| Weiter so mit Alibi – Warum die deutschen Autokonzerne bislang recht gut durch die Krise kommen

Mai 2020  Druckansicht
von Winfried Wolf

Von wegen Verkehrswende – die Zahl der Pkw steigt weiter, der E-Anteil ist verschwindend. Elektromobilität ist das Alibi der Autoindustrie für ein Weiterso.

Anfang des Jahres 2020 gab es in Berlin ein Spitzentreffen von Vertretern der Autoindustrie, der IG Metall und der Bundesregierung. Als Ergebnis wurde verkündet, die Bundesregierung werde »den Strukturwandel der Autoindustrie beschäftigungspolitisch begleiten« und die »Hürden für Kurzarbeit senken« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.1.2020). Auf den ersten Blick erscheint diese Maßnahme überzogen.Die Profite der deutschen Hersteller lagen auch 2019 auf Rekordhöhe. Und der Abbau von Arbeitsplätzen in der Branche erfolgte (Opel ausgenommen) bislang in homöopathischer Dosierung. Es stellt sich die Frage: Woher beziehen die deutschen Autokonzerne in dem Umfeld einer beginnenden Branchenkrise ihre Stärke? Und: Wie lange kann diese Sondersituation aufrechterhalten werden?

Einiges spricht dafür, dass wir aktuell eine neue Krise der weltweiten Autoindustrie erleben. 2019 und 2018 war die Produktion von Autos innerhalb Deutschlands rückläufig. 2017 wurden noch 5,6 Millionen Fahrzeuge hergestellt, 2019 waren es nur noch 4,7 Millionen. Auch weltweit ging die Herstellung von Autos zurück. 2019 wurden 80,1 Millionen Autos hergestellt. 2017 waren es noch 84,7 Millionen. Einige Unternehmen und einige Regionen sind von den Einbrüchen bereits stark betroffen. Bei Opel/Vauxhall – Tochter des französischen Autobauers PSA – brach der Absatz im Dezember 2019 gegenüber dem Vorjahr europaweit um 35 Prozent ein. In China ging die Produktion im gleichen Zeitraum um 7,5 Prozent zurück (OICA 2019).

Autoindustrie und Weltkapital

Die Autoindustrie ist seit einem Jahrhundert die wichtigste industrielle Branche im globalen kapitalistischen System. Sie ist nicht die größte Branche, die Textilindustrie ist hinsichtlich der Beschäftigtenzahl deutlich größer. In Deutschland hat der Maschinenbau wesentlich mehr Arbeitsplätze als die Auto­branche. Auch ist hier die Exportquote noch höher als im Fahrzeugbau.[1] Schließlich ist die Autoindustrie auf nur wenige Länder konzentriert. Allerdings sind es dann ausgesprochen mächtige Staaten: An der Spitze steht das Quartett USA, China, Deutschland und Japan. Diesem folgt das nicht ganz so starke Autoländer-Terzett Südkorea, Frankreich und Italien. In allen anderen Ländern mit Autoindustrie spielt diese nicht – oder nicht mehr – die führende Rolle.

Nichtsdestotrotz ist die Autobranche in der Weltwirtschaft – die Rede ist von der materiellen Produktion, die Übermacht des Finanzsektors bleibt unbestritten – die entscheidende Industrie im Sinne von die »wirkmächtigste«. Sie war in den vergangenen Zyklen auch maßgeblich verantwortlich für das Auf und Ab von Welt-Bruttoinlandsprodukt und Welthandel. Dieser Zyklus stellte sich erstmals Mitte der 1970er Jahre ein. Seither gab es fünf weltweite Zyklen mit fünf Branchenkrisen. Und in allen fünf Fällen waren diese mit weltweiten Rezessionen und weltweiten Krisen verbunden. Sie fanden 1974/75, 1980 bis 1982, 1991/92, 2001/02 und 2008/09 statt. Die letztgenannte Krise war die schwerste und tiefste, die die Autoindustrie seit Ende der 1920er Jahre und der weltweite Kapitalismus seit der Weltwirtschaftskrise in den Jahren 1929 bis 1932 erlebt hatten.

Verschiebungen in der Geografie der Autofertigung

Die Veränderungen im Weltkapitalismus sind eng mit den Veränderungen im internationalen Fahrzeugbau verbunden. Die Weltbranche Auto wurde mehr als ein halbes Jahrhundert lang – von Anfang des 20. Jahrhunderts bis Ende der 1960er Jahre – von den USA bestimmt. Das war die Periode der unbeschränkten US-Vorherrschaft in der Weltwirtschaft. Diese endete mit der Niederlage im Vietnamkrieg und der Entkoppelung des US-Dollars vom Gold 1973. Das war auch das Ende der Vorherrschaft der US-Autoindustrie. Es folgte bis 1992 eine Periode, in der der Aufstieg der japanischen Autoindustrie und des japanischen Kapitals unaufhaltsam schien.

Der Kollaps des sowjetischen Wirtschaftssystems und die strukturelle Krise, in die der japanische Kapitalismus in den 1990er Jahren geriet, öffneten Chancen für einen Aufstieg der EU, der zugleich die Basis für eine Expansion der westeuropäischen und hier vor allem der deutschen Autohersteller bot. Daimler versuchte dies mit der Übernahme von Chrysler (1998) und Mitsubishi (2000). Das (im Übrigen von dem späteren Deutsche-Bahn-AG-Chef Rüdiger Grube gesteuerte) Projekt scheiterte kläglich. 1999 startete Renault einen vergleichbaren Versuch und ging eine »strategische Allianz« mit Nissan ein (und übernahm Dacia in Rumänien und später Lada in Russland). Doch auch dieses Großprojekt Renault-Nissan dürfte mit der Verhaftung des Renault-Chefs Carlos Ghosn im November 2018 beendet worden sein.[2] 2002 proklamierte der VW-Großaktionär Ferdinand Piëch das Ziel, mit VW an die Weltspitze gelangen zu wollen. Mit der Clean-Diesel-Kampagne, die von VW angeführt und von den beiden anderen deutschen Autoherstellern, Daimler und BMW, mitgetragen wurde, sollte der nordamerikanische Markt aufgerollt werden. Eine 2009 beschlossene aktienrechtliche Verflechtung von VW mit dem japanischen Hersteller Suzuki sollte diesem Ziel dienen. Auch diese Offensive scheiterte kläglich. VW wurde in den USA zum Offenbarungseid gezwungen und zur Zahlung von bislang mehr als 30 Milliarden Euro Strafgeldern wegen der kriminellen Manipulation der Abgaswerte. Das Bündnis VW-Suzuki platzte 2015. Das Scheitern der Offensive der europäischen Autokonzerne fügt sich ein in die Relativierung der Position der EU im Weltkapitalismus, zu der es im gleichen Zeitraum kam.

Seit Anfang des 21. Jahrhunderts erleben wir einen kometenhaften Aufstieg von China, bei dem erneut die Autobranche eine zentrale Rolle spielt. China ist inzwischen der größte Absatzmarkt für Autos und die größte Werkstatt (nicht verlängerte Werkbank!) zur Fertigung von Autos. Ende des 20. Jahrhunderts wurden mehr als vier Fünftel aller weltweit produzierten Kraftfahrzeuge in Nordamerika, Japan, Südkorea und Westeuropa hergestellt. Der Anteil Chinas an der weltweiten Autofertigung lag damals gerade mal bei 3,3 Prozent. Bis 2020 hat sich dieser Anteil auf knapp das Zehnfache oder um rund 30 Prozent erhöht. Im gleichen Zeitraum sank der Anteil der in der EU hergestellten Kraftfahrzeuge von 33 auf 18 Prozent, der Anteil der deutschen Autofertigung reduzierte sich von 8,5 auf 5,5 Prozent. Der Anteil der Autofertigung in den USA hat sich sogar von 23 auf 11 Prozent mehr als halbiert.

Kontinuität bei der Kapitalstruktur der Autobranche

Doch für diese Verschiebung in der geografischen Struktur der Weltautoindustrie gibt es keine Entsprechung in der Struktur des Kapitals, das in der Autoindustrie angelegt ist. Die Autoindustrie in China ist in erheblichem Maß von den westlichen Autokonzernen – und hier in besonderem Maß von den deutschen Autokonzernen VW, BMW und Daimler – geprägt. China hat in fast allen Sektoren des weltweiten Kapitalismus konkurrenzfähige Konzerne hervorgebracht (Lenovo im PC-Notebook-Bereich, Alibaba im Sektor Internet, Huawei bei Smartphones und Telekommunikation, CRRC bei den Hochgeschwindigkeitszügen). Doch es gibt keinen einzigen großen chinesischen Autohersteller, der auf dem Weltautomarkt konkurrenzfähig ist.[3]

Die zwölf größten Autokonzerne der Welt sind auch 2020 ausschließlich »westliche« (wobei Japan und Südkorea an dieser Stelle dem Westen zugeordnet werden können). Dieses schmutzige Dutzend kontrolliert weiterhin rund drei Viertel der globalen Autoherstellung, wobei diese Konzerne inzwischen große Fabriken in China haben. Es handelt sich um die vier japanischen Konzerne Toyota, Nissan, Honda und Suzuki, die drei deutschen Unternehmen VW, Daimler und BMW, die zwei US-Hersteller GM und Ford, die beiden französischen Konzerne Renault (mit Dacia und Lada) und PSA (mit Peugeot, Citroën, Opel und Fiat-Chrysler) und den südkoreanischen Hersteller Hyundai.[4]

Die Stärken der deutschen Konzerne

Die neue Branchenkrise hat 2019 alle Regionen mit größerem Pkw-Absatz erfasst. Das ist neu. In der vorausgegangenen Branchenkrise 2007 bis 2009 blieb China noch außen vor, womit die Krise erheblich abgefedert werden konnte. Dennoch schienen bis Ende 2019 die deutschen Autokonzerne wie Felsen in der Brandung zu stehen. Dafür gibt es die folgenden drei Gründe.

1 // Verkaufszahlen steigen weiter: Erstens konnten 2018 und 2019 trotz rückläufiger Produktionszahlen die Verkaufszahlen, also Zulassungen, im Inland nochmals gesteigert werden. Damit wurden die Einbrüche im Export abgefedert. 2018 und 2019 hat sich die Zahl der in Deutschland registrierten Pkw drastisch um 1,3 Millionen erhöht. Die noch gute Binnenkonjunktur und die über das Euro-Regime gestärkte deutsche Position in der EU ermöglichten diesen fortgesetzten Absatzboom. Die staatliche indirekte Finanzierung des Pkw-Absatzes durch die Dienstwagensubventionierung spielt dabei eine wichtige Rolle. (Zwei Drittel aller in der BRD von deutschen Autokonzernen neu zugelassenen Pkw sind Dienstwagen!)

2 // SUV-Strategie: Zweitens setzten die deutschen Autokonzerne ihre Konzentration auf SUV und teure Mittelklassewagen fort. Damit blieb der Umsatz weitgehend konstant, obgleich die Produktion sank. Diese SUV-Strategie wird durch die E-Pkw-Förderung der Europäischen Union und der Berliner Regierung gepuscht: Indem alle E-Pkw als »Zero-Emission-Vehicles« definiert werden, können die Autokonzerne durch einen klugen Mix von E-Pkw und SUV ihre Orientierung auf teure, großvolumige Autos fortsetzen 
und die CO2-Grenzwertüberschreitungen 
bei den SUV durch E-Pkw weitgehend kompensieren.

3 // Ausweitung des chinesischen Marktes Drittens konnten die deutschen Konzerne in China ihre Verkäufe 2018 und sogar noch 2019 trotz der Branchenkrise steigern. Die teuren und großen deutschen Pkw (weitgehend in China selbst hergestellt) zielen auf die Einkommen der oberen Gruppe der chinesischen Mittelschicht, bei der die Krise noch nicht angekommen ist.

Es ist dennoch einigermaßen unwahrscheinlich, dass die deutschen Hersteller nicht von der einsetzenden Branchenkrise erfasst werden. Sicher ist, dass sich die Krise in der chinesischen Autobranche vertieft. Seit Sommer 2019 bricht dabei ausgerechnet der Sektor der Elektrofahrzeuge drastisch ein. Ein Grund dafür ist die beginnende Kappung der Subventionen für »Elektromobilität«. Der Absatzrückgang in diesem Segment ist derart groß, dass sich der Industrieminister der Volksrepublik China, Miao Wie, Mitte Januar 2020 mit dem dramatischen Appell »Bleiben Sie ruhig, es wird keine weiteren Kürzungen geben!« an die Öffentlichkeit wandte und erklärte, die Förderung von Batterieautos werde entgegen den Ankündigungen fortgesetzt (Süddeutsche Zeitung, 14.1.2020). In Europa, Nordamerika und Japan findet ein massiver Rationalisierungs- und Konzentrationsprozess statt, der einige Hunderttausend Arbeitsplätze zerstören dürfte. Nissan kündigte an, in der Autofertigung den Einsatz von Robotern deutlich zu erhöhen. VW und Ford verkündeten ihrerseits im Juli 2019 die Bildung einer Allianz in den Bereichen Elektromobilität und Autonomes Fahren. Mit der Übernahme von Fiat-Chrysler durch PSA, die im Oktober 2019 bekannt wurde, entsteht ein gigantisches Konglomerat, bei dem unter dem PSA-Dach sechs Marken mit vergleichbaren Charakteristika zusammengewürfelt sind: Peugeot, Citroën, Opel, Fiat, Alfa Romeo und Chrysler. Das muss zu einer Kannibalisierung und zu Fabrikschließungen führen. Die Lage in China, Japan, Nordamerika und Westeuropa könnte sich zu einem Krisengemälde mit kräftigen Farbtönen entwickeln.

Doch wo bleibt bei alldem die »Elektromobilität«?  Tatsächlich spielen Elektroautos auf dem Weltmarkt – mit einer gewissen Ausnahme im Fall China, wo 2019 der E-Autoanteil bei rund acht Prozent der Neuzulassungen lag, es jedoch gerade hier zu den größten Einbrüchen kam – bisher keine größere Rolle. 2019 lag der Anteil der Elektroautos bei rund drei Prozent der ­Weltautofertigung. Auch in Zukunft wird sich dies nicht qualitativ ändern. Der VW-Konzern, der bei den großen Autoherstellern als Vorreiter in Sachen Elektromobilität gilt, will »bis 2028 fast 70 neue Elektroautos auf den Markt bringen«, was »in der Summe 22 Millionen E-Autos über alle Marken und Baukästen hinweg« entspräche (Arrive 2019, 32). Im gleichen Neunjahres-Zeitraum will VW aber insgesamt 120 Millionen Pkw produzieren. Die Zahl der Autos mit Verbrennungsmotor wird damit bis Ende der 2020er Jahre weitgehend die gleiche sein wie bisher: gut 10 Millionen im Jahr. Der entscheidende Faktor, der zum Abbau von Arbeitsplätzen führt, sind damit Rationalisierungen und Verlagerungen. »Elektromobilität« ist das Alibi für ein »Weiter so«, für die zusätzliche Erhöhung der Pkw-Dichte vor allem in den Städten und für ein Abzocken von staatlichen Hilfen im großen Maßstab (vgl. Wolf 2020). Am 16. Januar 2020 verkündete der VW-Chef Herbert Diess vor einem Kreis von Topmanagern seines Konzerns, das Unternehmen habe sich 2019 zwar »nicht schlecht geschlagen«, doch »der Sturm geht jetzt erst los« (Süddeutsche Zeitung, 17.1.2020). Das könnte zutreffen.

 

Anmerkungen

[1] Der Maschinenbau zählt 1,2 Millionen Beschäftigte gegenüber 820 000 in der Autoindustrie. Der Maschinenbau-Umsatz lag 2017 bei 220 Milliarden Euro, wovon 75 Prozent (das entspricht 165 Milliarden Euro) ins Ausland gingen. Die BRD-Autobranche hatte im selben Jahr einen Umsatz von 420 Milliarden Euro, es wurden Kraftfahrzeuge im Wert von 270 Milliarden Euro exportiert (Statistisches Bundesamt, 2019).

[2] Carlos Ghosn stand 15 Jahre lang an der Spitze der Allianz Renault-Nissan. Er wurde im November 2018 in Japan verhaftet und befand sich bis Anfang Januar 2020 in Haft bzw. unter Hausarrest. Der offizielle Grund war die Nichtdeklarierung von 10 oder 20 Millionen Euro seines Einkommens. Tatsächlich geht es darum, dass sich die japanischen Autokonzerne Nissan und Mitsubishi (Letzterer ist ebenfalls Teil dieses Verbundes) von den französischen Fesseln befreien wollen.

[3] Warum das so ist, wäre eine vertiefende Untersuchung wert. Die knappe Zeitspanne, die zwischen dem Auftauchen Chinas als Weltmarktmacht und heute liegt, kann nicht die Ursache für das beschriebene Hinterherhinken der chinesischen Autokonzerne sein. Der Aufstieg der Autobauer aus den USA, aus Japan, aus Westdeutschland und aus Südkorea zur Weltspitze fand jeweils binnen eines Jahrzehnts statt.

[4] 2017 und 2018 befand sich der chinesische Hersteller SAIC noch in dieser 12er-Gruppe auf Rang 11, BMW lag auf Rang 13. Nach den im Januar 2020 vorliegenden Zahlen dürfte SAIC 2019 aus der 12er-Gruppe herausgefallen und BMW in den Zwölferkreis hochgerückt sein. Im Übrigen führe ich (wie auch bei der OICA-Statistik der Fall) Nissan als Einzelkonzern und nicht als Teil des Verbunds Renault-Nissan auf.

Literatur

Arrive – Das Automagazin für die Mobilität der Zukunft, 1/2019, hrsg. von Volkswagen, Wolfsburg

OICA – International Organization of Motor Vehicle Manufacturers, 2019: Production Statistics,
www.oica.net/production-statistics/