| Wenn die Hütte brennt…

September 2011  Druckansicht
Von Rainer Rilling

Es gibt ein legitimes Primat der taktischen Politik, wenn die Hütte brennt. Allerdings findet das politische Tagesgeschäft in aller Regel in brennenden Hütten statt. Umso wichtiger ist es, zuweilen beim Austreten der Brandherde darüber nachzudenken, wo der nächste Brand entstehen wird. Wer weiß, warum Hütten brennen, kann sich leichter darauf vorbereiten. Er kann Prioritäten setzen und versuchen, entsprechend praktisch zu handeln. Er ist also zukunftsfähiger – auch für den Krieg gegen die Paläste –, als wenn er mit Sinn, aber ohne Verstand von Brandherd zu Brandherd hetzt. Kurz: taktische Politik ohne strategische Qualifizierung tritt immer neu auf der Stelle.

Und wenn es dennoch immer mehr Brandherde gibt, ein Flächenbrand droht? Wenn es ums Überleben geht, geht es um den Kern der Sache: um Macht. Macht ist nicht alles, aber das Wesentliche von Politik. Für die Linke geht es um Empowerment, Selbstermächtigung. Macht kann bestehen in der Durchsetzung eines Willens, in der Kontrolle über Situationen, Akteure und Kontexte, in der Öffnung oder Schließung von Optionen und Handlungskorridoren. Die politische Rolle, Funktion, Möglichkeiten und Position einer Partei werden in letzter Instanz durch sie vermittelt. Wenn sie dahingeht, dann ist auch die Partei weg. Deshalb denkt in einer Situation der Machtkrisen niemand mehr an übermorgen. Alle Kraft muss man da auf die bewährten Feuerpatschen konzentrieren! In der Politik heißt das »Kerngeschäft«. Doch was tun, wenn plötzlich eine neue strategische Situation entsteht? Was hilft die Feuerpatsche, wenn der Meeresspiegel nicht aufhört zu steigen?

Eine neue strategische Situation?

Ungeachtet des bundesdeutschen Aufschwungs ist die augenblickliche Situation von einer starken und weiter zunehmenden Unsicherheit über den Zustand des europä­ ischen und amerikanischen Finanzmarktkapitalismus geprägt. Eine Stimmung des panischen Kontrollverlustes hat sich tief in alle Wirtschaftsakteure eingegraben. Das flexibel-entsetzte Überbordwerfen der neoliberalen Gewissheitsrhetoriken und Politikpraxen seit 2008 hat nur kurzfristig die Machtgewissheiten der alten Eliten stabilisiert. Eine neue Explosion des privaten Reichtums, Staatsdisziplinierung und grassierende Verunsicherung der Kultur der Macht gehen zusammen.

Die Situation ist auch gezeichnet von einem strategischen Aufbau des schwarzgrünen Post-Fukushima-Atomkonsenses und einer neuen Dynamik des Übergangs in einen postnuklearen und postfossilen, grünkapitalistischen Akkumulationspfad (»Energiewende«). Ob er das Potenzial entwickeln kann, das finanzmarktgetriebene und weithin neoliberal geprägte Entwicklungsmuster zu verlassen, ist unwahrscheinlich, aber noch nicht entschieden. Umstritten ist die Frage nach der relativen Stabilität dieses Pfades. In einer politischen Form, in der der Pfad realisiert werden soll, kommt Die Linke als Mitspielerin nicht vor. Das ist der Green New Deal im Machtfeld der politischen Kommunikation: »Die letzte große ideologische Schlacht dieser Republik ist geschlagen«, titelt die FAZ am 1.7.2011, ein »Ende des 30jährigen Kriegs« sei gekommen. Und Spiegel-Online schreibt am 7.6.: »Es regiert: der Konsens. ›Willkommen im Ein-Parteien-Staat.‹« Die ideologisch-politische Schlacht im Kapitalismus um seine zukunftsfähige Form sei geschlagen. Somit ist auch die Schlacht gegen den Kapitalismus und um ihn – also seine Überwindung – von gestern. Nach dem Konzept einer neuen schwarzgrünen Hegemonie werden durch die Revolutionierung der stofflich-energetischen Basis des Kapitalismus gleichsam als angenehme, automatische, normale Nebeneffekte zugleich seine sozialökonomische Form oder sein politikökonomischer Charakter umgewälzt. Wird der Kapitalismus grün, sind nach der neuen großen Erzählung auch als erfreuliche Folgen und Nebenwirkungen seine sozialen Widersprüche und Konflikte, die Ausbeutung und seine Ratio der Kapitalakkumulation irgendwie verschwunden. Es ist frappierend, wie rasch die Begriffe »Finanzmarktkapitalismus« oder »Neoliberalismus« aus dem Sprachschatz der Grünhegemonialisten verschwinden. Was bleibt, ist der grüne Wohlfühlkapitalismus. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis das Wort »Kapitalismus« auch dahin ist. Und der politi­sche Nebeneffekt ist ebenso vielversprechend: Eine linke Formation ist in einer grünen Wohlfühlwelt überflüssiger denn je. Die paar sozialen Krisenherde soll die SPD austreten – das wird sie ja wohl noch schaffen. Vieles spricht dafür, dass in der Auseinandersetzung um die strategischen Konsequenzen aus der tiefen Krise des Neoliberalismus hierzulande jene in die Vorhand kommen, die auf eine grüne Variante des Kapitalismus setzen. Das ist ein strategisches Ereignis, das langfristig wirksam sein kann.

Transformation

Es gibt eine neue Debatte um die »Transformation« des Gegenwartskapitalismus. Im Juni 2011 legte der Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltveränderungen (WBGU) der Bundesregierung ein 420 Seiten starkes Gutachten vor: »Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation«. In seiner weitreichenden strategischen Veränderungsperspektive geht es um eine Transformation des vor über 200 Jahren entstandenen Typus des Industriekapitalismus. Sie will den Kapitalismus verändern – halb: sein Industrialismus und dessen energetische Basis sollen im Kern stehen, nicht seine politische Ökonomie. Die Linke ist Expertin, was die andere Hälfte angeht. Sie spricht vom ganzen Kapitalismus.

Ein zweites Schlüsseldokument ist der Bericht »Deutschlands Energiewende – Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft« der »EthikKommission Sichere Energieversorgung« vom 30. Mai 2011. Will man etwas wissen darüber, wie die politische Technik und Methodik hegemonialer reformkapitalistischer Transformationspolitik aussieht, wird man hier fündig. Ausgangspunkt der Arbeit der Ethikkommission war der fehlende Konsens über die Risikoqualität der Nuklearenergie. Das Kunststück des Brückenschlags (»Brücke der Verständigung«) zwischen den »unvereinbaren« Positionen leistete eine Verschiebung ins Pragmatische: Da risikoärmere und zudem bereits verbreitete, populäre und mächtige, also praktikablere Alternativen vorliegen, ist der Umbau zu einer risikoärmeren Welt machbar (»strategisches Projekt«). Alternativen müssen wünschbar, durchführbar und erreichbar sein. Es muss ein hoher Handlungsdruck vorliegen, der sich in ein hohes Mobilisierungspotenzial umsetzen kann. Die Veränderungen müssen in kleine Projekte und Zwischenschritte zerlegbar sein, die man als sich verstärkende Prozesse denken können muss, die immer schwerer rückgängig gemacht werden können und insofern so etwas wie einen Kipppunkt kennen.

Die langfristige Stabilisierung des Konsenses soll durch Mobilisierung der Konsumenten- und Bürgerbeteiligung geschehen, von Produzenten- oder Wirtschaftsdemokratie dagegen ist nirgends die Rede. Ein TransitionsManagement soll gesonderte Institutionen und Verfahren aufbauen (Governance, Monitoring, Prüfkriterien, Diskurspolitik), die Prozess- und Zielkonflikte bearbeiten. Der Bericht betont materiell-stoffliche bzw. energetische und institutionelle (demokratische) Momente der Transformation und – in erster Linie – Transition, klammert aber weiterreichende Aspekte (Gleichheit, Verteilung, Daseinsvorsorge, Stärkung des Öffentlichen) weitgehend aus. Die soziale Grundfrage, von wem zukünftig die erneuerbare Energie zu welchen Zwecken genutzt werden sollte, wird nur deklaratorisch erwähnt, aber nicht bearbeitet. Er geht von einem »nachhaltigen«, bestandsfähigen (und ökologisch nicht kontraproduktiven) Akkumulations-, Wachstums- und Exportmodell des deutschen Kapitalismus aus. Mit der angestrebten Wende in der stofflichen Akkumulationsdynamik des Kapitalismus würden das stoffliche Risikoproblem und das ökonomische Überakkumulationsproblem gelöst – er verspricht also Krisenlö­sung und kapitalistische Kontinuität, ohne dass die Eigentumsfrage zum Thema wird.

Trennung

In der Kultur dieser reformkapitalistischen Großprojekte der Transformation gibt es somit Stichworte zur Strategie und Taktik, zur Methodologie der Transformationspolitik: Konsensbildung durch Pragmatismus, Sicherung von Krisenfestigkeit, Kontinuität und Erreichen eines Kipppunktes (Bruch und Übergang zur relativen Irreversibilität einer Veränderung), Transitionsmanagement (Regulierung, Monitoring, Machtverschiebung), konkrete Utopie. Es gibt zudem eine dramatische, weitgespannte, ja epochale Zielsetzung, die sich mit vielen linksreformistischen Ambitionen problemlos messen kann. Es gibt zugleich eine fundamentale Schwäche, welche die Linke teilt – das Fehlen der strategischen und politischen Antwort auf die Frage, wie wir eine zukunftsfähige Entwicklung ohne Wachstum erreichen. Genau hier trennen sich aber endgültig die Wege zwischen einem grünen Sozialismus, der Abschied vom immerwährenden Wachstum nehmen kann und muss, weil ohne die Unterordnung der gesellschaftlichen Entwicklung unter die Reproduktion der Natur keine solidarische Nachhaltigkeit möglich ist, und einem grünen Kapitalismus, dessen innerste Natur der Prozess der Akkumulation von Kapital, Extension und Expansion, Wachstum und Grenzüberschreitungen ohne Maß und innere Selbstbegrenzung ist. Wachstum ist hier begleitet von Überschusskapazitäten, Rohstoffverschwendung, raschem Verschleiß fixen Kapitals, extremen regionalen Ungleichgewichten und wachsenden negativen, sozialen und ökologischen Externalitäten. Von Beginn an kommen beide Transformationen nicht zusammen.

Ohne die Linke wird ein grüner Kapitalismus einem Nachhaltigkeitstypus folgen, der Ungleichheitsverhältnisse beibehält oder sogar ausweitet, lange Depressionen produziert und finanzmarktgetrieben gegenüber den Zuständen des Stoffwechsels mit der Natur gleichgültiger ist als jemals in der Kapitalismusgeschichte. Etabliert sich eine grüne Hegemonie, dann ver­ ändert sich die soziale Frage mit. Sie begegnet uns dann in dreierlei Gestalt: erstens die unmittelbar in den materiellen Widersprüchen von Kapital und Arbeit verankerte klassische soziale Frage; zweitens die in Form der Schuldenbremse und Skelettierungen der Haushalte und des Steuerstaates krass schrumpfende materielle Basis des Öffentlichen und der Sozialtransfers, die in allen entwickelten Industriestaaten ein Reproduktionszentrum der sozialen, politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Linken ist. Und drittens geht es um die soziale Gestalt der Umwälzung des Stoffwechsels mit der Natur.

Grüner Sozialismus

Strategische Politik muss sich auf diesen langfristigen Veränderungsprozess und seine Kräftekonstellationen einstellen. Sicher: die Linke ist keine Spezialistin für die kleine grüne Frage, das sind die Grünen. Aber ihnen das überlassen und sich recht arbeitsteilig gleichsam auf die subalterne Rolle der Sozialabbauabfederer in einer grün-kapitalistischen Hegemoniekonstellation einlassen, wie das jüngst die Redaktion des »Prager Frühling« vorgeschlagen hat? Ist das nicht eine recht pessimistische Orientierung? »Pessimism is easy, optimism makes work.« (Erik Olin Wright) Es geht um die große grüne Frage, um den grünen Sozialismus.

Wer die Debatten in der bundesdeutschen Linken verfolgte, wird sich daran erinnern, wie schwer es war, sich mit den Begriffen »demokratischer Sozialismus« oder »pluraler« bzw. »pluralistischer Sozialismus« anzufreunden. Sie waren liberalismus- und sozialdemokratisch durchdrungene Abgrenzungs- und Legitimationsbegriffe, die nie mit Enthusiasmus und fast immer aus bitteren Erfahrungen eine dann eben richtige Differenz gegenüber monolithischen oder totalen, politizistischen Sozialismusvorstellungen aufmachten. Warum sprechen wir nicht vom grünen Sozialismus – ein Begriff, der diskurspolitisch effektvoll, theoretisch voraussetzungsvoll und politisch offensiv ist (oder sein kann)? Als in den 90er Jahren der reale, neoliberale Kapitalismus mitsamt dem Begriff »Kapitalismus« triumphierte, hat er den Alternativ- und Zukunftsbegriff »Sozialismus« gleichsam in die Welt des Unaussprechlichen gedrängt. Er überwinterte in ein paar Parteiprogrammen, Biografien und Allensbach-Umfragen. Heute zeigt die Rede vom Sozialismus, dass wir im Kapitalismus leben – auch wenn er (wie auch immer) grünt.

Heute vom grünen Sozialismus zu reden, heißt diskurspolitisch der neuen hegemonialen Entsorgung des Kapitalismusbegriffs durch Entnennung offensiv entgegenzutreten und durch die Formulierung des Gegensatzes die spezifische – eben kapitalistische – systemische Qualität der schwarz-grünen Gesellschaftszukunft sichtbar zu machen.

Theoriepolitisch heißt die Rede vom grünen Sozialismus eindeutig, mit einer linken Tradition der Naturvergessenheit, der Gebrauchswertignoranz und des Fossilismus zu brechen und die sich zuspitzende, radikale Krise eines maßlosen Stoffwechsels mit der Natur anzuerkennen, die der Kapitalismus in die Welt setzte.

olitisch offensiv endlich ist die Rede vom grünen Sozialismus, weil damit der Ausschluss aus dem politischen Spielfeld erschwert wird. Sie zielt deutlich auf etwas anderes als die Rede vom »sozialökologischen Umbau«, die mittlerweile jede politische Richtung pflegt.

Statt also die Sache Grün den Spezialisten für eine halbierte grüne Frage zu überlassen, muss die Linke einen dreifachen Kampf führen. Es geht erstens um einen gerechten Übergang, die just transition in einen ökokapitalistischen Entwicklungspfad, der die dauerhafte Auseinandersetzung mit der noch lange dominierenden nuklearfossilen Formation einschließt; es geht zweitens um den Kampf um seine ökologische, demokratische, soziale und solidarische Ausgestaltung, und es geht drittens zugleich um seine sozialistische Transformation in einen grünen und demokratischen Sozialismus. Vor allem in einigen Bundesländern wie Thüringen, Brandenburg oder Baden-Württemberg und anderen ist »die Verbindung von sozialer Frage und sozialökologischem Umbau« zunehmend Programm und Politik der Linkspartei.