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WAS TUN? UND WER ZUM TEUFEL TUT ES?

Von David Harvey

Diese beiden Fragen neigen dazu, sich gegenseitig zu blockieren: Es ist schwer zu sagen, was zu tun ist, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wer es tun soll. Umgekehrt ist es genauso schwierig herauszufinden, wer etwas tun könnte, ohne zu wissen, was es ist. Es lassen sich großartige Vorstellungen entwickeln, was wir tun sollten. Aber dann schaut man sich um und fragt sich: »Wer zum Teufel soll das tun?« Und wenn man fragt, was die tatsächlichen Menschen voraussichtlich tun werden oder getan sehen möchten, ist man schnell verschreckt.

Einerseits geht es darum, diese Blockade aufzubrechen und sie in eine stärker dialektische Bewegung zu bringen: Wir müssen mehr Menschen mit der Vorstellung vertraut machen, dass etwas getan werden muss, indem wir deutlich machen, was zu tun ist. Gleichzeitig wird in dem Maße, wie mehr Menschen einbezogen werden, auch die Frage, was zu tun ist, neu gefasst werden müssen.

KLASSENVERHÄLTNISSE UND ›KLASSENEREIGNISSE‹

Ich sehe uns nicht in einer revolutionären Situation – es wäre mir sehr lieb, wenn wir es wären, aber wir sind es nicht. Wir stehen vor der Frage, wie unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in politische Aktivitäten und Kämpfe einbezogen werden können, um der Frage, »wer zum Teufel tut es« näher zu kommen. Traditionell wurde die Frage nach dem Akteur mit dem Proletariat beantwortet. In letzter Zeit wird dieses durch das Prekariat ergänzt oder ersetzt. Ich bin mir nicht im Klaren, was das Prekariat ist, genauso wenig wie ich jemals sicher sagen konnte, was das Proletariat war. M.E. sollte dies alles neu gedacht werden. Ich bin aus verschiedenen Gründen mit unserer hergebrachten Definition von Klasse nicht glücklich. Das Problem liegt m.E. in der Tendenz, Klasse lediglich über die Abläufe in der Produktion zu definieren, über die Mehrwertproduktion, die Arbeiterklasse. Das typische Bild des Arbeiters ist der Fabrikarbeiter.

Seit langem beschäftige ich mich mit Prozessen der Urbanisierung. Ich frage, wer die Stadt produziert, wer Urbanisierung produziert. Mit Henry Lefebvre und seiner begrifflichen Verschiebung vom Urbanen zur Produktion des Raumes lässt sich noch etwas weiter gehen. Die Frage, wer den Raum produziert, lenkt den Blick auf all die Menschen, die Kanäle und Straßen bauen, Bahnschienen verlegen usw. Bei der Frage, wer die Arbeiterklasse ist, geraten diese Leute schnell aus dem Blick.

Statt einer engen, auf die Fabrikarbeiter konzentrierten Definition von Klasse, sollten wir einen breiteren Zugang wählen. Viele, die die Städte produziert haben, das Urbane und den Raum hervorbringen, waren nie regulär beschäftigt. Oft waren es umherziehende Wanderarbeiter. In dieser Perspektive auf die Produktion von Urbanisierung gibt es das Prekariat schon sehr lange. Und es hat in der Geschichte oft eine bedeutsame Rolle gespielt, auch politisch. In der Pariser Kommune hatten Steinmetze und ihre politischen Organisationen eine wichtige Stellung, aber sie waren anders organisiert als die Fabrikarbeiter. Im London des 19. Jahrrunderts gehörte der Großteil der arbeitenden Menschen zum Prekariat und ihre Arbeitsbedingungen waren ganz andere als zum Beispiel in den Fabriken von Manchester. Es ist wichtig zur Kenntnis zu nehmen, dass im Konzept der Klasse immer auch Ausschlüsse mitgedacht werden und auch die marxsche Konzeption scheint mir hier eher unbefriedigend. Es ist nicht klar, warum Klasse immer vom Standpunkt der Produktion aus gedacht wurde. Die Reproduktion der Klassen findet statt in der Nachbarschaft, dem Zuhause, der Stadt und vielen anderen Orten. Die Aufrechterhaltung und Reproduktion der Klassenverhältnisse sind daher ein urbanes Phänomen. Es geht darum, das Verhältnis der Individuen zwischen ihrer Stellung in der Produktion und Reproduktion zu analysieren, denn der Standpunkt in der Reproduktion ist unter dem Aspekt der Reproduktion von Klassenverhältnissen gleichermaßen entscheidend. Wenn man sich ansieht, wie Städte funktionieren und damit Klassendistinktion, Marginalisierung und Ausschlüsse reproduzieren, erkennt man ihre entscheidende Bedeutung für die Art und Weise, wie Gesellschaft organisiert ist. Die Abläufe im Lebensraum sind darüber hinaus von enormer Bedeutung für die Erzeugung und Verteilung des Mehrwerts.

Was macht ein ›Klassen-Ereignis‹ aus? Im Januar 2008 wurden an der Wall Street 32 Milliarden Dollar an Boni ausgeschüttet, nur zwei Prozent weniger als im Jahr davor. Die Wall-Street-Manager haben also 32 Milliarden Dollar dafür bekommen, dass sie das Weltfinanzsystem in den Zusammenbruch geführt haben. Ich halte das für eine ausgesprochen gute Rendite, mir würde niemand einen solchen Betrag für totales Versagen bezahlen.

Zur gleichen Zeit haben ungefähr zwei Millionen Haushalte in den Vereinigten Staaten ihre Häuser durch Zwangsvollstreckungen verloren. Dabei gibt es auffällige Korrelationen: In Baltimore zum Beispiel waren die Auswirkungen für die afroamerikanische Bevölkerung besonders gravierend. Besonders unverhältnismäßig sind Frauen und Ein-Personen-Haushalte aus der afroamerikanischen Community betroffen. Der marginalisierte Teil der afroamerikanischen Bevölkerung erlebt den bislang größten Vermögensverlust.

Auf der einen Seite sammeln sich 32 Mrd. Dollar an, auf der anderen verlieren über zwei Millionen Menschen ihre Häuser. Wenn wir über die Verbindung zwischen diesen zwei Ereignissen nachdenken, ließe sich sagen, dass einem Teil der Bevölkerung Werte gestohlen werden, die sich bei einem anderen Teil ansammeln. Für mich handelt es sich hier um einen klassischen Fall von »Akkumulation durch Enteignung«. Zu ihrer allgemeinen Dynamik gehören massive Verluste bei den gefährdeten Teilen der Bevölkerung. Diese Verluste stehen in einem auffälligen Verhältnis zur Häufung des Reichtums am anderen Ende der Klassenhierarchie. Es wird deutlich, dass Klassenhandeln auch jenseits der Produktion Wirkung entfaltet. Deshalb spreche ich von einem ›Klassen-Ereignis‹ und diese andere Dynamik der Ausbeutung muss ins Verständnis der Klassenverhältnisse einbezogen werden. Im Kommunistischen Manifest wird das in wenigen Zeilen angesprochen: Die Ausbeutung in der Produktion wird beschrieben und dann in einem erneuten Blick festgestellt, dass noch ganz andere Menschen darauf warten, den Arbeiter ausbeuten zu können, wie etwa der Vermieter usw.

Vom Standpunkt der Reproduktion richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Händlern (kommerzielles Kapital), Grundeigentümern und anderen sozialen Klassen. Ihren Reichtum entziehen sie den Arbeitern durch ausbeuterische Praxen im Lebensraum. Mir scheint, dass eine unserer Schwierigkeiten darin liegt, diese beiden Formen der Ausbeutung zusammenzubringen und sie als Einheit zu betrachten. Solange wir diese Einheit, wie auch die Differenzen zwischen beiden Formen nicht verstehen, werden wir keine klare Vorstellung davon bekommen, von wem Alternativen auf den Weg gebracht werden können und was dafür getan werden muss. Es betrifft also die Frage des »Wer«. Die Art, wie über das Prekariat gesprochen wird, scheint bisweilen wie der Versuch, Sympathie für das ›Lumpenproletariat‹ zu entwickeln, von dem Marx oftmals abfällig gesprochen hat.

Um aber unsere Politik weiter zu entwickeln, müssen wir unser Verständnis von Klasse – und auf dieser Grundlage Klassenkampf – neu und weiter fassen. Klassenkämpfe in der und um die Stadt sind ebenso wichtig wie Klassenkämpfe in der und um die Fabrik. Auch wenn die Kämpfe an unterschiedlichen Orten stattfinden und unterschiedlichen Dynamiken folgen, besteht die Notwendigkeit, sie zusammenzuführen. Mich erstaunt zunehmend, wie schwierig es für die Linke zu sein scheint, diese Einheit innerhalb der Differenzen zur Kenntnis zu nehmen.

KRISENZYKLEN

Nun zur Frage, was zu tun ist. Die Krise ruft bereits bestimmte Antworten hervor. Zunächst bedarf es einer wirklichen Analyse der Ursachen der Krise und ihrer Entwicklung. Der Kapitalismus überkommt seine Krisenneigung niemals, sondern verschiebt sie nur. Auf eine Krise folgt mit der Zeit eine andere. In vielerlei Hinsicht reichen die Wurzeln bis zur Krise von 1970 und der daraus erwachsenen Krisenbewältigung zurück. Der Weg aus der Krise der 1970er Jahre lag in zwei Elementen, die hier nur knapp beleuchtet werden sollen. Einerseits wurde das Problem der Lohnarbeit gelöst, indem die Macht der organisierten Arbeiterbewegung zerschlagen, Beschäftigungsstrukturen flexibilisiert wurden usw. Das wurde mit einer Politik erreicht, die am treffendsten als Lohndrückerei beschrieben wird. Seit den 1970er Jahren ist die Wirtschaft von stagnierenden, z.T. fallenden Reallöhnen gekennzeichnet. Das wurde teils durch Globalisierung, teils mittels repressiver Formen erreicht, mit denen neue Segmente der Bevölkerung in prekäre und Teilzeitarbeit gedrängt wurden. In den 1970ern war die Arbeiterbewegung ein zentrales Problem des Kapitals beim Erhalt der Klassengesellschaft. Mitte der 1980er Jahre war das Problem im Großen und Ganzen gelöst; zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann keine Rede von einer übermäßigen Macht der Arbeiterklasse sein. Die aktuelle Krise kann also nicht darauf zurückgeführt werden, dass die Profite des Kapitals von der Übermacht der Arbeiterbewegung geschmälert werden. Das zweite Problem war Ende der 1960er Jahre eine übermäßige Monopolisierung. Dagegen wandte sich der Versuch, die Welt dem Wettbewerb zu öffnen und die Ökonomie stärker über Konkurrenz zu organisieren. Dies wurde teilweise durch Globalisierung, Finanzialisierung und Reorganisation der Kapitalakkumulation erreicht. Dadurch entstand eine Situation beschleunigter und intensivierter Konkurrenz. Im Ergebnis gehen die Profitraten Mitte der 1980er Jahre zurück.

Die niedrigen Löhne und Profitraten kündigen die nächste Krise an. In den 1980er wird es für die kapitalistische Klasse schwierig, ihr Geld gewinnbringend zu investieren. Wenn die Ertragsraten in der Produktion niedrig sind, müssen andere Möglichkeiten gefunden werden. Von den 1980er Jahren an wurde in großem Maßstab in Kapitalrenditen statt in die Produktion investiert. Anlagevermögen kann verschiedene Formen annehmen: Anteile, Aktien, Warenterminhandel und verschiedene Finanzinstrumente. Investitionen können auf dem Kunstmarkt oder dem Immobilienmarkt getätigt werden. Das Interessante am Anlagenmarkt ist, dass er im Unterschied zum gewöhnlichen Waren-Markt wie ein Pyramidenspiel funktioniert: Je mehr Menschen investieren, umso stärker steigen z.B. die Immobilienpreise. Je stärker die Immobilienpreise steigen, umso attraktiver erscheint es, in Wohneigentum zu investieren. Je höher die Aktien steigen, umso attraktiver erscheint es, das Geld in diese Aktien zu investieren. Die kapitalistische Klasse hat also im Allgemeinen den neu gefundenen Reichtum nicht im produktiven Bereich, sondern auf dem Anlagenmarkt investiert. Daraus entstand von den 1980er Jahren an eine Reihe von Investitionsblasen, die New-Economy-Blase der 1990er, die Aktienmarktblase in wandelnden Formen, eine Reihe von Immobilienmarkt-Blasen. Die gegenwärtige Krise ist nicht die erste, die sich um Immobilien entwickelt. Vielmehr gab es 1987, 88 und 89 große Einbrüche in den Immobilienmärkten der USA und Großbritanniens. 1982 gingen die schwedischen Banken wegen ihrer exzessiven Immobilienspekulationen bankrott, 1990 endete der japanische Boom mit einem Zusammenbruch des Grundstücks- und Aktienmarktes; seitdem fallen die Grundstückspreise in Japan. In den letzten 30 Jahren konnten zunehmend kleine Finanzkrisen und das Platzen von Investitions-Blasen beobachtet werden – neu ist allerdings die globale Dimension.

Die arbeitende Bevölkerung kann in diese Welt nur eingeführt werden, wenn man den Umstand, dass ihre Löhne nicht steigen, dadurch bearbeitet, dass ein Großteil der Bevölkerung ermuntert wird, sich zu verschulden, um so eine effektive Nachfrage auf dem Markt zu erzeugen. Der Graben zwischen dem, was mit den Löhnen gekauft werden konnte, und was die Arbeiter tatsächlich kauften, wurde durch die zunehmende Verschuldung der Bevölkerung überbrückt. Die Verschuldung der Haushalte in Großbritannien und den Vereinigten Staaten hat sich über die letzten 30 Jahre ungefähr verdreifacht. Diese besondere Konstellation hat uns jetzt eingeholt – nicht als übermäßige Macht der Arbeiterklasse, sondern eher wie in den 1930er Jahren: ein Unterkonsumptionsproblem und ein Mangel an effektiver Nachfrage auf dem Markt. Die Kapitalisten befinden sich in einer Ökonomie der niedrigen Löhne und niedrigen Profite. Im Verhältnis zur effektiven Nachfragesituation auf dem Markt produzieren sie zu viele Waren. Darin liegt der Kern der aktuellen Krise.

NEOLIBERALER VERSUS SOZIALISTISCHER KEYNESIANISMUS

Was gibt es für Auswege? Die klassische Antwort der 1930er Jahre war natürlich der Keynesianismus. Und wir befinden uns tatsächlich in einem keynesianischen Moment, ob es uns gefällt oder nicht. Die neoliberale Praxis hat sich in einigen Punkten deutlich von den eigenen Lehren unterschieden. Das betrifft z.B. das Dogma vom ausgeglichenen Staatshaushalt. Tatsächlich war die gesamte neoliberale Ära von keynesianischen Episoden gekennzeichnet. Die erste war die Staatsverschuldung, mit der Ronald Reagan die immense Ausweitung des Verteidigungs-Etats finanzierte – eine Form des Kriegs-Keynesianismus. Unter der letzten Bush-Regierung kam es zu einer Kombination aus Kriegs-Keynesianismus und einer Staatsverschuldung: eine Art umgekehrter Klassen-Keynesianismus, der sich in der Steuerpolitik zu Gunsten der oberen Klassen realisierte. Dies betrifft den Kern des Neoliberalismus: Konsolidierung und Machterweiterung der kapitalistischen Klasse. Alles andere sind Taktiken und Rhetoriken, die diesem Ziel dienen.

Ein Schlüsselelement zur Erweiterung der kapitalistischen Klassenherrschaft funktionierte über die Finanzialisierung. Seit 1982 wurde in den USA strikt an der Vorstellung festgehalten, dass im Falle eines Konfliktes zwischen dem Wohlergehen der Finanzinstitutionen und dem der Menschen, dem Wohlergehen der ersten der Vorrang zu geben sei. Dies wurde auch in den Politiken des Internationalen Währungsfonds verankert und seit dem IWF-Rettungspaket für Mexiko im Jahr 1982 verfolgt. Unser keynesianischer Moment ist also eine Fortführung neoliberaler Praktiken, die im krassen Gegensatz zu den Selbstversicherungen des Neoliberalismus stehen. Der bail-out, der in den USA und Großbritannien etabliert worden ist, ist eine Fortsetzung dieser Praktiken: Die Finanzinstitutionen und die Finanziers werden gerettet. Wer zahlt?

Die Bevölkerung. Wer stört sich daran? Nun. Bislang finden die Menschen keinen Rahmen, in dem die erlittenen Verletzungen gedeutet werden können. Wir müssen hier eine Artikulationsmöglichkeit schaffen, die deutlich macht, was verändert werden muss. Wenn wir in einem keynesianischen Moment leben, gibt es dann eine linke Version des Keynesianismus?

Marxistisches und keynesianisches Denken liegen vielfach im Widerstreit – »das ist keynesianisch« gilt oft als Synonym für »falsch«. Wir müssen überlegen, wie wir den keynesianischen Moment nutzen und politischen Gewinn daraus ziehen können. Und mit Blick auf welches Ziel? Keynes’ Auffassung war, dass die Wiederherstellung einer effektiven Nachfrage davon abhinge, dass die Arbeiterklasse auf dem Markt – nicht politisch – gestärkt würde. Das bedeutete Vollbeschäftigung, die wiederum über Arbeitszeitverkürzung erreicht werden sollte. Im Moment wird in den Medien viel über Keynesianismus diskutiert, aber darüber spricht niemand. Wenn wir aber diesen Aspekt von Keynes betonen, könnten wir sagen: Wir leiten eine großen Teil der Staatsausgaben so um, dass nicht die Banken und die Finanzinstitutionen gesichert werden, sondern nutzen es, um den Mindestlohn zu erhöhen, die Rechte der Arbeiter durch gesetzliche Verkürzung des Arbeitstages und der Wochenarbeitszeit zu erweitern. Wenn wir in all diesen Bereichen Keynesianismus voranbringen würden, könnte es gelingen, den Grund für eine andere Politik zu legen. Dafür müssen wir uns damit befassen, was derzeit die größten Schwierigkeiten zu bereiten scheint: Margret Thatcher sagte, dass sie nicht einfach die Ökonomie, sondern die Seele der Menschen verändern will. Und damit war sie verdammt erfolgreich. Die meisten von uns denken neoliberal. Am deutlichsten zeigt sich das in den Zwangsvollstreckungen: Auf die Fragen, wer für ihre Situation verantwortlich sei, was schief gelaufen sei, wer Schuld trägt, antworten Viele in den Umfragen: sie selbst. »Das war mein Fehler«, »ich hatte einen Unfall«, »ich habe meine Arbeit verloren, bin krank geworden«. Es findet sich in den bisher eingesehenen Interviews (und das ist erst ein Teil, möglicherweise müssen diese Aussagen relativiert werden) kein Hinweis darauf, dass die Menschen die Zwangsvollstreckungen als systemisches Problem denken, das auch systematisch, also durch eine Reform des Kapitalismus bearbeitet werden müsste. Das erklärt, warum die zwei, inzwischen vielleicht drei oder vier Millionen Menschen, die von Zwangsvollstreckung betroffen sind, keine politische Bewegung bilden. Sie sind einfach verschwunden. Es gibt neuerdings Organisierungsversuche, die sich als schwierig erweisen. Aber wenn diese Menschen – anders, als sie selbst es sehen – Opfer eines Klassen-Ereignisses sind, muss ein Anfang gemacht werden, um den Verlauf der Geschichte zu ändern. Politisch kommen wir hier zurück zur Frage nach dem »Wer«. Könnten die vier Millionen Menschen, die ihre Häuser verloren haben, eine politische Kraft für einen Systemwandel bilden? Es wäre denkbar, aber sie tun es nicht. Aber wir müssen beginnen, von diesem Punkt aus das Problem öffentlich zu deuten. Anfänge sind bereits zu beobachten: kleine Bewegungen für die Besetzung verlassener Häuser und das Recht der Rückkehr der vertriebenen Familien, was enteignet worden ist. Aber solange diese kleinen Bewegungen nicht wachsen, werden wir kein »Wer« haben – und werden so auch nicht benennen können, was zu tun ist.

DIKTATUR DES STAAT-FINANZ-NEXUS

Wenn wir die Situation als keynesianischen Moment fassen, wird deutlich, dass er so genutzt werden sollte, dass die Mehrheit der Menschen davon zu profitieren beginnt, statt wie bisher die Macht der kapitalistischen Klasse zu zentralisieren. Vor fünf Jahren haben die führenden Hedge-Fond-Manager in New York Vergütungen in Höhe von 250 Millionen in nur einem Jahr erhalten – jeder von ihnen. Im letzten Jahr haben vier Hedge-Fond-Manager jeweils über drei Milliarden Dollar erhalten. Wer also denkt, die kapitalistische Klasse sei in Schwierigkeiten, möge noch einmal nachdenken. Sie verliert nicht ihre Macht, sondern diese ist stärker denn je zentralisiert. Tatsächlich sind die verbliebenen Banken und Finanzinstitutionen mächtiger als zuvor; wir erleben eine Machterweiterung dieses Wirtschaftssegments. Marx und Engels sprachen sich im Kommunistischen Manifest dafür aus, die Kreditmittel in staatlicher Hand zu konzentrieren. Allerdings waren sie davon ausgegangen, dass das in eine Diktatur des Proletariats führen würde.

Tatsächlich bewegen wir uns mit der ganzen Ökonomie auf eine Diktatur der Welt-Zentralbanken zu. Innerhalb des Staatsapparates existiert ein »Staat-Finanz-Nexus«, wie ich das nennen möchte, so dass nicht wirklich unterschieden werden kann, ob man es mit dem Staat oder der Finanzwirtschaft zu tun hat. Marx hat diese Verbindung bereits im 16. und 17. Jahrhundert ausgemacht, als sich Machthaber und Bankenfürsten über Staatsschulden untrennbar verbanden. Ich war fasziniert, wie an jenem Tag im September 2008, acht Männer in einen Raum gingen, ein paar Stunden später mit drei beschriebenen Seiten zurückkehrten und praktisch von der Regierung und der Bevölkerung der Vereinigten Staaten forderten: »Gebt uns 700 Milliarden Dollar oder die Wirtschaft wird zusammenbrechen.« Das war eine Art coup d’état, ein finanzieller Staatsstreich gegen Regierung und Bevölkerung der Vereinigten Staaten. Es gab viel Streit, der Kongress war ein wenig empört, und wir erlebten einige spannungsreiche Verhandlungen. Im Grunde aber tat der Kongress nichts anderes, als die drei durch etwa 58 Seiten zu ersetzen. Die 700 Milliarden wurden überstellt. Es bildet sich eine neue Klassenkonstellation heraus, die über enorme Macht verfügt. Es lässt sich nur schwer vorstellen, wie dieser Macht begegnet werden könnte. An jenem Tag im September verschwanden interessanterweise der Präsident und der Vize-Präsident der USA, fast alle Regierungspolitiker verschwanden von der Bühne und versteckten sich. Es waren der Finanzminister und der Vorsitzende der US-Notenbank, die das Heft übernahmen und sagten: »Wir regieren, Folgendes ist zu tun.« Das ist eine Diktatur des StaatFinanz-Nexus, eine Diktatur des Finanzministeriums und der Zentralbank. Wir sind in der unglücklichen Situation, dass dieselben Stellen auch diesen unglaublichen keynesianischen Moment in der Art und Weise regeln, wie sie es tun – und sie haben beträchtlichen Rückhalt in den USA.

Mark Twain hat Ende des 19. Jahrhunderts gesagt, der Kongress sei immer der beste, den es für Geld zu kaufen gibt. Und es gibt tatsächlich etwas, was ich die Partei der Wallstreet nenne, die den politischen Apparat in Washington kontrolliert. Diese Wallstreet-Partei findet sich sowohl in der Demokratischen wie auch der Republikanischen Partei. Ein rechter Flügel bei den Republikanern stellt sich gegen sie, wie auch ein linker Flügel bei den Demokraten. Aber die Wallstreet-Partei regiert. Insofern haben wir eine Situation, in der die wichtigen Banker, das Finanzministerium und die Wallstreet-Partei mit der Wiederherstellung und Weiterführung der kapitalistischen Klassenherrschaft betraut sind, und sie halten dabei alle Trümpfe in der Hand.

Die Ansätze von Mobilisierungen dagegen sind populistisch und nicht klassenbezogen. Auch hier stellt sich die Frage, was wir tun. Wenden wir uns ab, weil die Bewegung nicht genug in der Klasse verankert ist oder versuchen wir, die sich aufbauende populare Wut über die Bevorzugung der Banken zu stützen und in eine stärker klassenbezogene Richtung zu lenken? M.E. befinden wir uns weltweit nicht in einer revolutionären Situation – vielleicht mit einigen Ausnahmen in Lateinamerika, und wer weiß, was in China vor sich geht –, was also ist zu tun? In welche Richtung drängen wir den Keynesianismus, diesen opportunistischen, Klassen-Keyenesianismus, der im Moment vorherrscht? Muss Keynesianismus insgesamt zurückgewiesen werden oder können wir nicht einzig fragen, welcher Keynesianismus es denn sein wird? Und zu wessen Gunsten wird er vorangetrieben? Gelingt es uns – wie es Keynes selbst gelang –, Argumente zu liefern, dass der Kapitalismus nur so zu retten ist? Es wäre nicht das erste Mal, dass die Linke den Kapitalismus rettet. Es mag uns nicht gefallen, aber es zeigt sich, dass ein Verzicht auf diese Rettung horrende Kosten hat.

Die kapitalistische Klasse mag getroffen sein, Warren Buffet hat ein Drittel seines Vermögens verloren, aber er hat immer noch 30 Milliarden Dollar. Diejenigen, die wirklich leiden, sind die Menschen an den Rändern. Wie in Haiti: Von dort erreichen uns Nachrichten, dass die Unterernährung zunimmt, dass Menschen verhungern, weil die Rücküberweisungen aus den USA zurückgehen. Angenommen, es wurden zuvor 100 Dollar im Monat von einem Hausmädchen in New York City überwiesen, diese 100 Dollar machen einen Unterschied von Leben und Tod. Jetzt werden nur 25 Dollar im Monat überwiesen, denn die Person in New York hat ihre Stelle verloren – es sind in diesem Fall fast ausschließlich Frauen. Vor diesem Hintergrund ist nichts Gutes daran zu sehen, »das System zusammenbrechen zu lassen«. Denn die Reichen haben ihre Arche gebaut und sie können allzu leicht auf der Flutwelle treiben. Ertrinken würden diejenigen, die schon jetzt an die Ränder gedrängt sind. Es stimmt nicht, dass die Menschen in der informellen Ökonomie, in Mumbai, Haiti oder wo immer, nichts zu verlieren haben. Sie sind verletzlich. Wir müssen eine Politik entwickeln, die diesen Zustand anerkennt.

Die Frage nach dem »Was tun?« scheint mir bei weitem nicht so tiefgreifend zu sein, wie ich es in meinen revolutionären, eher theoretischeren Momenten, gerne hätte. Wenn wir nach den potenziellen Akteuren fragen, fällt auf, dass ihnen bislang eine Vision fehlt, wie Keynesianismus in eine sozialistischere Richtung zu treiben und mit einer Klassenperspektive zu verbinden wäre. Das wäre eine andere Richtung als die Bisherige, die von Partei der Wallstreet, von den Welt-Zentralbanken und der globalen Kapitalistenklasse vorangetrieben wird. Die kapitalistische Klasse ist darauf vorbereitet, das System zusammenbrechen zu lassen, um ihre Macht zu erhalten. Darauf müssen wir kollektiv antworten. Wir sollten uns nicht einbilden, dass eine Avantgarde des Proletariats oder eine besondere gesellschaftliche Gruppe existiert, die uns aus diesem Schlamassel herausführen. Die Antworten müssen wir erst entwickeln, indem wir Koalitionen und Bündnisse aufbauen, am Arbeitsplatz, im Lebensraum. Bündnisse, die sich über die vielen Differenzen spannen und die in der Lage sind, die mögliche Einheit innerhalb dieser Differenzen zu verstehen. Darauf sollten wir m.E. alle hinarbeiten. Wenn uns das nicht gelingt, wird dieser keynesianische Moment für andere Klasseninteressen genutzt werden.

Aus dem Englischen von Jan Latza