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Widerstand gegen die neoliberale Rentenreform in Russland

Von Anna Očkina

Am 14. Juni 2018 hat die Regierung der Russischen Föderation ein Gesetzesprojekt zu einer Rentenreform in das russische Parlament, die Duma, eingebracht. Es geht um eine schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre für Männer und 63 Jahre für Frauen. Nach derzeitigem Recht beträgt das Renteneintrittsalter für Frauen 55 und für Männer 60 Jahre. Das Projekt über die Veränderung des geltenden „Gesetzes über die gesetzlichen Renten in der Russischen Föderation“ wurde bereits vom Ausschuss für Arbeit, Sozialpolitik und Angelegenheiten älterer Menschen der Duma angenommen und auch von der Mehrheit der gesetzgebenden Organe in den Regionen anerkannt. Es erhielt Unterstützung von der Mehrzahl der Abgeordneten der Staatsduma sowie einer Reihe von Prominenten in Politik und Gesellschaft sowie populären Medienvertreter*innen.

Auch auf der regionalen und lokalen Führungsebene gab es nur vereinzelt Kritik. Der Gouverneur des Irkutsker Oblast Sergej Lefčenko erklärte, dass er eine ablehnende Erklärung bezüglich des Gesetzesprojektes an die Regierung vorbereite. Der amtierende Chef des Oblast Magadan Sergei Nosov wandte sich an Moskau mit der Bitte, in seiner Region die Erhöhung des Rentenalters nicht vorzunehmen. Diese Region im Nord-Osten Russlands zeichnet sich durch besonders ungünstige Lebensbedingungen aus. Unerwarteter Weise forderte auch der Stadtrat von Abakan (Republik Chakassien im Süden Sibiriens) vom Obersten Sowjet Chakassiens die Ablehnung des Gesetzesprojektes.

Noch vor kurzer Zeit wurde die Idee der Erhöhung des Rentenalters als unpopulär und gar „explosiv“ betrachtet. Am 27 Oktober 2005 reagierte Wladimir Putin im staatlichen Fernsehen kritisch auf derartige Vorstellungen und sagte: „Solange ich Präsident bin, wird eine solche Entscheidung nicht fallen.“ Der gegenwärtige Premierminister Russlands Dimitri Medwedew erklärte in seiner Zeit als Präsident (2008-2012) am 26. April 2012 öffentlich, dass man eine Rentenreform auch ohne Erhöhung des Renteneintrittsalters vornehmen könne.

Und nun, drei Monate nach den Präsidentschaftswahlen, die die offizielle Propaganda als Ausdruck beispielloser Unterstützung des Präsidenten durch das Volk dargestellt hatte, bringt die Regierung eine der härtesten der möglichen Varianten in die Diskussion. Da die Staatsmacht sehr in Eile ist, werden anstelle von Diskussion oder Überzeugung Reklametricks angewandt, und dabei nicht einmal die ehrenwertesten.

Es werden auch Versuche gemacht, diejenigen, die schon in Rente sind oder gerade in Rente gehen auf die Seite der Regierung zu ziehen. Der Finanzminister und gemeinsam mit ihm eine Reihe politischer Funktionäre, Abgeordnete der Duma sowie Journalist*innen erzählen viel und ausführlich darüber, wie vorteilhaft das neue Rentensystem für Bestandsrentner*innen sein wird, und wie schnell bestehende Renten angehoben werden könnten.

Aber sogar die der Staatsmacht nahestehende Föderation unabhängiger Gewerkschaften Russlands (FNPR) kritisierte das Projekt scharf und führte im ganzen Lande eine Reihe von Protestveranstaltungen durch. Dabei handelt es sich um die Nachfolgeorganisation der sowjetischen Gewerkschaften mit 122 Mitgliedsorganisationen. Davon sind 40 landesweite und 82 regionale Gewerkschaften. Vier weitere auf föderaler Ebene tätige Gewerkschaften arbeiten mit der FNPR auf vertraglicher Grundlage zusammen. Die Organisation vereinigt mit 20 Millionen Mitgliedern etwa 95 Prozent aller Gewerkschafter*innen in Russland. Die Mehrzahl von ihnen ist allerdings passiv, sie geraten quasi automatisch in die Gewerkschaft, weil die Gewerkschaftszellen der FNPR in der überwiegenden Zahl der staatlichen Betriebe die einzigen derartigen Strukturen sind. Umso überraschender ist der sich jetzt regende Widerstand.

Die hinsichtlich der Mitgliederzahl zweitgrößte Gewerkschaft, die „Konföderation der Arbeit Russlands“ (KTR) sammelte innerhalb weniger Tage mehr als zweieinhalb Millionen Unterschriften unter eine Petition gegen die Rentenreform, und die Zahl der Unterschriften wächst weiter. Am 5. Juli übergaben die Führer und Mitarbeiter*innen der KTR mithilfe von Abgeordneten der Partei „Gerechtes Russland“ die Unterschriften in der Staatsduma. Die Petition wandte sich an den Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin, an den Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew, die Vorsitzende des Föderationsrates Valentina Matvienko und den Sprecher der Duma Vjačeslav Volodin. Aber schon am 6. Juli sagte Sergej Vostrecov, Führer einer anderen Gewerkschaftsvereinigung, der „SOCPROF“, Mitglied der Duma und des Dumaausschusses für Arbeit, Sozialpolitik und Angelegenheiten älterer Menschen der Presse, dass einige Gewerkschaften, die sich bisher gegen die Reform ausgesprochen hatten, jetzt beginnen ihre Position zu verändern, weil sie sich mit der Sache befasst hätten und verstehen, dass man zu einer Konsolidierung übergehen müsse. Die unversöhnliche Position der KTR und ihres Führers Boris Kravčenko erklärte Kostrecov damit, das sie auch aus dem Ausland finanziert werde.

Eines der wichtigsten Sprachrohre der offiziellen Propaganda, der Generaldirektor der russischen internationalen Nachrichtenagentur „Rossija segodnja“ (Russland heute) und Stellvertreter des Generaldirektors der allrussischen staatlichen Radio- und Fernsehanstalt (VGTK) Dimitri Kiseljov nannte am Sonntag im wichtigsten Fernsehkanal des Landes die Übergabe der Unterschriften in der Duma eine Farce. Er erklärte, dass die Ursache der frühen Sterblichkeit von Männern in Russland die Folge der Missachtung von Gesundheit und Sicherheit seitens der Bürger*innen selbst sei.

Außerdem wiederholt die offizielle Propaganda beständig, dass die ausgewiesenen Oppositionellen Aleksej Naval‘nyj und Michail Chodorkowskij, die früher Anhänger der Erhöhung des Rentenalters waren, die massenhafte Unzufriedenheit versuchen auszunutzen, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Nur deshalb seien sie jetzt Gegner dessen, was sie selbst unlängst noch vorschlugen. Das ist jedoch ein Eigentor, weil die Staatsmacht nun nicht nur anerkennt, dass Pläne zur Erhöhung des Rentenalters früher von Feinden Russlands vorgeschlagen wurden, sondern erinnert die Bürger*innen auch daran, dass bei allen Wahlen der letzten sechs Jahre sie gerade deshalb für die bestehende Staatsmacht gestimmt hatten, damit diese derartige Reformen nicht zulassen würde.

Stellt man die Entwicklung der letzten Zeit in Rechnung, so scheint hinter den Kulissen dieser ganzen Geschichte seitens des Großkapitals ein starker Druck auf die russische Regierung ausgeübt zu werden. Die Wirtschaftssanktionen des Westens schädigten nicht nur die russische Ökonomie, sondern auch die großen russischen Kapitalisten, die beständig gewaltige Summen aus dem Land transferieren. Die Unsicherheit bezüglich des im Ausland angelegten Kapitals treibt die größten Eigentümer dazu, auf den Staat Einfluss zu nehmen und Kürzungen in den Sozialausgaben zu verlangen, um staatliche Mittel für die Unterstützung der größten Unternehmen nutzen zu können.

Für eine Rentenreform wird meist wie folgt argumentiert:

  1. Im Ergebnis der wachsenden Lebenserwartung stieg der Anteil von Rentner*innen an der Gesamtbevölkerung, was die Auffüllung des Rentenfonds erschwert.
  2. Das Defizit des Rentenfonds wächst. Sollte das gegenwärtige Renteneintrittsalter beibehalten werden, wäre die Erhöhung der Renten entsprechend der Preis- bzw. Einkommensentwicklung nicht möglich und es müssten sogar Rentensenkungen in Betracht gezogen werden.
  3. Die internationale Praxis. Alle entwickelten Staaten erhöhen bzw. erhöhten bereits das Rentenalter: die Gesellschaft verändert sich, die Ökonomie verändert sich, und es verändert sich auch das Rentenalter.

Die Opposition kritisiert die Reformen in unterschiedlicher Weise. Die Gewerkschaften weisen darauf hin, dass das Gesetzesprojekt dem Art. 55(2) der Verfassung der Russische Föderation widerspreche, der die Annahme von Gesetzen, die die Lage von Bürger*innen verschlechtern, verbietet. Dort heißt es: „In der Rußländischen Föderation dürfen keine Gesetze erlassen werden, die die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers aufheben oder schmälern.“ Aleksej Naval‘nyj stellt im Netz Berechnungen der finanziellen Verluste der Bürger*innen in Verbindung mit der Erhöhung des Pension des Rentenalters vor. Einige Linke, zum Beispiel Boris Kagarlickij vom Institut für Globalisierung und soziale Bewegung, aber auch der Duma-Abgeordnete Oleg Schein, der Führer der Bewegung „Bürgerschaftliche Solidarität“ Georgi Fjodorov und andere betonen die ökonomische und soziale Unzweckmäßigkeit der Reformen und bezeichnen diese als den Entwicklungsbedürfnissen von Ökonomie und Gesellschaft nicht entsprechend.

Das Defizit des Rentenfonds im Jahr 2018 beträgt 257 Milliarden Rubel (etwa 3,6 Mrd. Euro). Aber der geplante Überschuss des Staatshaushaltes 2018 beträgt 1,3 Billionen Rubel (etwa 18 Mrd. Euro). Der Sozialfonds der Russischen Föderation, der unter anderem auch zur Absicherung der Kofinanzierung freiwilliger Rentenversicherungen und Abdeckung des Defizits des Rentenfonds geschaffen wurde, hatte im Juli 2018 eine Höhe von 4,839 Billionen Rubel (etwa 67,8 Mrd. Euro). Daher sind die Verweise auf das Fehlen von Mittel für die Abdeckung des Defizits des Rentenfonds unzutreffend.

Genauso wenig überzeugend ist das Argument bezüglich des Wachstums der Lebenserwartung und der Belastung der arbeitsfähigen Bevölkerung. Statistische Werte zur Lebenserwartung hängen sehr stark von der Kindersterblichkeit ab und diese hat sich von 15,3 im Jahre 2000 auf 5,6 im Jahre 2017 (jeweils bezogen auf 1000 lebend geborene pro 1000 Einwohner) verringert. Daher wuchs die Lebenserwartung für ältere bedeutend weniger als die Regierung behauptet.

Ungefähr 40 % der russischen Altersrentner*innen arbeiteten im Jahre 2018 weiter und zahlen dementsprechend Steuern und Rentenbeiträge. Demzufolge sieht das Verhältnis von Rentner*innen und Arbeitenden keinesfalls so problematisch aus, wie erklärt wird.

Bedeutend erträglichere oder ertragsreichere Quellen für die Abdeckung sozialer Aufwendungen könnten eine progressive Einkommensteuer, die Erhöhung von Steuern auf Kapital sowie die Einführung einer gleitenden Skala sozialer Abgaben und das Verbot des Kapitaltransfers in Off-shore-Zentren gerade für Staatsunternehmen sein. Derartige Vorschläge diskutiert die Regierung nicht.

Man darf auch nicht vergessen, dass die Altersrenten in Russland eine sehr wichtige soziale Funktion haben. Sie sind unter den Bedingungen eines allgemein niedrigeren Niveaus von Arbeitseinkommen eine besondere Form eines Zuschlages in Würdigung eines langen Arbeitslebens. So haben die Beschäftigten die Möglichkeit, ihre Kinder zu unterstützen. Das ist mehr als aktuell, weil in Russland in der Mehrzahl der Unternehmen die Einstiegslöhne für junge Mitarbeiter*innen sehr niedrig sind. Außerdem beenden russische Frauen hinreichend oft ihre berufliche Tätigkeit, um ihre Enkel zu betreuen. Und die Ursache ist hier nicht in einer besonderen Kinderliebe russischer Großmütter zu suchen, sondern in den niedrigen Einkommen junger Familien und der geringen Qualität von Einrichtungen für Kinder im Vorschulalter. Somit ist das niedrige Renteneintrittsalter für die russische Ökonomie keine Belastung sondern ihr „Zauberstab“.

Um zu verstehen, welche Perspektiven der Kampf gegen die Rentenreform hat, muss man die Erfahrungen russischer Bürger*innen mit sozialen Protesten in Rechnung stellen. Protest von unten in Russland wird vor allen Dingen von konkreten Maßnahmen des Staates provoziert, die die materielle Lage der Lohnabhängigen betreffen. Die Kraft dieses Impulses hängt davon ab, wie schnell sie die Verschlechterungen spüren. Die Unzufriedenheit besitzt ein geringes Potenzial für die Selbstorganisation und längerfristige Konsolidierung einer solchen Bewegung. Prinzipieller Protest, der auf die Abschaffung oder die Verhinderung der Annahme von antisozialen Gesetzen und Maßnahmen gerichtet ist, wird in Russland im Grundsatz von den Duma-Parteien und den offiziellen Gewerkschaften „privatisiert“.

Die Masse der sozialen Proteste in Russland wendet sich nicht gegen, sondern eher an den Staat. Es ist eine energische Bitte: ‚Erfüllt eure sozialen Verpflichtungen, übt auf die regionalen Führungen oder auf die Arbeitgeber Druck aus, schafft Ordnung, beseitigt Unzulänglichkeiten‘. Das Ziel der Mehrheit der Protestaktionen ist es, ein bedrohliches Bild für die regionalen und föderalen Führungen zu zeichnen. Die Bürokraten in den Regionen fürchten sich davor, dass das Bild der Unzufriedenheit des Volkes sie auf der föderalen Ebene diskreditiert. Darum streben sie danach, aktive Bekundung von Unzufriedenheit zu unterbinden und Informationen über sowie öffentliche Resonanz von Protestaktionen zu verhindern. Wenn das nicht gelingt, versuchen die regionalen Strukturen zu verhandeln und die Forderungen der Bürgerinnen und Bürger in einer Weise zu erfüllen, dass es nicht die regionalen Eliten schädigt. Protest in Russland formiert sich auf eine solche Art und Weise, dass die Initiator*innen von vornherein auf eine Übereinkunft mit der Macht orientiert sind, sodass mit dem Beginn der Verhandlungen die Proteststimmung erstickt wird und die gerade entstandene Widerstandsbewegung zerfällt.

Natürlich gibt es Proteste, die von der nicht-systemischen Opposition organisiert sind, aber sie sind entweder von vornherein schwach, oder sie schaffen keine stabile Bewegung. Die am besten organisierten Massenproteste sind die der Kampagne des „Fonds zum Kampf gegen die Korruption“ (FBK) von Aleksej Naval‘nyj, die abgestimmt verlaufen, in der Mehrheit der Regionen des Landes wirksam sind und Tausende Teilnehmer*innen vereinigen. Aber auch sie bestimmen im Augenblick nicht das politische Klima Russlands.

Wenn der Staat nun eine der am wenigsten populären Reformen versucht zu realisieren, hat er zweifelsfrei die Möglichkeit massenhafter Unzufriedenheit und offener Proteste vorausgesehen, und hat Varianten des Gegensteuerns entwickelt. Diese Berechnung ist offensichtlich auf folgende Faktoren aufgebaut:

Erstens, die Kontrolle über die Kräfte, die mehr oder weniger massenhafte Mobilisierung in der Gesellschaft organisieren könnten. Das sind in erster Linie die Kommunistische Partei (KPRF) und die FNPR mit ihren AktivistInnen in allen Regionen des Landes. Die Führung der FNPR hatte fast sofort erklärt, dass sie dem Projekt zustimmen würde, wenn das Renteneintrittsalter für Frauen um fünf, nicht um acht Jahre erhöht werden würde. Die KPRF hat eine Kampagne zur Durchführung eines Referendums bezüglich der Rentenreform in Gang gesetzt. Aber schon im Zusammenhang mit der Rücknahme eines unpopulären Gesetzes 2005 war klar, dass es in Russland niemanden möglich ist, ohne Einverständnis der Regierung ein Referendum durchzuführen.

Zweitens wurden einige Erwartungen in die Fußballweltmeisterschaft und die damit verbundene allgemeine Euphorie gesetzt; zudem wurde erwartet, dass die Mischung von Neuigkeiten zum Fußball mit propagandistischen Sendungen in den staatlichen Fernsehkanälen seine Wirkung tun würde.

Drittens wurde auch der Charakter von Protesten im Land berücksichtigt. In den Massenmedien und den sozialen Netzwerken wird beständig die Möglichkeit der Milderung einzelner Parameter der Erhöhung des Renteneintrittsalters diskutiert, genauso wie die Wahrscheinlichkeit des Einflusses Wladimir Putins als gerechter Zar, der die Vorschläge der Regierung zurückweist. Es ist davon auszugehen, dass die Reformen nicht abgelehnt werden. Erleichterungen sind möglich, aber die Regierung wird eher den Weg der Desintegration des Protestes und seiner Manipulation durch eine zahme Opposition gehen.

Die am meisten organisierten Proteste unter Führung der nicht-systemischen Opposition werden wie gewöhnlich relativ hart unterdrückt werden.

Derartige Modelle funktionierten bisher nicht nur einmal, aber sie sind keine unbedingte Garantie dafür, dass die Staatsmacht mit den Protesten auch dieses Mal zurechtkommt. Die Verluste für Menschen, die eigentlich in relativ kurzer Zeit in die Rente gegangen wären, sind verständlich, vorhersehbar und spürbar. Und obwohl das am meisten dem Staat gegenüber loyale soziologische Forschungsinstitut „Allrussländisches Zentrum zum Studium der öffentlichen Meinung“ (VCIOM) über die ein Sinken der emotionalen Aufregung um die Rentenreform berichtet, sprechen andere soziologische Einrichtungen davon, dass die Weltmeisterschaft in nur unbedeutendem Maße die Bürger*innen von der Rentenreform abgelenkt hat. Die Unzufriedenheit mit der Reform wird von 80-90 Prozent der Bevölkerung geteilt. Gleichzeitig fallen die Umfragewerte des Ministerpräsidenten und des Präsidenten beständig.

Und auch um die gelenkte Opposition steht es nicht gut. Die Unterstützung der Regierung durch die KPRF oder Gewerkschaften macht sie in einem Maße unpopulär, dass sie nicht länger die sozialen Proteste manipulieren und steuern können. Der einzige Ausweg für die zahme Opposition ist zu erklären, dass sie mit der Regierung nicht einverstanden sei, und mit der Staatsmacht über Erleichterungen zu verhandeln und das der Gesellschaft als ihre Errungenschaften zu verkaufen. Die Unzufriedenheit verschwindet damit nicht, die soziale Spannung wird nicht geringer. Wenn sich in einem solchen Moment politische Kräfte finden, die aufstehen und grundsätzliche Forderungen formulieren, könnten sie politisches Gewicht erlangen. Die nicht-systemische Opposition, vor allen Dingen die linke, die im Augenblick hinreichend schwach und gespalten ist, erhält in diesem Falle eine außerordentliche Chance.

Viertens, eine Ressource für politische Kräfte, die nach einem eventuellen Nachgeben der Regierung oder nach der Annahme das Gesetzes versuchen würden, soziale Proteste zu organisieren, können die regionalen Zellen der KPRF oder der FNPR sein, die sich unter dem Druck von unten radikalisieren könnten.

Die Proteste haben bereits begonnen. Bisher fanden schon 95 Aktionen statt, davon 45 am 1. Juli. Die größten Kundgebungen waren in Omsk (5000 TeilnehmerInnen), Perm, Astrachan, Nowosibirsk, Tscheljabinsk (jeweils 2000). Es ist auffällig, dass es dabei keinen einheitlichen Organisator gab. Die Proteste werden von einer Welle von unten, die in jeder Stadt von anderen Kräften bestimmt wird, getragen. Bis zum 2. Juli wurden 60 weitere Aktionen beantragt, 20 wurden bereits bestätigt. Die ganze Woche vom 2. bis zum 9. Juli fanden Protestaktionen statt, die in unterschiedlichen Städten zwischen 50 und 2-3000 Menschen erfassten.

Allen Reaktionen nach zu urteilen hat die Gesellschaft dadurch bei der Staatsmacht einen gewissen Eindruck hinterlassen. Ursprünglich war die erste Lesung des Gesetzesprojektes in der Duma schon für den 19. Juli vorgesehen, doch am 6. Juli wurde in den Massenmedien berichtet, dass sie auf die Herbst-Sitzung vertagt worden sei.

Die Rentenreform, die als Vollendung und Konsolidierung der neoliberalen Reformen in Russland gedacht war, entwickelt sich schon jetzt für die Regierung zu einer moralischen Katastrophe und kann zu einer politischen Katastrophe werden. Russland wird nicht auf die Straße gehen, wie das in Tunesien, Ägypten und vor kurzem in Armenien geschah. Das ist nicht der russische Stil. Der Protest gegen die Rentenreform kann fürs erste totlaufen, kann mit kleinen Geschenken der Regierung und von speziell ernannten Oppositionellen beruhigt werden. Aber die von diesen Protesten hervorgebrachte Energie der Unzufriedenheit wird bleiben und wird zu möglicherweise unbedeutenden Anlässen wieder hervortreten. Es werden sich Führer des Protestes entwickeln, sie werden lernen und es werden sich neue Proteste formieren. Hinreichend lange wird der Protest reaktiv sein, wird Formen der Antwort auf das Handeln der Regierung annehmen, aber schrittweise wird er Selbstständigkeit erlangen, und wird die Kraft einer politischen Bewegung annehmen. Wie dramatisch und konfliktreich dieser Prozess verlaufen wird, wie radikal seine endgültige Form sein wird, hängt vom Verhalten der Staatsmacht ab, der systemischen und nicht-systemischen Opposition, aber auch von der Geschwindigkeit des politischen Erwachens und der politischen Reifung der Bürger*innen Russlands.

Aus dem Russischen übersetzt von Lutz Brangsch.