandard sank dramatisch, Armut und Kindersterblichkeit haben sich enorm verbreitet. Zugleich ist dort in den letzten eineinhalb Jahrzehnten ein ganzes Genre an Vampir- und Zombiegeschichten neu entstanden: In Nigeria zum Beispiel zirkuliert die Erzählung, dass man, wenn man auf ein Motorradtaxi steigt und den vom Fahrer angebotenen Helm aufsetzt, automatisch in ein Hotelzimmer gebracht wird, in dem man unkontrolliert anfängt, Geld auszuspucken, also gewissermaßen zu einem menschlichen Geldautomaten wird. Daneben gibt es eine Reihe von Geschichten, in denen Menschen behaupten, völlig erschöpft aufgewacht zu sein, weil sie in der Nacht entführt und auf eine Zombieplantage verbracht worden seien, wo sie die ganze Nacht für Kapitalisten und andere Blutsauger geschuftet hätten.

Zur historischen Einordnung können wir einen Blick auf das wahrscheinlich berühmteste Monster in der Geschichte des Kapitalismus werfen: Frankensteins Geschöpf. Die literarische Erfindung von Frankensteins Monster durch Mary Shelley begann in derselben Nacht im Jahr 1816 bei einem Dichterwettstreit, aus dem auch die erste Vampirerzählung der Literaturgeschichte hervorging.

Im frühen 19. Jahrhundert ist mit der so genannten Industriellen Revolution und dem Fabriksystem die Entwicklung zum modernen Kapitalismus enorm vorangeschritten, besonders in Großbritannien. Frankenstein entstand in einer Zeit, in der Menschen aus der Arbeiterklasse in London regelmäßig in zwei Arten von Kämpfen verwickelt waren, die heute kaum noch bekannt sind: Die erste entwickelte sich im Kontext öffentlicher Hinrichtungen. Die meisten so genannten Kriminellen, die öffentlich gehängt wurden, stammten aus der Arbeiterklasse, sie waren arm und hatten gestohlen, um sich am Leben zu halten. Diese Menschen wurden nicht nur kriminalisiert und eingesperrt, sondern als Teil ihrer Erniedrigung routinemäßig in aller Öffentlichkeit gehängt. Heute ist allgemein bekannt, dass bei diesen öffentlichen Hinrichtungen die Volksmenge zusammenströmte, doch nur wenige wissen, dass diesen Veranstaltungen häufig stundenlange Straßenschlachten folgten, in denen um den Leichnam gerungen wurde. Das Urteil lautete häufig Tod durch Erhängen mit nachfolgender Sektion: Die so genannten Anatomen erhielten den Körper des Hingerichteten, um ihn sezieren zu können. Zu Hunderten und Tausenden sammelten sich Menschen aus der Arbeiterklasse an den Galgen und kämpften um die Körper der Armen, damit sie nicht auch noch aufgeschnitten wurden.

Was geht hier vor sich? Um dies zu beantworten, müssen wir uns vergegenwärtigen, wozu der Kapitalismus Arbeiter tagein, tagaus zwingt: Du verkaufst deinen Körper an einen Arbeitgeber, und dieser Arbeitgeber kontrolliert während der Arbeit deine physischen Bewegungen. Er kontrolliert, wie du deine Lebensenergie einsetzt. Wenn du in eine Fertigungskette eingebunden bist – ob du bei McDonalds das Fleisch auf den Big Mac legst, an einem Automontageband stehst oder als Reinigungskraft in Hotels arbeitest und dabei eine festgelegte Zeit für die Reinigung jedes Gegenstands in den Bädern, den Schlafzimmern usw. hast –, dann werden deine physischen Bewegungen, Körperaktivitäten und Kräfte von Kapitalisten mit der Uhr gestoppt, sie werden berechnet, justiert, vermessen, diszipliniert und reguliert. Wenn die Arbeiter bei den Galgen in London darum kämpften, dass die Körper nicht angeeignet und aufgeschnitten wurden, drückten sie eine verbreitete Wut über das aus, was der Kapitalismus mit der Lebenskraft anstellt.

Die zweite Art von Kämpfen fand auf den Friedhöfen statt. Denn die Anatomen gruben auch Leichname der Armen wieder aus, um sie sezieren zu können. Der Verkauf von Körperteilen war Teil der Geschichte des Kapitalismus dieser Zeit und zieht sich durch die Erzählung gen der Populärkultur, bis in die Gegenwart hinein – etwa in John le Carrés Roman Der ewige Gärtner. Heute lassen sich die Armen in Asien, Afrika und Lateinamerika aufschneiden und verkaufen einen Teil ihres Körpers, beispielsweise eine Niere, um überleben zu können. Diese Idee, das eigene Leben, die eigene Energie, die körperliche Existenz verkaufen zu müssen, um zu überleben, zieht sich durch die gesamte Geschichte des Kapitalismus. Auch der Ausdruck body-snatcher (Leichenräuber), den man heute aus Filmen wie The Invasion of the BodySnatchers3  kennt, geht auf diese Zeit des sich durchsetzenden Kapitalismus zurück, als die Armen auf den Friedhöfen die Leichname ihrer Lieben verteidigten. Leichenraub ruft Entsetzen hervor, weil der Körper bereits zu Lebzeiten (durch den Kapitalismus) geraubt wurde, also soll er wenigstens im Tod verteidigt werden, wenigstens im Tod soll die unwürdige Kontrolle über den Körper der Armen ein Ende haben.

Auch Victor Frankenstein hat, wie Mary Shelley schreibt, Gräber ausgeraubt, um sein Monster zu erschaffen. Jeder Leser aus der Arbeiterklasse wusste, was das bedeutete. Frankenstein beschaffte sich all diese verschiedenen Leichenteile (darunter auch solche von Tieren), fügte sie zusammen und legte elektrische Spannung an. Ich schlage vor, dies als eine äußerst kraftvolle Metapher dafür zu lesen, wie der Kapitalismus diese neue soziale Gruppe, die heute Arbeiterklasse heißt, zusammengesetzt hat. Er sammelte die Einzelteile der Menschheit zusammen und warf sie in diese Fabriken genannten modernen Gefängnisse – und das ist es, was Fabriken sind, wir haben uns nur so sehr daran gewöhnt, dass wir vergessen haben, dass die Arbeiterklasse vor mehreren hundert Jahren so über sie dachte: Die Armen taten alles, um nicht dort arbeiten zu müssen, sie flohen aufs Land, drangen in die Wälder reicher Landbesitzer ein und wilderten Kaninchen, stellten sich flüchtige Behausungen wie Zelte auf, um zu leben, um Natur und Umwelt zu okkupieren und sich diese von den Kapitalisten und Landbesitzern wieder anzueignen.

Mary Shelley modellierte ihr Geschöpf also bewusst nach der Weise, wie der Kapitalismus die Arbeiterklasse zusammensetzt. Das klassische Bild des durch den Körper zuckenden elektrischen Stroms verweist auf die Elektrizität, die neben der menschlichen Körperkraft benötigt wird, um die Maschinen der Fabriken zu betreiben.

Zwei wichtige Motive der Frankensteingeschichte sind weitgehend in Vergessenheit geraten, weil sie in den späteren Filmversionen entfernt wurden. Erstens verfügt Frankensteins Geschöpf in Mary Shelleys Version über Sprache, es lernt sogar lesen. Der Text, von dem es am meisten lernt, war einer der radikalsten sozialistischen und antirassistischen Schriften dieser Zeit, verfasst von dem französischen Revolutionär Constantin François Volney und höchst populäre Lektüre bei den Revolutionären der späten 1790er Jahre.Volneys Werk war ein entschieden antikapitalistischer Text und eine leidenschaftliche Polemik gegen Sklaverei und Rassismus. Volney argumentierte früh, dass die menschliche Zivilisation ihren Ursprung in Afrika hat, in dem Sinne, dass die gesamte Menschheit afrikanische Vorfahren besitzt. Das war eine machtvolle Stellungnahme inmitten des aufsteigenden Kapitalismus und des organisierten, systematischen Rassismus, der zum Sklavenhandel und Kapitalismus dazugehört.

Zweitens muss die Meuterei der Matrosen hervorgehoben werden: In einem späten Teil der Geschichte steht eine weitere Katastrophe bevor, weil Frankenstein auf der Jagd nach seinem Geschöpf das Schiff weiter durch die Eisberge treiben will, unter Einsatz des Lebens der ganzen Mannschaft. Die Schiffsarbeiter revoltieren. Bei Mary Shelley heißt es – dies ist in allen modernen Versionen unterdrückt worden –, dass nur die Revolte der Matrosen weitere menschliche Tragödien verhindern kann. Wenn das keine Metapher für die Revolte der 99 Prozent, die Revolte der Arbeiter der Welt ist!

In den meisten modernen Versionen kann Frankensteins Geschöpf nicht mehr sprechen, nicht mehr lesen und ganz bestimmt nicht revoltieren – es wird »zombifiziert«. Zombies liefern ein anderes wichtiges Bild. Der Zombie ist ein Kulturprodukt Haitis. Wenn jemals die wahre Geschichte des modernen Kapitalismus und der revolutionären Bewegungen gegen ihn geschrieben werden soll, muss die Geschichte Haitis richtig erzählt werden. Haiti war in der Geburtszeit des Kapitalismus die größte Sklavenkolonie der Welt. Und es war Schauplatz der ersten und einzigen erfolgreichen Sklavenrevolution, die erste Gesellschaft, die in dieser gegen das französische, spanische und britische Kolonialreich siegreichen Revolution die Sklaverei abschaffte und ausmerzte. Und in Haiti hat jenes Bild des Zombies seinen Ursprung, das sich Hollywood in den 1920er und 1930er Jahren aneignete.

Was ist der Schlüssel zu diesem Bild? Es handelt sich um das klassische Motiv des lebenden Toten: Ein Mensch wird seiner Identität, Erinnerung, Subjektivität und seines Bewusstseins beraubt – ein Mensch wird auf bloßes Fleisch reduziert, darauf, nichts als ein Körper zu sein. Ich möchte behaupten, dass der Zombie zum mächtigsten Bild des modernen Lebens wird, weil er uns ein Geheimnis über den Kapitalismus verrät: dass Kapitalismus für die meisten Menschen bedeutet, den größten Teil des wachen Lebens unter den lebenden Toten zu verbringen, als jemand, der vom Standpunkt des Kapitalisten nichts als Körperteile, nichts als physische Energie darstellt, die angewandt werden will in der Profite generierenden, Kapital generierenden, Macht generierenden, Reichtum produzierenden Ausbeutungsmaschinerie, die der Kapitalismus darstellt. Es gibt einen Grund, weshalb wir von Zombies so fasziniert sind, weshalb wir von diesem Bild so stark angezogen werden: Uns berührt die Idee, dass wir selbst die lebenden Toten sind.

Und die Zombies erwachen und schlagen zurück: Ein wesentliches Motiv, das sich durch die interessantesten Zombiefilme und -erzählungen zieht. Sie nehmen Rache, richten Chaos und Verwüstung an und zerstören die höfliche, zivilisierte, geordnete, reglementierte, kontrollierte bürgerliche Gesellschaft, sprengen sie, stellen sie auf den Kopf und verbreiten Anarchie und Zerstörung. Das gehört zu der Botschaft, mit der wir uns alle in Zombiefilmen identifizieren. Denn wenn Kapitalismus eine Gesellschaft ist, die versucht, uns zu zombifizieren, dann drückt die Sprache des Horrors, das Horrorgenre in dieser Gesellschaft den wundervollen Gedanken aus, dass sie Angst haben. Wenn sie uns in bloße Arbeitsmaschinen, bloße Ansammlungen menschlichen Fleisches verwandeln, sodass unsere Leben, unsere Wünsche, unsere Liebe, unser Hass, unsere Leidenschaften und Träume nichts zählen, weil die 1 Prozent alles kontrollieren, weil sie über eine Maschinerie des Reichtums und der Macht verfügen, von der sie leben und für deren Fortgang wir nur die physische Energie liefern, dann besteht ihre Angst genau darin, dass alle jenseits des einen Prozents eines Tages zurückschlagen, dass wir nicht sprachlos und identitätslos sind, nicht ohne Träume und Hoffnungen. Der Zombie ist auch ein Bild des rebellierenden Monsters.

Das rebellierende Monster verbindet Frankensteins Geschöpf mit der Rache der Zombies. Dieses Motiv findet sich in einigen großartigen Produkten der Populärkultur. Thelonious Monk, einer der größten Jazzmusiker aller Zeiten, schuf sehr eigenartige und bizarre Rhythmen, die überhaupt nicht zu der Musik passten, die alle gewohnt waren. Die Pianistin Mary Lou Williams bezeichnete Thelonious Monks Musik als »Zombiemusik«. Sie meinte damit, dass er der Welt dieses Gefühl spiegelte, dass alles aus den Fugen und aus dem Rhythmus geraten war, sich aber merkwürdigerweise inmitten dieser Welt wirklich Schönes einfangen lässt. Eine Komposition von Thelonious Monk trägt den Titel Ugly Beauty.5  Wenn die Zombies kehrtmachen und zurückschlagen, wenn es ihnen gelingt, in die Einkaufszentren einzufallen, die Straße zu übernehmen und die höfliche bürgerliche Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen, sind die rebellierenden Monster »hässliche Schönheiten«. Kapitalismus basiert also auf der Idee, uns alle zu zombifizieren – so ist es die größte Angst des einen Prozents, dass wir nie vollständig zombifiziert sind, dass wir aufwachen und unsere Träume wieder ins Zentrum unseres Lebens stellen können, dass wir uns andere Organisationsformen der Gesellschaft vorstellen können und völlig neue Lebensweisen erschaffen. Das ist die hässliche Schönheit von Rebellion und Revolution, von der Aktivitäten wie Occupy Torontoleben. Sie lässt uns Halloween feiern und erinnert daran, dass es in dieser Nacht nicht nur um »Süßes oder Saures« geht, sondern darum, die Visionen und Hoffnungen einer Welt miteinander zu teilen, in der sich Zombies wirklich ihre Menschlichkeit, ihre Träume und ihre Persönlichkeit wieder aneignen und die Welt erneuern.

Aus dem Englischen von Daniel Fastner

 

Anmerkungen

1 www.time.com/time/magazine/article/ 0,9171,1890384,00.html
2 Matt Taibbi (2010): The Great American Bubble Machine, in: Rolling Stone, 5.4. www.rollingstone.com/politics/ news/the-great-american-bubble-machine-20100405. Die Assoziation von Kraken und »Blutsaugern« ist im Deutschen zwar in der Bezeichnung »Vampirtintenfisch« aufgegriffen, aber nicht in gleicher Weise verbreitet wie im Englischen.
3 In den deutschen Titeln geht diese Verbindung verloren: Die Dämonischen (1956) und das Remake Die Körperfresser kommen (1978); Anm. d. Übers.
4 Gemeint ist seine 1791 erschienene Schrift Les Ruines Ou Méditations Sur Les Révolutions Des Empires [Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche]; Anm. d. Red.
5 Mein Buch Monsters of the Market schließt mit einer Diskussion dieses Stücks.
6 Der Beitrag basiert auf einer Rede, die vom Autor auf Occupy Toronto am 30.10.2011 – Halloween – gehalten wurde; Anm. d. Red.