| Was tun und wo anfangen? 11-Punkte-Plan für einen neuen Sozialismus

Dezember 2019  Druckansicht
Von Mario Candeias

Wenn die gesellschaftliche Situation so polarisiert ist wie jetzt, ist eine radikale Perspektive nötig, die vorhandene Kämpfe verbindet und weitertreibt. Ansätze gibt es genug, von der Gesundheitspolitik bis zur Energiewende.

Sozialismus oder Barbarei, hieß es einst bei Rosa Luxemburg. Die Barbarei ist angesichts sich auftürmender Menschheitsprobleme wieder zu einer realen Möglichkeit geworden. Die globale Ungleichheit hat sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der meisten Länder ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch für die wirtschaftliche Entwicklung selbst: Akkumulation basiert weniger auf Produktion auf erweiterter Stufenleiter, sondern immer mehr auf Umverteilung, was zugleich Wachstum blockiert. Dazu treten die Folgen des kapitalistischen Wachstums, die zu einer ökologischen Krise geführt haben, die weitere soziale Verwerfungen produziert. Die Frage der globalen Migration stellt eine nicht mehr hintergehbare Herausforderung dar, und eine Abschottung gelingt den Gesellschaften des Nordens nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche. Kurz: Es handelt sich um Menschheitsprobleme, an deren Lösung der Kapitalismus bisher gescheitert ist und nach Lage der Dinge weiterhin scheitern wird. Der Aufstieg eines globalen Autoritarismus drückt dieses Scheitern aus. Er ist die aktuelle Bearbeitungsform der Krise zur Sicherung von Herrschaft – mit unkalkulierbarem Zerstörungspotenzial.

Eine Alternative ist notwendig. Wir brauchen eine Perspektive, die politische Initiativen auf den unterschiedlichen Feldern zusammenbindet, damit nicht alles in Einzelpolitiken zerfällt. In Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung ist eine radikale Perspektive entscheidend. Es geht nicht einfach um die Verteidigung des Sozialstaates oder die Rückkehr zu einem nationalstaatlichen Modell der Regulierung des Kapitalismus. Wir sollten klar sagen, dass wir an einem Ende des Kapitalismus arbeiten, an einer Gesellschaft, die Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn unbekümmert Sozialismus nennen. Dazu gehören ganz selbstverständliche Dinge wie Gesundheitsversorgung und Bildung für alle sowie bezahlbarer Wohnraum, entgeltfreie öffentliche Dienstleistungen, von Bibliotheken bis zum Personennahverkehr, ein ökologischer Umbau der Städte, des Verkehrs, der Energieversorgung und der Landwirtschaft, viel mehr Zeit füreinander und zum Leben, Mitbestimmung und wirkliche Demokratie. Sozialismus wäre erst einmal das Selbstverständliche.

Hier scheint das Unabgegoltene vergangener Zukünfte auf, von der Französischen über die Russische Revolution bis hin zu 1968 oder 1989. Es geht um Wege im Kapitalismus, die über ihn hinausführen.

Wir sollten unsere Vorstellungen einer solidarischen, demokratischen, feministischen, antirassistischen Postwachstumsalternative bei einem neuen alten, bei einem unabgegoltenen Namen nennen und gemeinsam dafür streiten, was er bedeuten soll im 21. Jahrhundert: Sozialismus – eine solidarische, eine gerechte Gesellschaft, das Einfache, das schwer zu machen scheint. Nicht alle in der Mosaiklinken werden dies unterschreiben, aber eine Transformationslinke sollte innerhalb des Mosaiks für Sozialismus stehen. Je nach Kontext kann das grüner, demokratischer, feministischer Sozialismus heißen, aber letztlich sollte es einfach um Sozialismus sans phrase (ohne Umschweife) gehen. Der Name ist nicht entscheidend, aber was sonst wäre ein positiver Begriff für einen Systemwechsel? Denn darum geht es.

Warum Sozialismus?

Mit dem Begriff Sozialismus werden unterschiedliche Interessen und Bewegungen im Sinne einer »revolutionären Realpolitik« verknüpft, die sich nicht »nur erreichbare Ziele steckt und sie mit den wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß«, sondern »durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung« hinausgeht (Luxemburg 1903, 373f). Welche Punkte sind das jeweils in den einzelnen Politikfeldern? An welcher Stelle kann ein konkreter Bruch angestrebt werden, können Veränderungen so weit getrieben werden, dass sie zu einem qualitativen Umbruch werden?

Zunächst geht es darum, gezielt beispielgebende, konkrete gesellschaftliche Konflikte zu produzieren, wie dies die Beschäftigten der Charité bei der Frage der Personalbemessung oder die Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« getan haben. Solche Konflikte sollten an Alltagsbedürfnissen ansetzen, auf unmittelbare Verbesserungen für die Einzelnen zielen und eine Dynamik für nächste Schritte und weitergehende Perspektiven für radikale Verschiebungen schaffen. Dies schließt disruptive Praktiken wie Ungehorsam, Streik, Besetzung, Blockade, auch Volksentscheide ein. Selbstermächtigung und ein langer Atem sind zentral für die Erweiterung des Möglichkeitsraumes. Noch vor Kurzem hätten wir gedacht, dass eine Kampagne zur Enteignung von Immobilienkonzernen unter keinen Umständen Erfolg haben kann. Eine solche Kampagne inspiriert, motiviert, bietet Möglichkeiten, zuvor zersplitterte Initiativen und Organisationen konkret zu verbinden. Wenn sie erfolgreich ist, verschiebt sie den gesellschaftlichen Diskurs, mithin die Kräfteverhältnisse. Sie erhöht damit die Durchsetzungsfähigkeit auch anderer Forderungen. So hat die Enteignungskampagne das Diskursfeld für den Mietendeckel verbessert und inspiriert radikale Überlegungen auf anderen Feldern. Dass Konflikte Spaß bereiten können, sieht man schon im Kleinen bei den Stadtteilorganisierungen, wenn eine Kampagne vor Ort fruchtet, sich mit anderen verbindet, man sich als Teil von etwas Größerem fühlt. Die organisierende Arbeit – verbinden, verbreitern, verankern – ist zentral, um mehr zu werden.

Welches sind also die drei bis vier zentralen gesellschaftlichen Fragen, die gelöst werden müssen und die geeignet sind, einen solchen, für die Linke produktiven Konflikt zu entwickeln?

Es bedarf konkreter Gegnerbezüge etwa durch Recherchen über Hintergründe von Investoren, Machenschaften von Unternehmen: Wer steckt die Profite in diesem oder jenem Krankenhauskonzern auf Kosten von Patient*innen und Personal ein? Wer liefert welche Rüstungsgüter in Krisengebiete? Wer sperrt sich mit Dieselbetrug und Korruption gegen eine ökologische Mobilitätswende? Hier geht es um Blaming, um die gezielte Beschuldigung der Gegner. So kann eine verbindende sozialistische Klassenpolitik herausarbeiten, weshalb Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen, Löhne und Zeit, aber auch um die Reproduktion – Gesundheit, Wohnen, Ökologie – eben Klassenkämpfe sind. Das ist nicht evident, weder im industriellen Sektor, wo die Tradition der Sozialpartnerschaft und die Einbindung in den Exportkorporatismus wirken, noch in den Dienstleistungsbereichen, am wenigsten im Bereich öffentlicher sozialer Infrastrukturen oder eben bei der Klimafrage. So ist zum Beispiel die Erzählung, wir säßen bei der ökologischen Krise alle im selben Boot, auch die Reichen könnten ihr nicht entfliehen, eine Mär. Die Verantwortung für ihre Ursachen und das Leid an ihren Folgen verteilen sich auf die gesellschaftlichen Klassen extrem ungleich, global wie innergesellschaftlich.

Neben dem Gegnerbezug sind verbindende Slogans für eine Systemwende notwendig, aber auch positive Projekte, eine Mischung aus erreichbaren Zielen und vorwärtstreibenden Forderungen und Initiativen. Dabei werden alte sozialistische Problematiken wie Macht- und Eigentumsfragen, Umverteilung, Planung und Demokratie aktualisiert und mit neuen Pro­blemstellungen verknüpft – in der Perspektive der Erweiterung der gemeinsamen Verfügung über die unmittelbaren Lebensbedingungen, die gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsmittel.

Was daran ist sozialistisch?

Es geht weniger um die Beschreibung eines fertigen Ziels als um die Bestimmung einiger orientierender Elemente für die wirkliche Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand aufhebt.

1 // Umverteilung: Sie reicht nicht aus und doch ist eine radikale Umverteilung von Vermögen ein wesentliches Element jeder linken Politik. Hier zeigt sich, wer den Richtungswechsel ernst nimmt und das gesellschaftliche Mehrprodukt der Allgemeinheit zuführt. Den Jammer der Klasse der Besitzenden zu verhöhnen, wenn ihnen mal ein wenig genommen wird, gehört dazu. Wir sollten jene Momente herausstellen, in denen es aktuell gelingt (und einst gelang), Besitzenden etwas wegzunehmen, um dem Gefühl gegenzuarbeiten, dass man an die sowieso nicht herankommen kann.

2 // Infrastruktursozialismus – Rückgewinnung und Ausbau des Öffentlichen, der Commons, der sogenannten Freiheitsgüter (Brie/Klein): Mit dem Ausbau des kollektiven Konsums durch Stärkung der Fundamentalökonomie sozialer Infrastrukturen wird die Grundlage für eine solidarische und demokratische Lebensweise geschaffen. So kann den Lohnabhängigen die Angst vor der notwendigen gesellschaftlichen Veränderung genommen und der verbreiteten Fixierung auf Lohnerhöhungen und Warenkonsum ohne Verzichtsdebatten begegnet werden. Das Öffentliche als Sphäre des Gemeinsamen muss erfahrbar, der Reichtum des Öffentlichen herausgestellt werden.

Hier können wir an diversen Konflikten ansetzen, neben dem Bereich Wohnen (vgl. LuXemburg 2/2019) etwa im Gesundheitssektor: Es geht um die Abschaffung der Fallpauschalen (DRG), der Zweiklassenmedizin und der privaten Krankenversicherungen, es geht um gesetzliche und tarifliche Regeln für die Personalbemessung, um Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung der großen Krankenhaus- und Pflegekonzerne, die Einrichtung von Polykliniken und lokalen Gesundheitszentren mit Pflege- und Gesundheitsräten.

Unverzichtbar sind Schritte hin zu einer Mobilitätswende, einer autofreien und begrünten Stadt, schon allein aus ökologischen Gründen, aber auch zur Wiederaneignung des öffentlichen Raums. Die Elemente sind: ein massiver Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, deutliche Preissenkungen bis hin zu einem entgeltfreien ÖPNV, die Rückführung von Betrieben und Infrastrukturen in die öffentliche Hand, bessere Arbeitsbedingungen und Entlohnung der dort Beschäftigten, Vorrang des Fußgänger- und Radverkehrs, Ende des Verbrennungsmotors.

Insgesamt wäre der Ausbau des Öffentlichen mit einer Stärkung der Rechte und Finanzen der Kommunen zu verbinden, die in ganz wesentlichen Bereichen für die unmittelbaren Dinge des Lebens verantwortlich sein sollten: von Gesundheit, Mobilität, Bildung und Energie über Sicherheit und Beschäftigung bis zur Produktion und Zubereitung von Lebensmitteln. Eine Stadt für alle – die Kommune im emphatischen Sinne – böte jene Freiheitsgüter, die für eine angstfreie individuelle wie gemeinsame Entwicklung grundlegend sind.

3 // Wirkliche Demokratie: Hier gälte es, gleichsam ein Subsidiaritätsprinzip zurückzugewinnen: Über die lokalen Belange beschließen die Kommunen. Wo über die jeweils kleinste Ebene hinaus andere Ebenen oder Regionen mit betroffen sind, wird die jeweils andere Region einbezogen oder die Entscheidung auf eine höhere Ebene verlagert. Der Ausbau des Öffentlichen im Sinne einer vorsorgenden Wirtschaft muss mit einer radikalen Demokratisierung des Staates einhergehen. Weder der paternalistische und patriarchale fordistische Wohlfahrtsstaat noch der autoritäre Staatssozialismus waren besonders emanzipativ, vom neoliberalen Umbau des öffentlichen Dienstes ganz zu schweigen. Ein linkes Staatsprojekt muss also die von den Demokratiebewegungen geforderte Erweiterung der Teilhabe und Transparenz realisieren – und in sozialistischer Perspektive auf die Absorption des Staates in die Zivilgesellschaft hinarbeiten, wie es bei Gramsci heißt. Es reicht nicht, die eigene Meinung äußern zu dürfen. Partizipation heißt, Entscheidungen beeinflussen zu können. Wir brauchen Strukturen, die verhindern, dass progressive Veränderungen einfach mit einer veränderten Mehrheit wieder rückgängig gemacht werden können. Nur wenn die Subalternen sich den Staat aneignen, in die Zivilgesellschaft holen, mit Leben füllen, werden sie ihn auch verteidigen. Funktionierende demokratische Routinen zu finden, ist wichtig. Und dennoch gilt es immer wieder, auch demokratische Institutionen bei drohender Bürokratisierung aufzubrechen, ihre Öffnung für die Massen durch immer wieder zu erneuernde Partizipationsprozesse zu erwirken. Die Eigensinnigkeit von unten mag nicht immer der Logik linker Staatsprojekte entsprechen, bewahrt jedoch vor der Verselbstständigung der Apparate. Hier wären die munizipalistischen Ansätze weiterzutreiben, Nachbarschaftsräte und partizipative Haushalte zu verknüpfen und weiterzuentwickeln.

4 // Wirtschaftsdemokratie: Es ist Zeit für eine über die klassische Mitbestimmung hinausgehende Demokratisierung der Wirtschaft, für eine weitreichende Partizipation von Beschäftigten, Gewerkschaften, Verbänden und Initiativen, Konsument*innen und anderen Stakeholdern an Entscheidungen in Betrieben (und zwar entlang der gesamten transnationalen Produktionsketten). Beschäftigte sollten Mitbestimmungs- und Vetorechte bei Personalbemessung und Betriebsverlagerungen, stärkeren Einfluss bei Arbeitszeiten oder bei der Produktionsorganisation erhalten. Regionale Räte und Beschäftigte sollten über Investitionen und die Richtung von Innovationen entscheiden. Schlüsselbetriebe müssen in öffentliches oder genossenschaftliches Eigentum überführt werden. Die Aktivitäten von Unternehmen haben tief greifende Konsequenzen für die betreffenden Kommunen, Regionen und darüber hinaus – es handelt sich daher der Sache nach nicht um private Angelegenheiten.

5 // Unumkehrbarkeit? Die Eigentumsfrage: Um die Hindernisse bei der Entwicklung des Gesundheitswesens (Krankenhaus- und Pflegekonzerne), bei der Sicherung privater Daten und digitaler Infrastrukturen (Facebook & Co), bei der Mobilitätswende (Automobilkonzerne und die Bahn AG) oder beim Wohnungsbau (informelle Kartelle in der Bauwirtschaft) zu überwinden, sollten die betreffenden Unternehmen vergesellschaftet werden. Deren Überführung in öffentliches oder genossenschaftliches Eigentum ist eine wesentliche Voraussetzung, um Kräfteverhältnisse dauerhaft verschieben zu können. Sie müssten von Räten gesteuert werden, die aus Beschäftigten, Nutzer*innen, Betroffenen und Politik zusammengesetzt sind, denn eine wirkliche Vergesellschaftung (nicht nur formelle Verstaatlichung) wäre ein wirksamerer Schutz gegen Reprivatisierungen. Die Absicherung öffentlicher sozialer Infrastruktur und ein Privatisierungsverbot könnten außerdem in der Verfassung festgeschrieben werden.

6 // Sozialisierung der Investitionsfunktion: Die Überakkumulation von Kapital produziert spekulative Blasen, gefolgt von Kapital- und Arbeitsplatzvernichtung, während immer größere Bereiche gesellschaftlicher Reproduktion kaputtgespart werden. Wenn die Unternehmen ihre Investitionsfunktion nicht wahrnehmen, dann muss diese weitaus stärker zur öffentlichen, partizipativ organisierten Aufgabe werden.

Wo wollen wir investieren? Diese Frage könnte auch in einer Kampagne gestellt werden, um die Innovationsfunktion zu sozialisieren und der Entwicklung der Produktivkräfte eine Richtung zu geben, die an den Bedürfnissen der Einzelnen ansetzt und nicht am Ziel der Profitmaximierung. Der private Sektor ist unfähig, er kann komplizierten Unsinn, vom digitalen Gadget bis zu Waffen, entwickeln, hat aber keine Lösung selbst für einfache Probleme wie etwa neue Werkstoffe für günstige und ökologische Wohnungen. Es ginge darum, ökologische (Leichtbau-)Materialien zu entwickeln, die Energieversorgung zu 100 Prozent durch erneuerbare Energie zu gewährleisten, den Stromverbrauch zu senken, smarte öffentliche Mobilitätssysteme zu entwickeln und gleichzeitig den Verkehr zu reduzieren, seltene Erden durch alternative Rohstoffe zu ersetzen und ökologische Anbaumethoden zur Sicherung der Ernährungssouveränität angesichts globaler Erwärmung zu fördern. Dies sind nur einige Beispiele für progressive Innovationsfronten, die Investitionen in öffentliche Grundlagenforschung und angewandte Forschung erfordern.

7 // Ein neuer Begriff von Reichtum: Eine sozialökologische Transformation orientiert auf reproduktive Bedürfnisse, mit dem Ziel einer »Reproduktionsökonomie«, die sich zu beschränken weiß und zugleich neuen Reichtum schafft: soziale Innovationen, sinnvollere Produktivkräfte, Zeitwohlstand, allseitige Entwicklung, Raum für Zärtlichkeit, Solidarität, Unterstützung und Ansporn statt Konkurrenz. Im Zentrum einer Transformation würden Reproduktions- oder Sorgearbeiten im weiten Sinne stehen: Ausbau bedürfnisorientierter Infrastrukturen in der Gesundheitsversorgung, in Pflege (auch menschlicher Beziehungen), Erziehung, Bildung und sozialen Diensten, im Bereich Forschung, Ernährung und beim Schutz unserer natürlichen Umwelt. Diese Bereiche dürfen nicht dem Markt preisgegeben werden. Sie können einen Beitrag zur emanzipativen Gestaltung der Geschlechterverhältnisse leisten. Mit der Überwindung der geschlechtlichen Arbeitsteilung wäre auch die Trennung von Kopf- und Handarbeit aufzuheben (vgl. Candeias 2011). Die neue »feministische Internationale« bildet gegenwärtig den radikalsten und sichtbarsten Gegenpol zum globalen Autoritarismus wie zum Neoliberalismus. Diese Bewegung gilt es klassenpolitisch weiterzutreiben, so wie es mit der Diskussion um den feministischen Streik und reproduktive Gerechtigkeit begonnen hat (vgl. Gago in diesem Heft und LuXemburg 2/2018).

8 // Ein neuer Begriff von Arbeit: Bei einer solchen sozialökologischen und feministischen Offensive geht es auch um die Neudefinition und Neuverteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit – durch Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, Ausdehnung kollektiver, öffentlich finanzierter Arbeit, orientiert an der Reduktion von Stoff- und Energieverbrauch, am Beitrag zur menschlichen Entwicklung, am Reichtum allseitiger Beziehungen, nicht an der Produktion von Mehrwert.

Notwendige gesellschaftliche Arbeit ist als gemeinschaftliche Selbstverpflichtung zu verstehen, als gemeinsame Bestimmung, was geleistet werden soll, wie Zeit und Ressourcen eingesetzt werden sollen. Dies schließt die individuelle Autonomie in der Arbeit mit ein ebenso wie die freiwillige assoziierte oder dissoziierte Arbeit nach Neigung: etwa ein individuelles »Ziehungsrecht« (Supiot für autonome Zeiten, für eigensinnige Projekte und Erfindungen, Forschung, Kunst etc., die Raum für kreative und innovative Entfaltung schaffen, auch ohne notwendige Zustimmung durch ein Kollektiv. Ebenso sind individuelle Ziehungsrechte im Sinne von Sabbaticals denkbar, die nicht direkt an im engeren Sinne gesellschaftlich notwendige Arbeit gebunden sind (etwa für Reisen, Muße, Exzess und Experiment). Die gemeinsame Definition und Verteilung gesellschaftlicher Arbeit steht im Vordergrund, ist jedoch mit der Möglichkeit temporärer individueller Exit-Optionen und kollektiv garantierten autonomen Räumen verbunden.

9 // Weniger ist (manchmal) mehr: Globale Produktionsketten werden seit Langem überdehnt und führen zur Verschwendung von Ressourcen. Die Orientierung auf reproduktive Bedürfnisse geht einher mit einer Verkürzung der Transportwege in der Produktion und bei der Verteilung der Güter. Es geht nicht um einen »naiven Antiindustrialismus« (Urban), sondern vielmehr um eine alternative Produktion, um regionale Produktions- und Reproduktionskreisläufe. Es gilt, die Debatte um ein progressives Verhältnis von selektiver »Deglobalisierung« und einer anderen, solidarischen Globalisierung weiterzutreiben. Bestimmte politische Kompetenzen wären von der internationalen oder europäischen Ebene tatsächlich zurückzuholen, etwa die Organisation der Daseinsvorsorge. Anderes wiederum wie die Gewährleistung (globaler) sozialer und ökologischer Rechte oder die Kontrolle der Finanzmärkte wäre trans- oder international anzugehen. Es ginge um eine neue Verbindung von Dezentralität und transnationalen Vermittlungen.

Wird der Umbau konsequent betrieben, ist eine Vernichtung alter Branchen und Kapitale unvermeidlich. Bestimmte Bereiche müssen schrumpfen (bspw. Teile der mit hohem Stoffumsatz verbundenen industriellen Produktion), andere zunächst wachsen (bspw. die gesamte Care-Ökonomie), bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Der Umbau weg vom Individualverkehr mit Verbrennungsmotor hin zu kollektiv genutzten öffentlichen Verkehrsmitteln auf der Basis regenerativer Energien erfordert zum Beispiel einen massiven Ausbau von Infrastrukturen und Personalaufbau im Bereich des öffentlichen Verkehrs, während die traditionelle Pkw-Produktion schrumpfen muss. Eine »Reproduktionsökonomie« bedeutet, dass sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr quantitativ oder stofflich wachsen.

10 // Gerechte Übergänge und universelle Jobgarantie: Positive Perspektiven für die von der Klimakrise am stärksten Betroffenen wie für die von steigenden Kosten (z. B. der Energiewende) und dem Umbau (z. B. dem Strukturwandel durch industrielle Konversion) bedrohten Beschäftigten, Gemeinden und Länder sind notwendig. Alle Maßnahmen müssten daran gemessen werden, ob sie: 1. relevant zur Senkung von CO2-Emissionen beitragen, 2. zur Reduzierung von Armut und Vulnerabilität (Verletzlichkeit), 3. zur Reduzierung von Einkommens- und anderen Ungleichheiten, 4. Beschäftigung und gute Arbeit befördern und 5. demokratische Partizipation ermöglichen.

Ein sozialökologischer Transformationskonflikt wird sich beim Strukturwandel der Automobilindustrie auftun: Der Umbruch in der Branche verändert alles, verunsichert. Präventiv wären staatliche Kapitalhilfen an alternative Entwicklungswege und Eigentumsbeteiligungen bzw. die volle Vergesellschaftung von Unternehmen zu knüpfen. Öffentliche Beteiligung wäre mit erweiterter Partizipation von Beschäftigten, Gewerkschaften, Umweltverbänden und den Menschen der Region zu verbinden, zum Beispiel über die Einrichtung regionaler Räte, die über konkrete Schritte einer Konversion eines Automobilkonzerns in einen ökologisch orientierten Dienstleister für öffentliche Mobilität entscheiden. Von Jobverlust bedrohte Automobilbeschäftigte diskutieren, entwickeln und bestimmen dort mit, wie eine Konversion ihrer Industrien und ein gerechter Übergang organisiert werden kann – das ist eine vordringliche Aufgabe auch der Gewerkschaften. So können Betroffene im Betrieb oder der Region selbst zu Protagonist*innen der Veränderung werden. Die Mobilitätswende muss gegen Konzerninteressen durchgesetzt werden, aber mit den Beschäftigten und ihren Familien: Auch sie haben ein Interesse an der »Vereinbarkeit« von auskömmlichem Leben, Zeit für Familie und Freunde und einer lebenswerten natürlichen Umwelt.

Nicht in jedem Fall werden Beschäftigte in derselben Branche bleiben können. Damit eine sozialökologische Transformation nicht angstbesetzt ist oder gar von den Betroffenen bekämpft wird, bedarf es auch positiver Perspektiven und Garantien. Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders haben daher in ihren Vorschlag für einen Green New Deal (vgl. Rehmann in diesem Heft) eine Jobgarantie aufgenommen. Alle, die das wollen, sollen das Recht auf eine öffentlich finanzierte, tariflich gesicherte Arbeit mit »kurzer Vollzeit« (Becker/Riexinger 2017) haben. Eine solche Garantie würde die Arbeit besser verteilen und darüber hinaus die Macht des Kapitals brechen, die Bedingungen der Arbeit zu diktieren, und damit der Prekarisierung ein Ende setzen.

11 // Partizipative Planung: Die Notwendigkeit, strukturelle Veränderungen unter Zeitdruck herbeizuführen, erfordert partizipative Planungsprozesse und dezentrale demokratische Räte (vgl. Williamson 2010; Gindin 2019). Regionale Räte waren in der Auseinandersetzung um die Krise in der Automobilindustrie bereits in der Diskussion (vgl. Lötzer 2010). Unabdingbar rasche Veränderungsprozesse wurden auch in der Vergangenheit mittels Planung vollbracht (z. B. in den USA in den 1930er und 1940er Jahren). Von der »Überlegenheit des sozialistischen Grundplans« sprach selbst Joseph Schumpeter (1942, 310ff), der glühende Anhänger der von ihm selbst so genannten »schöpferischen Zerstörung« im Kapitalismus.

Bei der Problematik schneller Übergänge verfügen sozialistische Positionen also über ein starkes Argument – doch sollte es sich angesichts der Erfahrungen mit autoritär-zentralistischer Planung um partizipative Planung handeln. Regionale Experimente können einen Einstieg ermöglichen. Demokratisierung und Dezentralisierung vorhandener überregionaler Planungsprozesse etwa im Gesundheitssystem, bei Netzplanungen im Energie- und Bahnbereich oder im Bildungswesen können weitere Ansatzpunkte sein. Abgebrochene Experimente kybernetisch gestützter demokratischer Planung (wie in Chile unter Allende) sollten ausgewertet und auf der Höhe der Zeit neu gedacht werden. Neue Produktivkräfte und digitale Möglichkeiten sind hier zu nutzen, ohne sie zu überschätzen, Kapazitäten für Planung und ihre Umsetzung in den Verwaltungen und Betrieben sind aufzubauen und zu stärken.

Für die freie Entwicklung einer jeden

Entscheidend ist, dass alle genannten Elemente auf die Erweiterung der gemeinsamen Handlungsfähigkeit ausgerichtet sind, die die Einzelnen befähigt, Protagonist*innen ihrer eigenen Geschichte zu werden. Das Ziel haben Marx und Engels im »Manifest der Kommunistischen Partei« bereits auf den Punkt gebracht: eine Gesellschaft, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW 4, 482).

Der Bruch mit den alten neoliberalen und neuen autoritären Politiken wird angesichts der Vielfachkrise zur Notwendigkeit. Ein drohender Konjunktureinbruch würde diese Situation noch verschärfen. Der »Mittelweg« postideologischer Offenheit und linksliberaler Kritik wird kraftlos. Auch diejenigen, die sich für den Erhalt liberaler, bürgerlicher Freiheiten und minimaler Standards solidarischer Lebensweisen einsetzen, müssen gegen Autoritarismus und Neoliberalismus Partei ergreifen, das heißt für einen radikaleren linken Kurs. Jetzt ist der Moment der Entscheidung, in einer Phase des Interregnums, in der noch unterschiedliche Entwicklungen möglich sind. Ein sozialistisches Projekt ist notwendig angesichts der Gefahr der Barbarei. Es speist sich aus den Wünschen und Sehnsüchten nach dem Zukünftigen, nach konkreter Utopie. Dabei ist eine sozialistische Erzählung wichtig, zugleich muss sie sehr konkret sein, aus den sozialistischen Interventionen heraus entwickelt werden. Das Adjektiv sozialistisch verweist auf die Praxis und nicht auf eine fertige Blaupause.

 

Literatur

Becker, Lia/Riexinger, Bernd, 2017: For the many, not the few. Gute Arbeit für Alle! Vorschläge für ein Neues Normalarbeitsverhältnis, in: Sozialismus, Supplement zu Heft 9

Candeias, Mario, 2011: Herrschaftsförmige Arbeitsteilung und feministisch-sozialistische Transformation, ifg.rosalux.de/files/2011/05/feministisch-sozialistischeTransformation1.pdf

Gindin, Sam, 2019: We need to say what Socialism will look like, in: Jacobin, März 2019

Lötzer, Ulla, 2010: Industriepolitische Offensive – Konversion, Zukunftsfonds, Wirtschaftsdemokratie, in: LuXemburg 3/2010, 86–93

Luxemburg, Rosa, 1903: Karl Marx, in: GW, Band 1/2, Berlin, 369−377

Schumpeter, Joseph, 1942: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen

Williamson, Thad, 2010: Democratic Social Planning and Worker Control, in: LuXemburg-Online, Oktober 2010