| Wie institutionalisiert man einen Schwarm?

Januar 2010  Druckansicht

von Ben Trott und Tadzio Müller

Ereignisse, so der französische Philosoph Alain Badiou, sind Zäsuren, sind Brüche, die ein klares ›Davor‹ und ein klares ›Danach‹ produzieren, wobei das ›Danach‹ nicht innerhalb des Ereignisses vorhergesehen werden kann. ›Seattle‹ war ein solches Ereignis, das den normalen Fluss der Dinge unterbrach: Für viele unerwartet wurde eine anscheinend hegemoniale globale Herrschaftsstruktur unterbrochen und gestört. Verantwortlich dafür zeichnete sich ein neues, vielfältiges, antagonistisches Subjekt: ein Subjekt, das später viele Namen haben sollte, aber doch am besten mit dem französischen Begriff des mouvement altermondialiste beschrieben ist – Bewegung für eine andere Globalisierung.

Die Verheißung von Seattle

Die Bedeutung von Seattle lag nicht nur darin, dass dort ein neues soziales Subjekt entstand. Sie gründet auch darin, wie dieses neue Subjekt zusammengesetzt war, sich bewegte und kämpfte. Die Proteste in Seattle verhielten sich wie ein Schwarm: ein anscheinend chaotisches Ensemble, das sich in Echtzeit selbst organisiert; vielfältig, dynamisch und rhizomatisch. Darin liegt auch der überraschende Erfolg des zunächst unwahrscheinlichen Bündnisses von Gewerkschaften und Öko-AktivistInnen, AnarchistInnen und KommunistInnen, Nonnen und Queers. Der Schwarm war ein Hauptmerkmal der frühen globalisierungskritischen Bewegung. 1997 wurde der Begriff benutzt, um die Zusammenarbeit verschiedener sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Organisationen um den zapatistischen Aufstand in Chiapas zu beschreiben. 1998 konnte die erfolgreiche Kampagne gegen das Multilaterale Investitionsschutzabkommen (MAI) über nationalstaatliche, sprachliche und andere Barrieren hinweg mobilisieren, ohne über eine zentralisierte oder zentralisierende Struktur zu verfügen. Die traditionellen Institutionen der Linken spielten zu Beginn der Bewegung nur eine vergleichsweise kleine Rolle. Die Verheißung von Seattle lag in der heterogenen Zusammensetzung der Bewegung und ihrer Fähigkeit, über verschiedene Arten von Grenzen hinweg zu kommunizieren und zu koordinieren. Waren Strategie und Taktik der Bewegung von der Idee des Schwarms gekennzeichnet, so hatte dies nur begrenzt mit einem starken politischen Bekenntnis zur Unabhängigkeit von Institutionen zu tun. Der Antiinstitutionalismus war vor allem Resultat der Hegemonie des Neoliberalismus. Um die Jahrhundertwende hatte dieser viele ›progressive‹ Kräfte effektiv kolonisiert: Zahlreiche sozialdemokratische Parteien, Gewerkschaften und Entwicklungs-NGOs hatten das Dogma der Alternativlosigkeit zum herrschenden System akzeptiert. Innerhalb dieser Institutionen bestanden deshalb nur wenige Möglichkeiten zur produktiven Auseinandersetzung für eine Bewegung, die lautstark verkündete, dass andere Welten wirklich möglich seien.

Die Verheißung der Gegenwart

Die Welt der Gegenwart ist eine andere. Der Neoliberalismus steckt in einer tiefen ideologischen und materiellen Krise, es haben sich auch real-existierende Alternativen herausgebildet. So bricht der Linksruck in Lateinamerika mit den Politiken des neoliberalen Washington Consensus, und die globalisierungskritischen Bewegungen selbst stellen die Frage, wie ein Schwarm institutionalisiert werden kann. Wie kann den vielfältigen Kämpfen der Bewegung eine permanente(re) Form gegeben werden? Wie kann Gegenmacht entstehen, ohne das zu opfern, was durch »Antimacht« erkämpft wurde? Wie basteln wir eine Multitude, ein »heterogenes soziales Subjekt, das zu politischer Aktion fähig ist« (Hardt und Virno)? Die ambitioniertesten Antworten auf diese Frage waren wohl die Caracoles und Juntas de Buen Gobierno der zapatistischen Bewegung, sowie das Weltsozialforum und dessen subglobale Manifestationen. Darüber hinaus findet sich heutzutage in den globalen Bewegungen eine größere Offenheit gegenüber Beziehungen zwischen Bewegungen und Institutionen (einschließlich politischer Parteien in Opposition und Regierung), die komplexer sind als bloße gegenseitige Äußerlichkeit. Natürlich sind die Beziehungen zwischen beispielsweise dem Movimento Sem Terra und Lulas PT in Brasilien, zwischen (post-)autonomen sozialen Bewegungen und der Partei Die Linke oder zwischen radikalen Gewerkschafts- und AntikriegsaktivistInnen in den USA und der Obama-Regierung äußerst unterschiedlich. Sie haben aber etwas gemeinsam: auf der Seite der ›konstituierten‹ Macht ein Eingeständnis, dass dem durch repräsentative Politik allein zu erreichenden Wandel Grenzen gesetzt sind; auf der Seite der Bewegungen die Einsicht, dass mit totaler Indifferenz gegenüber ›offiziellen‹ Politikformen nur wenig erreicht werden kann. Die die Rolle der Bewegungen wird darin gesehen, das ›konstituierende‹ Moment so lange wie möglich offen zu halten – als Praxis von Zerstörung und Schöpfung, als produktive, dynamische und im Prinzip unbegrenzte Kraft, die neue Logiken und Gesetze für unser Zusammenleben schafft. Die globalisierungskritische Bewegung hat immer mit radikalen Formen der Demokratie experimentiert. Heute geht dieser Prozess mit dem Versuch der Schaffung offener, manchmal vergänglicher Institutionen einen Schritt weiter. Der Erfolg dieses Experiments hängt auch davon ab, dass ein neues Verhältnis zu ›konstituierten‹ Formen institutioneller Macht gefunden wird. Ein derartiges Verhältnis könnte auf der Strategie von Richtungsforderungen basieren, also auf Forderungen, die kollektive menschliche Bedürfnisse und Begehren vermitteln und aus konstituierenden Prozessen entspringen. Beispiele solcher Forderungen sind die nach einem allgemeinen Grundeinkommen, unabhängig von der Notwendigkeit, die (eigene) Arbeitskraft verkaufen zu müssen, nach globalen BürgerInnenrechten oder nach Klimagerechtigkeit. Jede dieser Forderungen würde, sofern erkämpft, die Verheißung einer anderen Welt näher bringen. Natürlich hat niemand ein Monopol darauf, diese Forderungen zu formulieren oder zu bestimmen, was ihr Inhalt ist oder wie sie artikuliert werden. Vielleicht werden die Institutionen des Schwarms genau darin begründet werden: nicht in der Symphonie, sondern der Kakophonie der vielfältigen Artikulationen von Richtungsforderungen.