| Welche Vision von Europa?

Februar 2014  Druckansicht
von Bernd Riexinger

…man kann auch sagen“, so Antonio Gramsci, „dass der historische Prozess zu dieser Union hinstrebt und es viele materielle Kräfte gibt, die sich nur in dieser Union werden entfalten können: wenn es in x Jahren diese Union geben wird, wird das Wort „Nationalismus“ die gleiche archäologische Bedeutung haben wie das derzeitige ‘Munizipalismus’“.

Nicht erst heute teilen viele Linke die Hoffnung, dass mit der Herausbildung eines vereinten Europas Nationalismus und Kriege der Vergangenheit angehören und sich ein friedliches Europa herausbilden kann, in dem sich Wohlstand, Menschenrechte, Demokratie und Weltoffenheit entfalten können. Entwicklungen in dieser Richtung werden von vielen Menschen als Fortschritt und Erweiterung ihrer Lebensmöglichkeiten betrachtet: offene Grenzen (zumindest in einem Teil Europas), keinen Krieg (der Jugoslawienkrieg zeigte, wie brüchig dieser Frieden ist), die Herausbildung eines europäischen Parlamentes und europäischer Institutionen (bei aller Zurückgenommenheit ihrer demokratischen Funktionen), die Verbreiterung einer europäischen Kultur. Im Entwurf unseres Wahlprogramms formulieren wir: „Vielen Menschen ist das Nationale zu eng.“ Auch für uns. Gemeinsam mit sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und linken Parteien streiten wir für eine neue, andere Europäische Union.“ Für eine EU, die Freiheit nicht mit der Freiheit von Waren und Kapital verwechselt und für die Sicherheit nicht darin besteht, dass an den Mauern ihrer Festung immer mehr Menschen den Tod finden.

Gleichzeitig ist die Europäische Union ganz deutlich von Verwertungs- und Wettbewerbsinteressen geprägt. Die „marktkonformen Demokratie“ wie sie Angela Merkel gefordert hat, ist hier schon weit voran geschritten. Nicht wenige Linke warnen davor, an die europäische Vereinigung Illusionen zu knüpfen, die den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen nicht entsprechen. Unter neoliberaler Hegemonie kann die Verlagerung von Rechten und Kompetenzen an die EU derzeit nur zu einem weiteren Ausverkauf von sozialen Errungenschaften und demokratischen Rechten führen. Die soziale Verwüstung, die die Austeritätspolitik der Troika unter Führung der deutschen Regierung in Europa hinterlässt, ist ein Beleg für diese These.

Doch die beiden Ansätze für sich genommen greifen zu kurz, erst recht, wenn sie gegeneinander gestellt werden. Europa ­– das ist mehr als die EU oder der Euroraum – ist ein wichtiges Handlungsfeld der sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Das Kapital ist europäisch und international stark verflochten; die politischen Institutionen und die verbindlichen europäischen Regelungen begrenzen die Wirkung lokaler oder auch nationaler Kämpfe. Die vielen Niederlagen selbst kämpferischer Belegschaften im Kampf gegen Standortschließungen internationaler Konzerne zeigen das; sogar Generalstreiks haben in den letzten Jahren nur begrenzte Wirkungen erzielt. Die europäische Ebene begrenzt nicht nur die Kämpfe, sondern ist selbst Teil der Handlungsgrundlagen von Politik auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene. Es gibt kein „außen“ gegenüber der Europäischen Union, kein Lokales, was es dagegen zu verteidigen gilt. Die Ebenen sind gleichzeitig präsent. Jenseits eines „hilflosen Internationalismus“ (vgl. Candeias/Oberndorfer/Steckner), bedarf es eines wirksamen Internationalismus, der die Ebenen neu verknüpft, reale Verbesserungen für alle mit sich bringt, keine Bekenntnisse.

Ein Bild der sozialen Verwüstung

Es drängt sich auf: Die Politik der Troika unter der einflussreichen Führung von Bundeskanzlerin Merkel hinterlässt ein Bild der sozialen Verwüstung in den von der Krise betroffenen Ländern Europas. Die Rettungspakete retten vor allem die Banken. Die Armen müssen die Schulden der Reichen bezahlen. Von den rund 200 Milliarden Euro die Griechenland bislang an Zahlungen erhalten hat, sind 195 Milliarden Euro in den maroden Finanzsektor geflossen. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum das Vertrauen der Menschen in die Zukunftsfähigkeit dieser EU erodiert. Für ein soziales Europa zu kämpfen bedeutet gleichzeitig, gegen diese Europäische Union, gegen diese anti-europäische Politik zu kämpfen.

Die aktuelle Formation des finanzgetriebenen Kapitalismus ist nicht in der Lage, ein neues Wachstums- und Entwicklungsmodell des Kapitalismus hervorzubringen. Es steht wohl eher eine längerfristige Periode der Stagnation und Krise bevor. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung weg vom klassischen, fossil getriebenen „Wachstum“ müssen wir stark machen: es braucht neue Formen der Erweiterung der Lebensqualität durch Stärkung des Öffentlichen (Sektors), soziale Dienstleistungen und sozial und ökologisch zukunftsfähige Formen von Mobilität und Industrie. Der finanzgetriebene Kapitalismus stellt weder das traditionelle Wachstum noch die Neuerung bereit. Die Profite und der schier unersättliche Nachschub frischen Geldes für die Finanzmärkte nähren sich fast ausschließlich aus der Umverteilung: von den Löhnen zu den Gewinnen; unterstützt von einer Steuerpolitik, die unten und in der Mitte überproportional zuschlägt und Finanzspekulationen begünstigt. Offensichtlich ist der finanzgetriebene Kapitalismus in ganz Europa in ein Stadium getreten, in dem die destruktiven Folgen überwiegen.

In linken Diskussionen wird Angela Merkels Politik angesichts der Verwerfungen oft als gescheitert bewertet. Diese Analyse greift zu kurz, weil sie Merkels Politik danach bewertet, ob ihr ein Wiederaufbau der Wirtschaft in den verschuldeten Staaten oder der Abbau der (Jugend)Arbeitslosigkeit gelingt. Aber was sind die Kriterien der Regierung? Standortförderung und globale Wettbewerbsfähigkeit. Kanzlerin Merkel erklärte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos: „Die Wettbewerbsfähigkeit ist das zentrale Thema für die Zukunft“. Nur so könne Wohlstand gehalten und weiter gemehrt werden. Doch wessen Wohlstand? Noch nie in der Geschichte hat es funktioniert, in eine Krise hinein zu „sparen“, also öffentliche Ausgaben und Investitionen zurückzuhalten und die Kaufkraft der Bevölkerung zu unterminieren. Wer das der LINKEN nicht glauben möchte, kann es bei Paul Krugman, Nobelpreisträger für Wirtschaft, nachlesen. Merkels Vision von Europa ist kein Europa der Solidarität und Gerechtigkeit und der ausgeglichenen Lebensverhältnisse, sondern die eines gemeinsamen, international wettbewerbsfähigen Wirtschaftsraums. Die Regionen und Länder stehen darin in einem ruinösen Wettbewerb um Löhne, Steuern und qualifiziertes Personal zueinander, um das „scheue Reh“ (das Kapital) nicht zu verschrecken, das „Vertrauen der Märkte“ nicht zu belasten. Das schafft auch prosperierende Cluster und Boom-Regionen, lässt aber Millionen Menschen zurück, für die der Markt keine weitere Verwendung hat. Massenarbeitslosigkeit, eine Jugend ohne Perspektive und aufgegebene Regionen in Europa, werden dabei bewusst in Kauf genommen. Die vom wirtschaftlich stärksten Land in Europa betriebene Politik der Exportüberschüsse, gestützt nicht nur auf eine hochproduktive, weltmarktorientierte Wirtschaftsstruktur und Produktpalette, sondern auch auf ein Modell des Lohndumpings und vergleichsweise niedrige Lohnstückkostenentwicklung, verschärft die Krise der Defizitländer, die in der Folge auf ganz Europa übergreift. Merkels Europa ist ein Europa der Spaltung.

Diese Politik schädigt die Demokratie; ganz offen wird sie als Hindernis gesehen, wenn die Rede davon ist, dass eine „marktkonforme Demokratie“ durchgesetzt werden soll. Luxemburgs Premier Junker beschreibt die übliche Vorgehensweise: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es kein Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ Hinzugefügt werden müsste: auch „Geschrei“, also demokratische Meinungsäußerung durch Proteste der Menschen, berührt die Brüsseler Politik wenig. Eindrucksvoll bleibt in Erinnerung welches Drohpotenzial Merkel, Schäuble und die Finanzmärkte entfachten, als Griechenlands früherer Premier beim Gipfel in Cannes genötigt wurde, ein geplantes Referendum abzublasen und schließlich zurück trat. Die gegenwärtige Verfasstheit der EU ist ein Problem für die Demokratie. Denn wenn die sozialen Rechte der Menschen derartig vernachlässigt werden, erodiert auch die materielle, soziale Grundlage der Demokratie.

DIE LINKE hat in diesen Auseinandersetzungen verschiedene Aufgaben: Sie kann einen Beitrag dazu leisten, dass die sozialen Kämpfe sowie soziale und demokratische Rechte gestärkt werden, vor allem im „Mutterland der Austeritätspolitik“. Sie kann die europäische Solidarität stärken, damit diese Auseinandersetzungen nicht isoliert und gespalten werden. Sie muss die Auseinandersetzungen zu einer Frage gegensätzlicher Interessen von „unten“ und „oben“ (Klassenfrage) machen, schon alleine um nationalpopulistischen und nationalistischen Tendenzen entgegenzutreten. Dafür haben wir in der Europäischen Linken die Forderung nach einer europaweiten Millionärsabgabe eingebracht. DIE LINKE muss über den Charakter der gegenwärtigen neoliberalen Politik aufklären und Gegenmodelle zur Ausgestaltung der gegenwärtigen Europäischen Union entwickeln. Ganz wesentlich kann eine europaweite, verbindende Kampagne zur Wiederherstellung und Stärkung des Öffentlichen dazu beitragen gemeinsame Positionen zu entwickeln und linke Kräfte zusammen zu bringen. Dies geht nur in Verbindung mit einer gerechteren Steuerpolitik, die Kapital und Vermögende, insbesondere Banken und Finanzinvestoren als Verursacher der Krise, wieder stärker zur Finanzierung des Öffentlichen heranzieht, also das gesellschaftliche Mehrprodukt wieder der Allgemeinheit zurückführt.

Der neoliberalen Hegemonie, der völligen Unterordnung der herrschenden Politik unter die Verwertungsinteressen des europäischen Kapitals, der Herausbildung des wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraumes müssen wir grundlegende Alternativen entgegensetzen. Diese müssen einerseits geeignet sein, an die vorhandenen Auseinandersetzungen und sozialen Kämpfe in Europa anzudocken, andererseits sollen sie auch einen Horizont eines anderen Europa, jenseits von Kapitalismus und Wettbewerbsfähigkeit aufzeigen. Die Einstiege in dieses andere Europa sind sehr konkret:

–       Wir brauchen europaweite Standards gegen die Abwärtsspiralen von Löhnen und Sozialleistungen einerseits und Steuern für Unternehmen, Reiche und Vermögende andererseits. Die Mindestlöhne dürfen 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnittslohns nicht unterschreiten. Die Löhne in Deutschland müssen steigen; auch um die Außenhandelsdefizite zurückzufahren. Die Arbeitszeit muss gesenkt und gerechter verteilt werden.

–       Gegen die Massenarbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Verödung ganzer Regionen brauchen wir ein Investitionsprogramm, mit dem das Öffentliche ausgebaut und Bildung und personennahe Dienstleistungen besonders gefördert werden. Leitbild muss ein sozialökologischer Umbau sein. Energie- und Wasserversorgung gehört in die Hände der Bevölkerung! Das transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA (TTIP) lehnen wir ab und werden uns an den europaweiten Kampagnen und Widerstandsaktionen beteiligen.

–       Wir müssen die Parlamente in Europa stärken, ihre Befugnisse ausweiten und die Macht der Lobbyisten einschränken. Über Volksentscheide sollen die Menschen direkt die europäische Politik mitentscheiden können. Demokratie hat eine materielle Seite: in der Sicherung gegen Armut durch eine europaweite Mindestsicherung. Und mit einer wirksamen Umverteilung des Reichtums von oben nach unten.

–       Und schließlich müssen wir den Finanzsektor entmachten und regulieren: Schattenbanken müssen abgewickelt werden, wie das Investmentbanking als Geschäftsfeld insgesamt. Private Großbanken sollen in öffentliches Eigentum und demokratische Kontrolle überführt werden. Steueroasen wollen wir trockenlegen.

Diese Forderungen stehen zunächst auf dem Papier. Damit sie wirksam werden können, muss sich die Europäische Linke mit sozialen Bewegungen entscheiden, welche Forderungen geeignet sind, um darum ein gemeinsames politisches Projekt, eine gemeinsame Kampagne zu entwickeln. Erst mit gemeinsamer Praxis kann es gelingen, die Kräfteverhältnisse in Europa nach links zu verschieben.