| Weltumordnung

Dezember 2014  Druckansicht
Von Mario Candeias

Wie Konturen des Neuen allmählich sichtbar werden

Der Name der Zeit? Unklar. Post-alles, Interregnum. Die US-Hegemonie ist seit den Zeiten neoliberaler Transnationalisierung infrage gestellt, das Empire längst kein USamerikanisches mehr. Ein Hegemoniewechsel ist in vollem Gange, vielleicht nicht nach China, wie es die Weltsystemtheorie (Arrighi) nahelegte, aber doch nach »Chimerika« (Niall Ferguson). Seit der globalen Finanzkrise ist kein Projekt in Sicht, das den aktiven Konsens der Subalternen reorganisieren, Akkumulationsperspektiven auf erweiterter Stufenleiter öffnen und eine neue Weltordnung etablieren könnte.

Den Versuchen, neoliberale Politiken autoritär abzusichern, steht ein neuer transnationaler Bewegungszyklus (vgl. LuXemburg 3,4/2013) gegenüber. Neben vielfach aufstrebenden islamistischen Bewegungen ringen die verbliebenen Großmächte um Einflusszonen, sei es in Osteuropa oder bei der Aneignung afrikanischer Ressourcen. Während es den USA darum geht, nicht weiter an Gestaltungsspielraum zu verlieren, und Russland versucht, seinen Einfluss über Energie- und Ressourcenpolitik sowie Waffenhandel auszudehnen, verbindet China seine imperialen Anliegen mit aktiver Entwicklungshilfe.

Die »imperiale Lebensweise« (Brandt/ Wissen) übt jedoch mehr denn je auch eine unglaubliche Anziehungskraft aus, vor allem auf die neuen Mittelklassen des globalen Südens. Gleichzeitig formiert sich Widerstand – von links wie von rechts: von indigenen Bewegungen in den Anden über die neuen Demokratiebewegungen in São Paulo, Istanbul oder Madrid bis zur rechten Reaktion in Venezuela und Thailand oder den an Stärke gewinnenden islamistischen Kräften im arabischen Raum.

Um die EU wiederum legt sich ein ›Ring of Fire‹, befördert durch hastige, ungelenke Diplomatie (Stichwort: Ukraine). Vergessen ist die strategische Partnerschaft mit Russland. Die USA muss das nicht kümmern, weder Russland noch die europäische Peripherie spielen für sie wirtschaftspolitisch eine größere Rolle. Auch orientiert sich das Land außenpolitisch Richtung Pazifik. Mit diesem ›Pivot to Asia‹ – Hillary Clinton sprach bereits von »Amerikas pazifischem Jahrhundert« – orientieren die USA auf eine langfristige Verbindung (und Konkurrenz) mit dem größten Kraftzentrum der Weltwirtschaft. Aufgrund der privilegierten Insellage müssen sie auf nachbarschaftliche Beziehungen nicht viel Rücksicht nehmen, und energiepolitisch arbeiten sie erfolgreich an Autarkie. Kurz: Die USA können sich, anders als Europa, einen »begrenzten Unilateralismus leisten« (vgl. Daniljuk in diesem Heft).

Was entsteht?

Welches Bild einer neuen Weltordnung ergibt sich daraus? Noch keines. Denkbar ist die Herausbildung von Zonen der Unsicherheit jenseits der alten und neuen kapitalistischen Zentren. Die direkte (militärische) Intervention zur Befriedung und zur Herausbildung marktwirtschaftlicher, liberal-demokratischer Staaten ist gescheitert, in Somalia und Bosnien, in Afghanistan, Libyen und im Irak. Ende des »End of History« (Fukuyama). Der Markt schafft es nicht, und eine Besetzung der Märkte mit Bodentruppen steht nicht mehr an. Begrenzte Operationen und Luftangriffe, vor allem der Einsatz unbemannter Drohnen ermöglichen eine relative Kontrolle aus der Distanz (vgl. Schepers in diesem Heft). Die Zonen der Unsicherheit müssen nicht unbedingt kontrolliert, können vielmehr eingehegt werden. Im Fall der Fälle wird eingegriffen: »Responsibilty to Protect« (vgl. Obenland und van Aken in diesem Heft). Die Institutionen der kollektiven Sicherheit werden an den Rand gedrängt, auch UNO und OSZE (vgl. Douglas in diesem Heft).

Es entsteht eine Art »gated capitalism« (Rilling), geschützte Zonen eines globalen Kapitalismus, der die Ausbeutung von Ressourcen und freien Handel gewährleistet – auch ohne funktionierende Gemeinwesen in den Zonen der Unsicherheit. Allerdings zeigt sich, dass die neuen Strategien keineswegs reibungslos funktionieren, eher aus der Not geboren sind, in Syrien- und Irak etwa kommt es zum Staatszerfall. Ergebnis: ein neues Kalifat im Herzen der Nahostregion. Die Kontrolle entgleitet. Wer Freund oder Feind ist, ändert sich rasch.

Zudem beschränkt sich die Zersetzung keineswegs auf die Peripherie. Die Krisenländer der EU kommen nicht auf die Beine, die Institutionen der Demokratie verlieren rasant an Zustimmung. In Portugal, Spanien und Griechenland entstehen neue linke Kräfte. Überall in Europa aber wachsen nationalpopulistische, rechtsradikale und faschistische Bewegungen und Parteien – nicht nur in Osteuropa, auch in den alten Zentren. Aus den Wahlen zum Europäischen Parlament sind in Frankreich und Großbritannien der Front National und die UKIP als jeweils die stärksten Fraktionen hervorgegangen. Die gesellschaftliche Stimmung polarisiert sich, Desintegration schreitet voran. Die europäischen Gesellschaften müssen sich fragen, warum Tausende junge Muslime, Franzosen, Deutsche oder Briten, die in Europa keine Perspektive sehen, sich einem islamistisch verbrämten Dschihad anschließen?

Auch in den USA sind Zonen der Unsicherheit im Zuge der Krise längst etabliert – etwa die Innenstadt von Detroit, die als Gegenstück zu den gated communities Ausdruck dieser Polarisierung ist. Während die öffentliche Infrastruktur sichtbar verfällt, steigt die Ungleichheit weiter an, konzentriert sich auf die 0,1 Prozent (Picketty). In schöner Regelmäßigkeit kommt es zu Amokläufen und alltäglicher Gewalt von Waffennarren, Polizei und Gangs – das System antwortet mit einem teils privatisierten Prisonfare-Modell, der Verwaltung der ›Unterklassen‹ in Gefängnissen (Wacquant). Der (auch institutionelle) Rassismus bricht offen zutage, etwa wenn unbewaffnete schwarze Jugendliche von Polizisten erschossen werden, wie in Ferguson. Auch im politischen Feld nimmt die Polarisierung zwischen der proto-faschistischen Tea Party und den liberalen Wall-Street-Demokraten weiter zu, während sich links davon, meist auf lokaler Ebene eine neue Linke herausbildet (vgl. Mogilyanskaya in diesem Heft). Auch hier gilt: Die Zonen der Unsicherheit und die sich formierenden Kräfte von links und rechts können und müssen nicht kontrolliert werden.

Es genügt, dass sie die soliden Institutionen der Herrschaft nicht erreichen, ob in den USA oder in Europa (vgl. Porcaro in LuXemburg 1/2013). Das Ganze wird durch einen autoritären Konstitutionalismus abgesichert, der nur schwerlich als »marktgerechte Demokratie« (Merkel) durchgeht, denn Wachstum und Profitraten flachen kontinuierlich ab – für die Wertabschöpfung der Superreichen freilich reicht es noch allemal.

Dabei führen globales resource grabbing und Freihandelsabkommen zur Zerstörung lokaler Lebensräume und Ökonomien im globalen Süden, die wiederum neue Flüchtlingsbewegungen in Gang setzen und hier Anlass für rechte Propaganda bieten. Nirgendwo wird dies deutlicher als an der Politik der EU-Staaten in Afrika: Sie schließen Freihandelsabkommen, die mit teils hoch subventionierter Konkurrenz aus dem Norden kleinbäuerliche Produktion zersetzen; sie greifen ein – etwa in Frankreich –, wenn die innere Destabilisierung von Ländern zu weit geht; und sie sichern ihre Außengrenzen gegen die Flüchtlingsströme ab, damit im Innern der EU der schwindende soziale Zusammenhalt nicht zusätzlich ›belastet‹ wird. Es bestätigt sich, was bereits in der Debatte um die Globalisierung deutlich war: Es gibt kaum Außenpolitik mehr, nur noch eine Art Weltinnenpolitik oder besser: Weltkrisenpolitik. Wirkliche Außenpolitik heißt heute Frontex.

Linke Perspektiven?

Für die gesellschaftliche Linke bedeutet all das, dass sich ›Außenpolitik‹ nicht auf Sicherheitspolitik beschränken lässt, vielmehr soziale, ökonomische und ökologische Politiken einschließen muss. Wie sind die geo-ökonomischen Veränderungen einzuschätzen? Welche Konfliktfelder gewinnen strategisch an Bedeutung? Wie könnten differenzierte linke Antworten aussehen?

Jenseits klarer Positionen gegen militärische Interventionen gilt es Elemente einer »Friedenspolitik mit friedlichen Mitteln« (van Aken) zu entwickeln, die Konfliktursachen angeht und mit Ansätzen gerechter Wirtschaftsbeziehungen, sozialökologischen Entwicklungspfaden und dem Aufbau sozialer Infrasturkuren verbindet. Konkrete Einstiegsprojekte (Brangsch) dafür sind etwa die YasuniInitiative, die auf eine Ausbeutung des Öls im ecuadorianischen Urwald gegen international zu leistende Kompensationen verzichten wollte (vgl. Ituralde in LuXemburg Online), oder neue Institutionen der wirtschaftlichen Kooperation wie das lateinamerikanische ALBA-Abkommen, die regionale Staatenunion UNASUR (vgl. Díaz in LuXemburg-Online) oder die alternative Entwicklungsbank der BRICS-Staaten. Auch die Durchsetzung eines Alternative Trade Mandates im Rahmen der EU wäre ein Schritt hin zu einem fairen Handel (vgl. Passadakis in LuXemburg Online). Nicht zu vergessen: ein Ende der Rüstungsexporte und gerechte Übergänge für eine Konversion der entsprechenden Industrien.

Zu oft verheddert sich die gesellschaftliche Linke in falschen Gegensätzen: Während die einen angesichts zugespitzter Konflikte keine Alternative zu militärischer Einmischung mehr sehen, sind die anderen aus Prinzip gegen Intervention. Da friedenspolitische Instrumente kaum entwickelt werden, verbleibt der Diskurs zu oft bei einseitigen Solidaritätsbekundungen und abstrakten Bekenntnissen. Erst differenzierte Einschätzungen der jeweiligen Kräfte(-verhältnisse) würden es ermöglichen, sich auf die Seite der Subalternen zu stellen – was nicht notwendig eine Seite der Konfliktparteien sein muss. Wie können also diese Streitpunkte aufgegriffen und mit einer (bislang fehlenden) transformatorischen Perspektive verknüpft diskutiert werden? Wo finden sich international Verdichtungspunkte, an denen sich exemplarisch wirksame Alternativideen entwickeln lassen? Oder konkret: Was sind Strategien ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung? Und wo kann die Linke tatsächlich einen Unterschied machen? Die Aufhebung des längst anachronistischen PKK-Verbotes beispielsweise erhebt die Stimme für etwas, das sonst kein Gehör findet.