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Austerität und Corona: Wer zahlt für die Krise?

Von Moritz Warnke

Ausgelöst durch die Corona-Krise stehen Bund und Länder vor einem historisch hohen Finanzierungsbedarf. Wie hoch sind die zu bewältigenden Kosten im Vergleich zu vorangegangenen Krisen? Wann muss „die Rechnung“ beglichen werden? Und wie kann linke Politik unter diesen Bedingungen aussehen?

Finanzbedarf und bisherige Kreditaufnahme

Im Rahmen der Corona-Krise gibt es für den Staat erheblichen Finanzierungsbedarf, der sich im Wesentlichen aus drei bis fünf Säulen speist: erstens deutlich verminderte Steuereinnahmen aufgrund der Reduzierung der Wirtschaftstätigkeit, zweitens die Finanzierung von Konjunkturprogrammen und drittens die Absicherung der Kreditfähigkeit von Unternehmen über staatliche Bürgschaften bzw. über KfW-Kredite. Je nach dem wie lange die Krise dauert, könnte eine Stützung der Sozialversicherungssysteme den über Steuern oder Kredite zu deckenden Finanzierungsbedarf in einer vierten Säule erhöhen. Hinzu kommen in einer fünften Säule Kreditverpflichtungen für den deutschen Anteil (etwa 100 Milliarden Euro) im Rahmen des neuen, 750 Milliarden Euro umfassenden EU-Programms „Next Generation EU“, mit dem die Corona-Krise auf europäischer Ebene bearbeitet werden wird und auf die in diesem Papier nicht näher eingegangen wird (siehe hier für eine Kritik [1] bzw. Alternativen [2]).

Steuermindereinnahmen[1]: Gegenüber der letzten Steuerschätzung aus dem Herbst 2019 wird laut Steuerschätzung von Mai 2020 [3] für dieses Jahr mit Mindereinnahmen von 98,6 Milliarden Euro gerechnet (davon Bund: 44Mrd., Länder: 35Mrd., Gemeinden: 15,6 Mrd [4].). Damit hätte der deutsche Staat einen Verlust von 10,2% seiner Steuereinnahmen gegenüber dem realen Steueraufkommen aus dem Vorjahr zu verzeichnen. Für die Jahre 2021 bis 2024 wird gegenüber der Steuerschätzung von 2019 mit jährlichen Steuermindereinnahmen von 50-60 Milliarden Euro gerechnet.

Konjunkturprogramme: Laut Konjunkturprognose des Sachverständigenrats vom 23.6.20 [5] wird die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik im Jahr 2020 ein Negativwachstum von -6,5% erleben (Euro-Raum: -8,5%). Damit wird das Land den größten Wirtschaftseinbruch seit dem 2. Weltkrieg erleben. Aufgrund von Nachholeffekten und der Konjunkturprogramme wird für das Jahr 2021 ein Wachstum von 3,8% erwartet (Euro-Raum: 6,2%). Sowohl kalkuliertes Negativwachstum als auch der Erholungseffekt beruhen auf einem Szenario, in dem es keine größere zweite Infektionswelle geben wird, sondern lediglich lokal bzw. regional eingrenzbare Infektionsherde (es kann also durchaus als „Best-Case-Scenario“ verstanden werden).

Das am 3. Juni beschlossene Konjunkturprogramm hat einen Umfang von etwa 130 Milliarden Euro. Es handelt sich um ein breites Maßnahmenpaket mit teilweise richtigen, aber überwiegend am Interesse des Kapitals ausgerichteten Maßnahmen. Im Ganzen geht es  um eine Modernisierung des Standortes auf Kosten der Steuerzahler*innen, ohne die Struktur der Wirtschaft insgesamt zu verändern. Die Maßnahmen sollen hier nicht im Einzelnen aufgeführt und bewertet werden, hierzu sei auf andere Einschätzungen, z.B. aus der Bundesgeschäftsstelle der LINKEN [6], verwiesen. Wichtig für die anstehenden Auseinandersetzungen um einen neuen Tarifvertrag im ÖPNV ist der folgende Hinweis aus dieser Einschätzung: Während die Einnahmeausfälle vom Verband der Verkehrsunternehmen auf 5-7 Milliarden Euro geschätzt werden, sind in dem Paket lediglich einmalig 2,5 Milliarden Euro zum Ausgleich von Einnahmeausfällen vorgesehen. Ob der danach noch offene Fehlbetrag über Hilfen der Länder aufgefangen werden kann, scheint derzeit offen.

Insgesamt lag das Volumen der gesamtstaatlichen (Bund, Länder und Gemeinden) haushaltswirksamen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen für das Jahr 2020 laut Bundesregierung bereits im April bei rund 453 Milliarden Euro [7]. Hinzukommen weitere 24 Milliarden Euro aus dem Anfang Juli beschlossenen zweiten Nachtragshaushalt. Die Neuverschuldung allein des Bundes liegt bei 217,8 Milliarden [8]. Damit macht die Bundesregierung zur Finanzierung des Konjunkturprogramms bei gleichzeitig einbrechenden Steuereinnahmen so viel Schulden wie noch nie in einem Haushaltsjahr. Zum Vergleich: 2010, dem bisherigen Rekordjahr waren es im Rahmen der Finanzkrise 44 Milliarden.

Quelle: Tagesschau, “Nachtragshaushalt mit Rekord-Schulden” [9]

Garantien/Bürgschaften: Zu der unmittelbar haushaltswirksamen Schuldenaufnahme von 217,8 Milliarden kommen Garantien/Bürgschaften in Höhe von etwa 820 Milliarden [7] hinzu, die zur Absicherung der Kreditfähigkeit von Unternehmen gegeben werden – und wo heute offen ist, ob und in welchem Umfang sie in Anspruch genommen werden. (So lange die staatliche Absicherung der Kredite nicht in Anspruch genommen wird, werden die Bürgschaften nicht auf die Staatsverschuldung angerechnet.) Zum Vergleich: Das Bankenrettungspaket der Bundesregierung in der Finanzkrise umfasste 480 Milliarden Euro [10] an Bürgschaften.

Stützung der Sozialversicherungssysteme: Die Bundesagentur für Arbeit (BA) rechnet für 2020 in der Spitze mit 8 Millionen Menschen in Kurzarbeit, im Jahresdurchschnitt könnten es 2,6 Millionen sein. Zum Vergleich: In der Finanzkrise 2009 waren es 1,1 Millionen im Jahresdurchschnitt und 3,4 Millionen in der Spitze. Allerdings waren damals vor allem sehr gut bezahlte Jobs in der Industrie betroffen, dieses Mal sind es auch schlecht zahlende Branchen. Die Rücklagen der BA betrugen Ende 2019 noch 25,8 Milliarden Euro. Durch das Abfedern der Krise auf dem Arbeitsmarkt über Kurzarbeit und leicht erhöhte Arbeitslosigkeit wird die Arbeitsagentur 2020 einen prognostizierten Verlust von 30,5 Milliarden Euro anhäufen. Für 2021 schätzt die BA den Verlust auf 4,4 Milliarden, für 2022 auf 1,3 Milliarden. Nach derzeitiger Lageeinschätzung rechnet die BA also insgesamt mit 36,2 Milliarden Corona-Kosten [11]. Auch die gesetzlichen Krankenkassen weisen auf sich abzeichnende Finanzierungsprobleme hin und fordern Unterstützung aus Steuermitteln, wenngleich hier deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Krankenkassen bestehen. Die Bundesregierung hat im Rahmen der Einigung auf das Konjunkturpaket vom 3. Juni  verabredet, die Beiträge zu den Sozialversicherungen bei 40% zu deckeln und Mehrkosten ggf. aus Steuern finanzieren zu wollen. Sollte es zu einer Verschlechterung der Wirtschaftslage gegenüber den derzeitigen Konjunkturprognosen kommen (z.B. durch eine zweite Welle), könnte hier ein relevanter Posten für den Bundeshaushalt entstehen.

Schuldenaufnahme in den Bundesländern: Auch in den Bundesländern wurden in Ergänzung zum Bund eigene Corona-Schutzschirme aufgespannt. Dabei zeichnet sich ein uneinheitliches Bild ab. Das Volumen der Kredite und die vorgesehenen Tilgungspläne unterscheiden sich stark. In einigen Bundesländern wurde die Nettokreditaufnahme unter Rückgriff auf die Ausnahme bei Naturkatastrophen begründet, in anderen unter Rückgriff auf die Ausnahme in „Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“. Zudem wird ein Teil der Kreditaufnahme über die Konjunkturkomponente begründet. In vielen Bundesländern wurden Sondervermögen für die Corona-Schutzschirme angelegt, was grundsätzlich die Position des Parlaments schwächt, weil die konkrete Verausgabung der Mittel damit lediglich noch im Haushalts- bzw. Hauptausschuss bewilligt werden muss. In einigen Bundesländern wurden die Sondervermögen teilweise aus anderen Rücklagen oder aus eingeplanten Haushaltsüberschüssen bestückt, sodass die Nettokreditaufnahme nicht deckungsgleich mit dem Umfang der Corona-Programme ist. Beispiel Niedersachsen: Hier sollen eine Milliarde Euro aus Einsparungen bzw. geplanten Überschüssen finanziert werden, eine Kreditermächtigung von 7,8 Milliarden Euro tritt hinzu. Außerdem kommen teilweise Garantien und Bürgschaften für Kredite an Unternehmen hinzu, die erst auf die Verschuldung angerechnet werden, falls die Bürgschaft in Anspruch genommen werden muss. Auch dieses Instrument wird sehr unterschiedlich verwendet. Hamburg hat diesen Kreditrahmen auf 3 Milliarden erhöht, in Bayern sind es zusätzlich zu der eingeräumten Kreditermächtigung von 40 Milliarden noch einmal 26 Milliarden für Bürgschaften und Kreditgarantien. In Mecklenburg-Vorpommern treten zu den 0,7 Milliarden Euro an Nettokreditaufnahme 0,4 Milliarden an Garantien hinzu.

Zu den Belastungen der anstehenden Tilgungszahlungen ist in einigen Bundesländern in den nächsten Jahren erheblicher Spardruck zu erwarten, weil die aufgenommenen Kredite die bisher geschätzten Einnahmeausfälle nicht vollständig kompensieren werden. Beispiel Berlin, wo die Senatsverwaltung für Finanzen bilanziert [12]: „Über den Zeitraum 2020 bis 2023 summieren sich die Einnahmeausfälle gegenüber dem Haushalt bzw. der Finanzplanung auf rund 8,35 Mrd. Euro.“ Dem steht eine coronabedingte Nettokreditaufnahme von insgesamt 6 Milliarden Euro gegenüber, womit eine Deckungslücke in der bisherigen Finanz- und Investitionsplanung für den Zeitraum 2020-2023 von 2,35 Milliarden Euro entsteht.

Im Folgenden eine Übersicht über die ermöglichte Nettokreditaufnahme in den Ländern. Dazu ist anzumerken, dass diese nicht deckungsgleich ist mit dem Volumen der Corona-Programme in den Ländern, weil erstens, wie oben beschrieben, in einigen Ländern zusätzlich bisherige Rücklagen oder geplante Haushaltsüberschüsse verwendet werden und zweitens diese Kreditermächtigungen eine (vorläufige) Obergrenze darstellen, die u.U. nicht ausgeschöpft werden muss. Ein qualitativer Vergleich der (kreditfinanzierten) Schutzschirme und Wirtschaftsprogramme der Länder wäre interessant, ist an dieser Stelle aber nicht zu leisten. Dass das europäische Verbot der wirtschaftlichen Beihilfe für Unternehmen stark gelockert ist, könnte jedenfalls auch Chancen für linke Wirtschaftspolitik im Kleinen eröffnen.

Quellen: Einwohner und BIP (2019): Statistisches Bundesamt, Kreditpläne: eigene Recherche

* konjunkturabhängig: bei positiver Konjunkturkomponente 15%, bei negativer 5% der Gesamtsumme pro Jahr

** Die bisherigen Maßnahmen wurden aus Rücklagen finanziert. Es zeichnet sich eine Kreditaufnahme ab, deren Höhe noch offen ist. Das rot-rot-grüne Kabinett hat sich am 14.7.20 auf eine Kreditaufnahme über 1,82 Milliarden Euro verständigt, braucht hierzu aber noch die Unterstützung der CDU im Parlament. vgl. MDR 2020

*** 0-30 Jahre ab 2021, wobei eine Tilgungsverpflichtung erst ab 2031 greift, dann jedoch in einem festen Plan bis spätestens 2051

Quelle: Tabelle oben, eigene Berechnung

Quelle: Tabelle oben, eigene Berechnung

Eine neue Phase der Staatschulden wird eingeleitet

Wie schon in der Finanzkrise 2009 erweist sich die deutsche Politik als ideologisch flexibel – auch die neoliberal und konservativ geprägten Parteien tragen in der Krise einen keynesianisch orientierten Staatsinterventionismus mit – und selbst Hardcore-Liberale wie Christian Lindner rufen in der Krise mal wieder nach der Intervention des Staates. Und das Bundesfinanzministerium stellt hinsichtlich der jahrelang verteufelten Staatsverschuldung klar [13]: „Schulden von heute sind die Steuereinnahmen von morgen.“ Wie schon in der Krise 2009ff ist im Rahmen der Corona-Krise mit einer deutlichen Erhöhung der Staatsverschuldung zu rechnen. Die Staatsverschuldung in Deutschland ist – anders als die INSM uns regelmäßig glauben machen will – eben nicht das Ergebnis von Sozialausgaben, mit denen wir „über unsere Verhältnisse“ leben, sondern lassen sich in der Regel auf gesellschaftliche Großkrisen oder bewusste Entscheidungen des Staates zur Einnahmenreduktion durch Steuersenkungen zurückführen. So lässt sich der bisherige Anstieg der Staatsverschuldung in der Bundesrepublik im Wesentlichen in vier Phasen unterteilen: eine erste Phase in Folge der 1. Ölpreiskrise ab der 2. Hälfte der 1970er Jahre, eine zweite Phase im Rahmen der Deutschen Einheit und ihrer Folgekosten, eine dritte Phase induziert durch die Steuersenkungen der rot-grünen Bundesregierung 2002-2006 und eine vierte Phase im Rahmen der Finanzkrise 2009ff.

Quelle: Axel Troost, “Hintergrund: Staatsverschuldung in Deutschland” [14]

Angesichts des oben dargestellten Finanzbedarfs ist davon auszugehen, dass nun eine fünfte Phase im Rahmen der Corona-Krise hinzutritt. Aber dieses Mal sind die Koordinaten anders, denn zum ersten Mal werden die Kredite unter Bedingungen der Schuldenbremse aufgenommen.

Corona-Krise als Deckfarbe für bereits bestehende Krisen: Wird das Austeritätsregime der Schuldenbremse saniert?

Die Corona-Krise überstrahlt derzeit drei Krisen, die derzeit ebenfalls – verdeckt – mitverhandelt werden: Erstens eine ohnehin seit Herbst 2019 beginnende Wirtschaftskrise, bei der die EZB kaum mehr Möglichkeiten hat, über Zinssenkungen Konjunkturimpulse zu setzen. Die EZB hatte daraufhin bereits im Herbst 2019 wieder ihr Anleiheprogramm hochgefahren. Zweitens die Krise der Kommunalfinanzen (Stichwort Pleite-Kommunen und kommunale Altschulden). Drittens eine Investitionskrise, besser bekannt als Investitionsstau. Diese Krise führte dazu, dass 2019 selbst von Kapitalseite die Schuldenbremse in Frage gestellt wurde [15], weil sie den Standort gefährde, weil anders als erhofft, statt bei den Sozialausgaben, bei den Investitionen gespart wurde. An dieser Front wird nun „Druck rausgelassen“. Im Ergebnis dürfte die Schuldenbremse mit Blick auf den politischen Betrieb wieder etwas fester im Sattel sitzen. Die Investitionen wurden nun zumindest in Teilen vorgenommen, die gesetzlich geforderten Tilgungspläne werden entsprechenden Druck auf die Sozialausgaben und die öffentliche Daseinsvorsorge machen. Anders könnte die Sache im „Alltagsverstand“ vieler Menschen aussehen. Denn hier dürfte vor allem hängen bleiben, dass der Staat sich sehr wohl verschulden kann, um „wirklich wichtige Dinge“ auch bei ausbleibenden Einnahmen zu finanzieren.

Ob und wie die Krise der Kommunalfinanzen und die Altschuldenfrage gelöst werden, ist derzeit offen. Im Konjunkturpaket wurden partielle Zugeständnisse gemacht, aber eine systematische Lösung noch von der Union blockiert. Vielleicht gelingt es dem SPD-Finanzminister jetzt, wo die Große Koalition mit Milliarden nur so „um sich wirft“, ein Regelung für die Altschulden durchzusetzen. Paradoxerweise hätte die Corona-Krise dann für einige Kommunen zunächst einen gegenteiligen Effekt: Sie wären zunächst aus der Austeritätsfalle befreit und wieder handlungsfähig. Die Dauerhaftigkeit dieses Zustands hängt auch davon ab, ob dies mit grundsätzlichen Veränderungen im föderalen Gefüge der Staatsfinanzen verknüpft wird [16].

Die bereits vor Corona eingesetzte, strukturelle Wirtschaftskrise lässt es fraglich erscheinen, inwieweit die wirtschaftliche Erholung über einen „Rebound-Effekt“ im kommenden Jahr hinauskommt. Sollten die Corona-Konjunkturmaßnahmen tatsächlich zu einer neuen Wirtschaftswachstumsphase führen, hätte „Corona“ zu einer staatsinterventionistischen Handlungsfähigkeit des Staates geführt, wie sie wohl anders kaum zu erwarten gewesen wäre, und damit die Depression von Herbst 2019 aufgelöst.

Müssen die Schulden bezahlt werden?

Der Blick auf die Bearbeitung vorangegangener Krisen zeigt, dass die Aufnahme von Schulden für ein gewisses Maß an Staatsinterventionismus sich nicht zwangsläufig mit der Frage verbinden muss, wer für die Rückzahlung der aufgenommenen Staatsschulden aufkommt. In früheren Krisen konnte die Frage, „wer das bezahlen soll“, weitgehend umgangen werden, weil zwar die Schulden im Wesentlichen kaum zurückgezahlt, aber das Wirtschaftswachstum gesteigert und damit die Schuldenlast im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung (Schuldenstandsquote) reduziert wurde. Durch die Finanzkrise 2009 stieg etwa die Schuldenstandsquote, also das Verhältnis der Schulden zum BIP, auf 81% im Jahr 2010. In den nachfolgenden Jahren wurden die aufgenommenen Schulden zwar nur zu einem kleinen Teil zurückgezahlt, dennoch reduzierte sich die Schuldenstandsquote auf 63% im Jahr 2019, was vor allem am starken Wirtschaftswachstum lag.

Das soll nach dem Geist der Schuldenbremse diesmal anders laufen. Denn anders als vielfach angenommen ist die Schuldenbremse nicht „außer Kraft“ gesetzt, sondern es wird auf die in ihr festgeschriebene Ausnahmeregel zurückgegriffen, dass in „außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“ (GG, Art. 109) Neuverschuldung erlaubt ist – allerdings fordert das Gesetz, dass hierzu, anders als früher, ein Tilgungsplan vorgelegt werden muss. Die Corona-Schulden sollen nach erklärtem Willen des Bundesfinanzministers innerhalb der nächsten 20 Jahre tatsächlich zurückgezahlt werden. Dieser Zeithorizont ist rechtlich nicht vorgegeben, lässt sich aber vermittelt aus dem europäischen Fiskalvertrag herleiten (1/20-Regel). Demgegenüber argumentieren gesellschaftlich breit anerkannte Ökonomen wie etwa Jens Südekum [17], man solle wie in vergangenen Krisen aus den Schulden „herauswachsen“ und sie kontinuierlich überwälzen, statt diese zurückzuzahlen. Der Finanzinvestor George Soros hat für Europa sogenannte „ewige Anleihen“ ins Spiel gebracht [18], bei denen sich die EU Geld leihen würde, was sie nie zurückzahlen müsste, dafür allerdings für immer einen bestimmten jährlichen Zinssatz zahlen müsste. Österreich nimmt im Rahmen der Corona-Krise Kredite als eine 100-jährige Anleihen auf – zu einem jährlichen Zins von gerade einmal 0,85 Prozent. Auch das Land NRW hat im Januar 2020 eine Anleihe mit 100 Jahren Laufzeit mit einem Volumen von 2 Mrd. € aufgegeben, dafür zahlt das Land einen festen Zinssatz von jährlich 1,375%. Die Realzinsen sind also derzeit selbst bei sehr langer Kreditlaufzeit negativ (vorausgesetzt, das politische Inflationsziel der EZB von knapp unter 2% wird durchgesetzt). Es lohnt sich daher in einer pragmatischen Herangehensweise zumindest zu versuchen, überall dort die Tilgungspläne auf einen möglichst langen Zeitraum zu strecken. Letztendlich müssten dann vermutlich Gerichte klären, was ein „angemessener“ Zeitraum für die Schuldentilgung ist. Aber 50-70 Jahre als Zeitraum könnten drin sein und wären angesichts der Zinssätze ökonomisch zu rechtfertigen.

Linke Antworten auf die Frage, wer für die Krise zahlen soll

Wenn die Krisenkosten nicht über Einsparungen in der Daseinsvorsorge auf die breite Bevölkerung abgewälzt werden sollen, gibt es im Grunde drei Möglichkeiten. Erstens: Die Bezahlung wird über eine sehr lange Laufzeit der Kredite weit in die Zukunft verschoben. Zweitens: Die Schulden werden „gestrichen“. Das mag zunächst etwas verrückt klingen und ist aktuell kaum politisch durchsetzbar, ist bei sachlicher Betrachtung aber gar nicht so absurd wie es klingt. Hierzu muss man verstehen, wie die Staatsverschuldung vieler europäischer Staaten seit der Eurokrise funktioniert. Derzeit leihen sich die meisten Staaten Geld am Kapitalmarkt, in dem sie Staatsanleihen ausgeben. Diese Anleihen werden von den Banken gekauft und häufig an die EZB im Rahmen ihres Anleihenkaufprogramms weiterverkauft. Das Geld, das die EZB hierzu benötigt, kann sie als Notenbank selbst „drucken“, bzw. heutzutage durch digitale Einträge in den entsprechenden Datenbanken „erschaffen“. Im Ergebnis dieses Prozesses ist die EZB mittlerweile gegenüber vielen europäischen Staaten einer der wichtigsten Gläubiger – und es stellt sich zurecht die Frage, was nun mehr Probleme nach sich ziehen würde: (weitere) Kürzungen in den Systemen der öffentlichen Daseinsvorsorge, um die Schulden zurückzuzahlen oder die Schulden in der Datenbank der EZB einfach zu streichen. [19]

Die dritte Möglichkeit, die Krisenkosten nicht über Einsparungen in der Daseinsvorsorge zu finanzieren, dürfte für viele Ohren wieder vertrauter klingen: Der Staat muss seine Einnahmen erhöhen – und zwar, indem er sich das Geld bei den Reichen holt, und nicht indem er über Mehrwertsteuererhöhungen doch wieder in die kleinen Geldbeutel greift. Hierzu könnten zum Beispiel historische Instrumente wiederbelebt werden. So gab es nach dem zweiten Weltkrieg eine einmalige Vermögensabgabe, um den Wiederaufbau des Landes zu finanzieren. In Anlehnung daran könnte nun eine Corona-Vermögensabgabe auf sehr hohe Vermögen erhoben und in der Einziehung über mehrere Jahre gestreckt werden. Eine Corona-Vermögensabgabe wurde etwa vom Ökonomen Rudolf Hickel [20], aber auch der Vorsitzenden der LINKEN, Katja Kipping, ins Gespräch gebracht. Angesichts des enormen staatlichen Finanzierungsbedarfs könnte auch der Solidaritätszuschlag beibehalten bzw. als Corona-Soli wiedereingeführt werden. Neben einer einmaligen Vermögensabgabe könnte auch eine dauerhaft erhobene Vermögenssteuer („Millionärssteuer“) auf große Vermögen sowie eine Luxussteuer (z.B. als erhöhter Mehrwertsteuersatz auf Yachten, Porsche, Rolex-Uhren und ähnliche Luxusgüter) erhoben werden. Der staatliche Kampf gegen Steuertricksereien von Großunternehmen, etwa zahlreichen DAX-Konzernen, durch Gewinnverschiebebahnhöfe in Steuerasen könnte systematisch intensiviert werden. Ein Verbot von Steuertricksereien könnte genau so wie sozial-ökologische Kriterien eine Bedingung bei der Kreditvergabe des Staates an Unternehmen sein.

Der Vorteil einer Erhöhung der Einnahmen des Staates liegt auf der Hand. Denn die Aufnahme von Krediten ist in der keynesianistischen Wirtschaftstheorie mit dem Ziel verbunden, über diese neues Wirtschaftswachstum zu generieren (was dann eine Bedienung bzw. Überwälzung der Kredite ermöglicht).  Dabei gibt es aber einen Haken. Unter Umständen wollen und müssen wir in gesellschaftliche Bereiche investieren, die garnicht unbedingt zu neuem Wirtschaftswachstum beitragen werden – etwa wenn systematisch in reproduktive Tätigkeiten im  Gesundheitsbereich oder in eine Verringerung der Naturvernutzung nicht nur, aber auch im Kontext des Klimawandels, investiert wird. Hier kann mit der Aufnahme von Krediten unter Umständen ein Zielkonflikt entstehen, den es abzuwägen gilt. Angesichts der anstehenden Verteilungskämpfe und der Angriffe des Kapitals auf die öffentliche Daseinsvorsorge sollten alle drei Lösungsvorschläge pragmatisch geprüft werden. So lange die Kräfteverhältnisse so ungünstig stehen, könnte die „realistischste“ linke Option sein, die Beantwortung der Frage, wer für die Krise zahlt, über langjährige Kredite weit in die Zukunft zu verlagern. Aber die Situation kann sich auch schnell ändern. Und sowieso ist es vermutlich nie verkehrt, in Talkshows, beim Familiengeburtstag und der eigenen Nachbarschaft das Gespräch über  Schuldenstreichung, die Besteuerung von großen Vermögen und bei Bedarf auch die Vergesellschaftung von großen Unternehmen zu suchen.

Anmerkung

[1] verminderte Steuereinnahmen durch Beschlüsse aus dem Konjunkturpaket vom 3.6.2020 (z.B. MwSt-Senkung) sind hierin nicht enthalten und werden in diesem Papier als Kosten für „Konjunkturprogramme“ berücksichtigt