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Wer hört die Subalterne? Rück- und Ausblick

Von Gayatri Chakravorty Spivak

Kann die Subalterne sprechen? geht auf einen Vortrag von mir mit dem Titel Macht und Begehren (Power and Desire) vom Sommer 1983 zurück. Ich versuchte gerade, mich aus dem Bann von Foucault und Deleuze zu befreien. Zugleich war dies wohl der Zeitpunkt, an dem sich Derrida der Politik zuzuwenden begann. Im Zentrum meines Schaffens stand damals die französische Theorie, standen Yeats und Marx – ich war auf Europa konzentriert. Aber ich spürte, dass die Zeit reif war für eine Veränderung. In meiner anfänglichen Euphorie wandte ich mich dahin, woher ich gekommen war, ich besann mich auf die (soziale) Klasse, aus der ich stammte.

Im Jahr 1981 war ich gebeten worden, etwas über den französischen Feminismus zu schreiben, das Journal Critical Inquiry hatte einen Beitrag zum Dekonstruktivismus angefragt. Das unmittelbare Ergebnis war mein Aufsatz French Feminism in an International Frame. Zudem übersetzte und veröffentlichte ich die Kurzgeschichte Draupadi von Mahasweta Devi.2 Meine Beschäftigung mit dem Werk von Mahasweta Devi, aber auch mit Bhubaneswari Bhaduri,3 der Schwester meiner Großmutter, war Ausdruck meiner bewussten Hinwendung zur bengalischen Mittelschicht. Am Anfang stand also ein Akt der persönlichen Ehrerbietung.

Die Frau, an die Bhubaneswari den Brief schrieb, der dann vergessen wurde, war die Mutter meiner Mutter. Die Frau, die mir die Geschichte erzählte, war meine Mutter. Die Frau, die sich weigerte, das, was diese gesagt hatte, zu verstehen, war meine Cousine Lata. Ich studierte englische Literatur an der Universität von Kalkutta, sie studierte Philosophie. Obwohl sie also einen ähnlichen Bildungshintergrund besaß, hatte sie keinen Zugang zu dieser Frau, die während ihrer monatlichen Regelblutung Selbstmord begangen und mit diesem kleinen schmutzigen Geheimnis gegen die Grundsätze von sati, der Tradition der Witwenselbstverbrennung, verstoßen hatte. Sati wurde im Text nicht als Beispiel dafür herangezogen, dass die Subalternen nicht sprechen (können) – sondern dafür, dass sie ohne Erfolg versuchen, sich Gehör zu verschaffen. Lata hatte mich falsch verstanden. Es war Bhubaneswari, die nicht gehört werden konnte, noch nicht einmal von ihr.

Fehlende Referenzen

Worauf ich hinauswollte, war Folgendes: Da es keinen gültigen kulturellen Rahmen für ihren Widerstand gab, konnte dieser nicht begriffen werden. Bhubaneswaris Widerstand gegen die Grundsätze, die sati am Leben erhielten, konnte nicht anerkannt werden. Sie konnte nicht sprechen. Leider besaß dagegen sati als Ritual bestimmter hinduistischer Kasten institutionelle Geltung, die ich soweit, wie es mir möglich war, aufzudecken versuchte. Es ging mir nicht darum, dass sie nicht sprechen konnten, sondern darum, dass wenn versucht wurde, diese Praxis umzuschreiben, diese nicht erkannt werden konnte, weil sie nicht der institutionellen Form entsprach. Es ging nicht darum zu behaupten, satis sprächen nicht.

Ich verharrte nicht bei Devi und den nationalistisch gesinnten Frauen. Ich erkannte bald, dass ich damit nicht weiterkommen würde. Diese Frauen eröffneten mir jedoch neue Perspektiven. Ich wandte mich anderen Dingen zu, die ich als Subalternität denken konnte. Mit ihrer Anstrengung, ihren Körper selbst noch im Tod zum Sprechen zu bringen, hatte Bhubaneswari Bhaduri ihre Subalternität in eine Krise versetzt. Ich las ihre Geschichte vor dem Hintergrund der Lektüre des Achtzehnten Brumaire von Marx und las sie unter dem Einfluss der Subaltern Studies Group noch einmal.4 Doch dann erhielt ich Zugang zu Kreisen, in denen Subalternität, selbst Unterdrückung, als Normalität der armen bengalischen Bevölkerung auf dem Land galt. Ich weiß kaum mehr, wie dies passierte, aber ich begann, in diesem subalternen Raum viel Zeit zu verbringen, und versuchte, während ich dort war, es für eine normale Lehrsituation zu halten. In diesem Bemühen lernte ich etwas über das Unterrichten. Unterrichten zielt immer auf Veränderung, muss allerdings von einem gemeinsamen Ort ausgehen.

In der Zeit, die ich dort verbrachte, entstand dank meines Dollar-Gehalts eine Reihe von Schulen. Diese sind fragil und Teil eines Bildungssystems, das sicherstellt, dass die Subalternen niemals anders gehört werden denn als Bettlerinnen und Bettler. Wie sehr sich diese Szene von der Unabhängigkeitsbewegung unterscheidet, von Madan Mitra Lane, dem Viertel Bhubaneswaris im alten Kalkutta. In dem Jahr, in dem Kann die Subalterne sprechen? zum ersten Mal erschien, wurden in zwei der rückständigsten Distrikte von Westbengalen, Purulia und Birbhum, ganze elf Schulen aufgebaut. Inzwischen hat der lokale Großgrundbesitzer die ersten wieder schließen lassen, was auf das feudale System verweist, von dem Mahasweta Devi schreibt.

Begehren neu ordnen

Es genügte mir aber nicht, mich von der Klasse, aus der ich stamme, entfernt zu haben. Ich bin vergleichende Literaturwissenschaftlerin; ich musste mich erst von meiner Muttersprache lösen, um auf die Subalternen zu stoßen. Von 1989 bis 1994 lernte ich mithilfe von Handbüchern des Friedenskorps und lokalen Lehrerinnen marokkanisches Arabisch und näherte mich, unterstützt von sozialistischen Frauen, immer mehr dem urbanen Subproletariat in Algerien an. Ich fuhr jedes Jahr dorthin, manchmal zweimal. Ich fragte die Frauen in den alten, von Ben Bella gegründeten sozialistischen Dörfern: »Was bedeutet es zu wählen?” Ich saß schweigend in Marabouts,5 in Frauenkliniken. Ich führte zusammen mit sozialistischen Frauen Wahlschulungen in Armensiedlungen in Oran durch. Ich war Wahlbeobachterin, als die Islamische Heilsfront zum ersten Mal gewann. 1994 musste ich wegen eines Ausgangsverbots abreisen. Die Frage, die sich während meines Aufenthalts in Algerien herauszukristallisieren begann, schien folgende zu sein: Wer hört die Subalterne? Diese Frage hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.

Wenn ich in diesen Schulen bin, so höre ich mich häufig sagen, fällt mir die Armut gar nicht mehr auf, vergleichbar vielleicht mit dem Überfluss in New York. Wenn du unterrichtest, unterrichtest du. Mit den Jahren habe ich eingesehen, dass meine Aufgabe nicht darin besteht, Menschen Zuflucht zu gewähren oder Kollektive des Widerstands aufzubauen. Meine Arbeit besteht darin, ohne Zwang Begehren neu zu ordnen und ein Gespür für die öffentliche Sphäre zu nähren – eine für Lehrerinnen und Lehrer typische Aufgabe. In den 1980er Jahren war ich in Bangladesch auf dem Land mit Sanitätern unterwegs, um in das Verständnis der Subalternen von Normalität einzugreifen und präventive Verhaltensweisen und gesunde Ernährungsgewohnheiten zu verbreiten; auch dies die Arbeit einer Lehrenden. Auch dies kann Subalternität in die Krise führen. Dieses Intervenieren in die Normalität hat mich – ein Kind der Großstadt – dazu gebracht, die Familien meiner Schüler und Studentinnen und ihr Umfeld beim ökologischen Landbau zu unterstützen. Auch hier muss eine Differenz zu Kann die Subalterne sprechen? erwähnt werden. Nicht nur war Bhubaneswari ebenfalls ein Mädchen aus der Stadt und hatte den gleichen Klassenhintergrund wie ich. Sie hatte auch ihre Subalternität bereits hinterfragt; mich brauchte sie nur, um sie zu lesen, sie zu hören, sie in Ermangelung anderer Alternativen zum Sprechen zu bringen.

Wir leben heute in einer Zeit umfassender Weltverbesserungsprojekte: Es geht um die Ausrottung von Armut, von Krankheiten, um den Export der Demokratie sowie der Informations- und Kommunikationstechnologie. Nehmen wir an, diese Vorhaben seien zu begrüßen. Selbst wenn dem so wäre, müssten sie, um ohne hierarchische Kontrolle tragfähig und nachhaltig zu sein, durch wenig glamouröse, geduldige, praktische Arbeiten ergänzt werden. Generell wissen wir, dass jede Generation ausgebildet werden muss. Wenn es jedoch um die Subalternen geht, vergessen wir das schnell. Zwei Generationen nach ihr, so begriff ich, hatten die Frauen in meiner Familie verlernt, wie sie Bhubaneswari lesen mussten. Dies war eine persönliche Erfahrung damit, wie Bildung scheitern kann. Als ich mich immer weiter auf das Terrain einer allgemeineren subalternen Normalität vorwagte, nahm ich dies immer mehr als eine öffentliche Geschichte wahr. Ich fing an zu begreifen, dass nicht nur Klassenzimmer, Lehrer, Schulbücher und die Erlaubnis, zur Schule zu gehen, zählen, so wichtig dies alles auch sein mag. Solange wir nicht dafür sorgen, dass die Subalternen, einmal hegemonial geworden, nicht selbst »zu Sub-Unterdrückern werden« (Freire 1970, 29ff), und solange wir Gefahr laufen, sie abzufeiern, nur weil sie der Subalternität entronnen sind, solange sind die anderen Momente gesellschaftlich nicht wirksam.

An diesen Punkt also hatte mich meine Hinwendung zur bengalischen Mittelschicht geführt. Ich möchte hier noch etwas anderes hervorheben: Nach Raji gibt es nach dem Verschwinden des Kolonialismus die Erlaubnis zu sprechen. Die Subalterne verschwindet jedoch nicht mit dem Ende des territorialen Imperialismus. Ich finde meine Überlegungen, die an die zentralen Argumentationen von Kann die Subalterne sprechen? anknüpfen, auch heute noch wertvoll, weil der Kolonialismus überhaupt nicht am Ende ist. Eine Version des territorialen Imperialismus und Staatsterrorismus alter Prägung gibt es heute noch in Palästina. Mein Bedürfnis zu verstehen, was Generationen von Kindern zu Selbstmordattentätern macht, hat denselben Ursprung wie mein Akt persönlicher Ehrerbietung gegenüber der Schwester meiner Großmutter und das Bedürfnis, die Normalität kollektiv zu verändern. Ihr Selbstmord war auch eine Botschaft, die nicht aufgegriffen wurde. Sie war eine Einzeltäterin. Auf die eine oder andere Weise wird das Begehren der heutigen Selbstmordattentäter über die Bildung neu geordnet. Ich habe an anderer Stelle darüber geschrieben (vgl. Spivak 2008). Wir, die wir in den Geisteswissenschaften tätig sind und lehren, dürfen deshalb unsere Verantwortung nicht unterschätzen.

Wir sollten Bhubaneswari nicht allzu schnell als jugendliche Version der faschistischen Großmutter in Amitav Ghoshs Shadow Lines (1989) abtun. Die Figur in Ghoshs Roman war ein Groupie ›der Terroristen‹. Bhubaneswari hatte sich ihnen angeschlossen, fand aber, dass sie nicht Teil der Gruppe bleiben konnte. Die Lektion, die sie mich lehrte, war antinationalistisch.

Die Klassenverhältnisse herausfordern

Wie ich oben mit meinem Verweis auf die ›Weltverbesserung‹ angedeutet habe, hat sich der Imperialismus wohl über die ganze Welt verbreitet. David Harvey (2003) äußert sich hierzu recht klar:

»Ich teile mit Marx die Ansicht, dass der Imperialismus wie der Kapitalismus die Grundlage für menschliche Emanzipation von Entbehrungen schaffen kann. […] Das Problem liegt darin, dass die herrschenden Klassenverhältnisse und die institutionellen Gefüge und Wissensstrukturen, die daraus hervorgehen, normalerweise verhindern, dass dieses Potenzial auch genutzt wird. Überdies schaffen diese Klassenverhältnisse und institutionellen Arrangements imperialistische Formen ihrer eigenen Reproduktion, was zu immer größerer sozialer Ungleichheit und zu immer räuberischeren Praktiken gegenüber dem Großteil der Erdbevölkerung führt (ich nenne dies ›Akkumulation durch Enteignung‹).

Meine These lautet, dass die USA derzeit keine andere Option haben, als sich solcher Praktiken zu bedienen, solange es im Innern keine Klassenbewegung gibt, die die vorhandenen Klassenbeziehungen […] herausfordert. Damit bleiben dem Rest der Welt zwei Optionen: entweder dem US-Imperialismus direkt Widerstand zu leisten […] oder diesen umzulenken, wahlweise mit ihm Kompromisse zu schließen, indem sich zum Beispiel Sub-Imperialismen unter der Ägide der US-Macht herausbilden. Die Gefahr ist, dass antiimperialistische Bewegungen zu antimodernistischen Bewegungen werden, statt nach einer alternativen Globalisierung und einer alternativen Modernität zu suchen, die umfassenden Gebrauch von dem Potenzial macht, das der Kapitalismus hervorgebracht hat.«

Harvey beschreibt einen späten Imperialismus, der von einer Vielzahl unterschiedlicher Sub-Imperialismen charakterisiert ist. Lenins Behauptung, der Kommunismus müsse sich den fortschrittlichen Kräften der Bourgeoisie anschließen, die auf nationale Befreiung setzen, ist seinem Argument vorausgesetzt, weil er stillschweigend davon ausgeht, dass das Subjekt antikolonialer Befreiung vom Imperialismus bereits ›befreit‹ worden ist. Harvey erwähnt diese früheren nationalen Befreiungsbewegungen nicht, zu denen Bhubaneswari wahrscheinlich gehört hätte.

Mir fällt es schwer, Harveys Einschätzung von der Bürde der USA zu teilen. Aus meiner Sicht besteht die Alternative aber nicht in einem altmodischen Nationalismus. Um mich selbst zu zitieren:

»In der globalisierten postkolonialen Welt können wir den Befreiungsnationalismus musealisieren, das ist gut für Ausstellungsprojekte; wir können den Befreiungsnationalismus in unsere Curricula aufnehmen, das ist gut für die Geschichtsdisziplin. Die Herausforderung an unsere Vorstellungskraft besteht jedoch darin, weder die Museen noch die Curricula als Alibis für neue zivilisierende Missionen durchgehen zu lassen und deshalb unsere Verbündeten falsch auszuwählen.« (Spivak 2009)

Ich würde mich eher auf Harveys Formulierung, »solange es im Innern [der USA] keine Klassenbewegung gibt, die die Klassenverhältnisse herausfordert«, beziehen. Schöne Worte. Gramscis Position war, dass Klasse allein nicht die Grundlage von Befreiung aus der Subalternität sein kann. Das ist auch die Position, die die VertreterInnen der Subaltern Studies in ihrer Anfangsphase einnahmen. Das Problem ist vielmehr, dass die Subaltern Studies sich heute überhaupt nicht mehr für Klasse als analytischer Kategorie zu interessieren scheinen. Mein nach unten orientierendes Denken changiert zwischen Harveys Scylla und der subalternistischen Charybdis. Ich verstehe Bildung als Ergänzung – und als solche kann sie Anstöße für Alternativen geben.

Joseph Stiglitz stellt in gewisser Weise ein Korrektiv zu David Harvey und seiner Vorstellung von der Mission der Vereinigten Staaten dar. In seinem Buch Globalization and its Discontents (Die Schatten der Globalisierung) führt er immer wieder an, dass es den Entwicklungsländern gestattet sein muss, ihre eigene Agenda über die Interessen der transnationalen Institutionen zu stellen (2002, 236ff). In einem Vortrag sah er sich kürzlich jedoch genötigt, so etwas wie einen guten Imperialismus in Aussicht zu stellen, nämlich die Rekonstruktion der Welt durch Amerika, als Ersatz für einen bösen Imperialismus – den Krieg im Irak, den er selbstverständlich ablehnt. Um herauszufiltern, wonach sein Text zu fragen scheint, müssten wir den Subalternen zuhören, mit viel Geduld und Sorgfalt, so dass wir als Intellektuelle, die auf Bildung setzen, ein Gespür für das Öffentliche der Subalternität entwickeln können – das ist die Aufgabe von Lehrenden. Wenn sich niemand dieser Aufgabe widmet, werden die Subalternen in der Subalternität verharren und unfähig sein, sich selbst zu repräsentieren, weshalb sie repräsentiert werden müssen. Die »Bewegungskriege«, auf die Gramsci verweist, können dann gar nicht ohne Führung von oben stattfinden.

Sich kollektiv repräsentieren

Sich – als einzelne/r – kollektiv zu repräsentieren, heißt, sich in die öffentliche Sphäre zu begeben. Marx hat dies in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte als Klassenfrage gefasst. Gramsci hat die Kategorie der Hegemonie eingeführt, als einen Zustand, in den die Subalternen hineinwachsen, größtenteils durch Überzeugung, aber unweigerlich auch durch Momente von Zwang der organischen Intellektuellen und des Staates. Ich erwähne dies, weil ich zu dem Zeitpunkt, als ich den Vortrag Macht und Begehren hielt – die erste Version von Kann die Subalterne sprechen? –, gerade Einige Aspekte der süditalienischen Frage von Gramsci gelesen hatte. Nur ein Jahr später las ich Über einige Aspekte der Historiographie des kolonialen Indien (1982) von Ranajit Guha.

Nach der Lektüre von Guhas Essay war ich so überwältigt von den Arbeiten der von ihm geleiteten Subaltern Studies Group, dass ich meinen Akt der Ehrerbietung, den ich unternommen hatte, um mich aus dem eurozentrischen Gefängnis zu befreien, zurücknahm und meinen Text in die subalterne Enklave schob. Ich schrieb die Geschichte um.

Ich lernte Sätze zu sagen wie »die Subalterne befindet sich im Raum der Differenz«, nach einer wunderbaren Passage bei Guha. (Damals verstand ich noch nicht, dass Guha Gramscis Idee viel breiter interpretierte, da die Subalterne ihm zufolge mit einer kollektiven Stimme sprechen würde [Guha 1997, 134]. Ich bin diesem Ansatz nie gefolgt.) Als ich die erste Fassung des Textes vortrug, hatte ich Sorge, keine institutionellen Belege anführen zu können. Und tatsächlich waren selbst die ›Subalternisten‹ der Ansicht, dass es mein Material aus dem Achtzehnten Brumaire von Marx über unterschiedliche Arten der Repräsentation war – nämlich Vertretung oder Bevollmächtigung und Darstellung oder Bildnis und ebenso Repräsentation –, das eine neue Wendung in das Verständnis davon brachte, wie die Subalternen repräsentiert werden.

Genau vor der berühmten Passage »sie können sich nicht selbst vertreten, sie müssen vertreten werden«, steht in der englischen Übersetzung von Marx: »they are therefore incapable of asserting their class interest in their own name whether through a parliament or through a convention«.6 Und obwohl das keine falsche Übersetzung ist, bedeutet das Deutsche »geltend machen« wörtlich to »make it count,« »make it hold«. Die französischen Bauern mit eigener Scholle, die während des schleichenden Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus komplett enteignet wurden, konnten ihre Beschwerden nicht anbringen. Sie hatten keinen Vertrag, keine Institutionen, durch die sie, was auch immer sie sagen wollten, hätten »geltend machen« können.

Es ist einer von Marx’ großartigen journalistischen Texten. Er zeugt von der klaren Einsicht, dass es nicht so einfach ist, eine Befreiungstheologie zu entwerfen, in der die Vernunft Gott ist. Stellt er hier den üblichen Gebrauch von Vernunft auf den Kopf, um die Proletarier zum Subjekt zu machen, erweist er sich andernorts, im ersten Band des Kapitals, als Pädagoge: Er versucht, Einfluss auf die Gefühle der Arbeiter zu nehmen, damit sie sich selbst als Agenten der Produktion begreifen können. Doch diese journalistische Beschreibung der einzigen Revolution, die er jemals erlebt hat, gerichtet an Leser seiner eigenen Klasse, enthält einen langen, wundervoll rhetorischen Absatz, der allen Literaturkritikern gefallen hätte. Darin ist das ›Subjekt‹ die proletarische Revolution, hervorgebracht durch die herrschenden sozialen Verhältnisse, die die proletarische Revolution am Ende des Absatzes anweisen: Warte nicht auf den richtigen Moment, schlage sofort zu. Der Aufklärer Marx fordert hier einen eingeschränkten Gebrauch der Vernunft ein.

Als ich über Bhubaneswari Bhaduri nachdachte, stand ich maßgeblich unter dem Eindruck der Lektüre des Achtzehnten Brumaire. Heute kommt es mir so vor, als hätte ich den außerordentlichen Selbstmord meiner Vorfahrin einzuordnen versucht in diese Kluft zwischen der Plausibilität von Theorie und der Dringlichkeit des revolutionären Moments. Ich sah es als meine Aufgabe an, sie im umfassenden Marx’schen Sinne zu repräsentieren. Aber die Geste und die Aufgabe mündeten noch nicht in Überlegungen zu Kollektivität und Öffentlichkeit.

Kollektives Begehren organisieren?

Das war im Grunde das, was zu Beginn meines Aufsatzes stand. Nicht das Verständnis von Subalternität als einem Zustand der Differenz wie bei Guha. Und so zog sich die Spur der Subalternen durch mein Werk. Ich dachte über die Möglichkeiten einer Infrastruktur nach, die es hier wie dort den Subalternen erlauben würde, ihre Subalternität nicht als Normalität zu akzeptieren. Ich war der Auffassung, dass Bhubaneswari (sozusagen) als revolutionäres Subjekt zwar die Grundannahmen von sati hinterfragt hatte, aber sich kein Gehör hatte verschaffen können. Sie blieb allein. Damit konnte ich ihre Erfahrungen nicht verallgemeinern. Allerdings habe ich sati niemals als eine Form des antikolonialen Widerstands bezeichnet. Ich ging davon aus, dass die Kriminalisierung von sati durch die Briten nichts mit der Subjektbildung von Frauen zu tun hatte. Die koloniale Bildung blieb klassengebunden. Ich versuchte zu verstehen, wie es dazu hatte kommen können, dass Frauen, vielleicht zwei oder drei Generationen vor mir mit einer ähnlichen Ausbildung, sati in seiner traditionellen Bedeutung noch respektiert hatten. Zu unterstellen, ich selbst sei eine Anhängerin von sati, ist infam. Doch ich musste aus mir heraustreten und diese Frage stellen.

Als Rup Kanwar 1986 sati beging, hat ihre Mutter dies mit einem Lächeln begleitet. Es war dieses Lächeln, das ich erwartet hatte – das war der Text, den ich im Kopf hatte, als ich die Schriften las – das Dharmaśāstra.7 Denn dieses Lächeln bejahte die Schrift. Dieses Begehren musste neu arrangiert werden. Ich spürte, dass Bhubaneswari, gezwungen von situationsbezogenen Imperativen, dieses Begehren hatte umdeuten müssen.

Sie lehrte mich noch eine andere Lektion: Tod als Text. Sie half mir, Situationen zu lesen, auf die es keinerlei Reaktionen gibt. Wenn ein Friedensprozess völlig unglaubwürdig wird, wenn ein ganzes Land immer mehr einer gated community gleicht, mögen junge Menschen, die das Leben noch nicht zu schätzen gelernt haben – und Bhubaneswari war gerade einmal 17 Jahre alt, den Eindruck bekommen, eine Antwort könnte darin bestehen, dass du mit mir für dieselbe Sache stirbst. SelbstmordattentäterInnen bilden eine Gemeinschaft, deren Begehren neu ausgerichtet wurde. Das trifft in gewisser Weise auch auf Bhubaneswari und ihre Entscheidung zu sterben zu. Es war das Geschlechtsspezifische dieser zweiten Entscheidung, den Tod zu verschieben, die sie außergewöhnlich machte. Die Vorstellung, für dieselbe Sache zu sterben, weil mir nicht zugehört wird, weil ich nicht zu den anderen sprechen kann, setzt ein gemeinsames Übereinkommen voraus – ist eine extreme Handlung. Inwiefern verhandeln religiöse Schriften Begehren? Hier kommen der Koran oder das Dharmaśāstra ins Spiel.

Der Denkprozess, der mit Kann die Subalterne sprechen? begonnen hat, ist für mich noch nicht beendet. Zum einen gibt es dort die Schulen, hier die Welt der geisteswissenschaftlichen Bildung. Zum anderen ist die Suche nach einem Säkularismus als einem gültigen Instrument für mehr soziale Gerechtigkeit, von dem auch die Subalternen profitieren können, ein Anliegen von solch enormer Bedeutung, dass es hier noch einmal erwähnt werden muss.

 

Aus dem Englischen von Anna Richter und Corinna Trogisch

 

Literatur

Devi, Mahasweta, 1981: Draupadi, in: Critical Inquiry, 7(2), 381–402

do Mar Castro Varela, María und Nikata Dhawan, 2005, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld

Freire, Paolo, 1970: The Pedagogy of the Oppressed, New York

Ghosh, Amitav, 1989: Shadow Lines, New York

Guha, Ranajit, 1982: On Some Apects of the Historiography of Colonial India, in: ders. (Hg.), Subaltern Studies No.1, Delhi, 37–43

Ders., 1997: Domination Without Hegemony: History and Power in Colonial India, Cambridge

Harvey, David, 2003: Questions about ›The New Imperialism‹. Interview mit Nader Vossoughian, www.aggluninations.com [1]

Kane, Pandurang Vaman, 1963: History of the Dharmaśāstra, Poona/Indien

Spivak, Gayatri Chakravorty, 1981: French Feminism in an International Frame, in: Yale French Studies 62, 154–184

Dies., 2007: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien

Dies., 2008: Chapter One, Other Asias, Oxford

Dies., 2009: Nationalism and Imagination, in: Lectora 15, 75–98

Stiglitz, Joseph, 2002: Die Schatten der Globalisierung, München

Anmerkungen

1 Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Aufsatzes In response: looking back, looking forward, zuerst erschienen in Morris, Rosalind 2010 (Hg.): Can the Subaltern Speak? Reflections on the History of An Idea, New York.

2 Die 1926 in Bangladesch geborene Schriftstellerin, deren Erzählungen sich häufig mit sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Indien beschäftigen, gilt als die bedeutendste zeitgenössische Autorin, die in bengalischer Sprache schreibt (Anm. d. Übers.).

3 Spivak erzählt am Ende ihres Essays Kann die Subalterne sprechen? folgende Geschichte: »Als junge Frau von 16 oder 17 Jahren erhängte sich Bhubaneswari Bhaduri im Jahre 1926 in der bescheidenen Wohnung ihres Vaters im Norden Kalkuttas. Der Selbstmord gab Rätsel auf, handelte es sich doch, zumal Bhubaneswari zu dieser Zeit menstruierte, offenkundig nicht um einen Fall von unerlaubter Schwangerschaft. Fast ein Jahrzehnt später fand man heraus, dass sie Mitglied einer der vielen Gruppen war, die in den bewaffneten Kampf für die indische Unabhängigkeit involviert waren. Schlussendlich war sie mit der Durchführung eines politischen Mordes betraut worden. Da sie sich nicht in der Lage sah, die Aufgabe zu übernehmen, und sich doch über das praktische Vertrauenserfordernis im Klaren war, tötete sie sich selbst.« (Spivak 2007; 104; Erg. d. Übers.)

4 Die South Asian Subaltern Studies Group gründete sich in den 1980er Jahren als Ansatz und dekons-truktivistische Strategie, die offizielle indische Geschichtsschreibung ›gegen den Strich‹ oder ›von unten‹ zu lesen (vgl. do Mar Castro Varela/Dhawan 2005, 57f). Spivak bezog sich mitunter auch kritisch auf diese Gruppe, deren Mitbegründer Ranajit Guha den von Gramsci geprägten Begriff der Subalternen in das postkoloniale, poststrukturalistische Projekt der Gruppe einbrachte. Ging es darum, die Subalternen als potenziell revolutionäre Kraft anzuerkennen, stand demgegenüber die Kritik, dass die Befreiungsbewegung die Subalternen systematisch ausgegrenzt hatte. Spivak greift diesen Widerspruch auf und argumentiert, dass durch die Fortführung dieser Ignoranz der Imperialismus gestärkt würde. Gleichzeitig stellt sie infrage, wie weit ein klassisch marxistisches Modell sinnvoll sein kann, kritisiert ein romantisierendes Verständnis von Subalternität als rein subversiver und widerständiger Subjektivität und warnt davor, für die Subalternen zu sprechen (Anm. d. Übers.).

5 Marabouts bezeichnen sowohl islamische Heilige als auch deren Grabstätten (Anm. d. Übers.).

6 »Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen.« (MEW, Bd. 8, S. 198; Anm. d. Übers.)

7 In Sanskrit verfasste, umfangreiche Manuskriptsammlung, der hinduistischen Tradition zugehörig (vgl. Kane 1963).