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Was Organizing (nicht) ist

Von Kalle Kunkel und Jana Seppelt

Es gibt viele Vorbehalte gegenüber Organizing. Sie helfen uns, zu klären, was das Konzept wirklich will und kann.

Organizing ist in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem wichtigen Schlagwort in linken Debatten, in der Gewerkschafts- und Stadtteilarbeit oder der Mieter*innenbewegung geworden. Die Bedeutung von Organizing-Ansätzen für die Entwicklung der Handlungsfähigkeit der gesellschaftlichen Linken ist dabei umstritten.

Je nach Organisierungskontext und Schule existieren sehr unterschiedliche Konzepte von Organizing. Im Folgenden wollen wir kurz und recht abstrakt unser Verständnis von Organizing umreißen und uns dann mit einigen häufig vorgebrachten Vorbehalten gegen Organizing auseinandersetzen.

Unser Verständnis von Organizing

Organizing als Konzept beruht 1 // auf dem politischen Verständnis, dass die massenhafte und kollektive Aktion (seien es Blockaden, Demonstrationen, Boykotts, Streiks, Besetzungen, Volksentscheide etc.) eine zentrale Machtressource der popularen Klassen ist. Diese Aktionen wirken jedoch erst gesellschaftsverändernd, wenn sie in einen tiefgreifenden und langfristigen Prozess der gesellschaftlichen Organisierung eingebettet sind.

Organizing beruht 2 // auf einer Theorie darüber, warum und wie sich Menschen organisieren. Erst wenn Menschen die Möglichkeit sehen, dass sie durch ihre eigene Aktivität für sie wichtige Probleme ändern können, werden sie sich organisieren.

Diese theoretische Annahme wird 3 // in ein Set von Organisierungshandwerkszeug übersetzt, das diesen Prozess fördern soll: zuhörende Ansprache, Beteiligungsorientierung bei Treffen und Aktionen, die Erarbeitung von Kampagnenplänen mit machbaren Zwischenschritten, eine systematische Kartierung des Organisierungsfeldes, kollektive Verhandlungsführung und vieles mehr.

Dieses Handwerkszeug wird 4 // didaktisch so aufbereitet, dass es vermittelbar wird – Organisierung ist ein Handwerk, das gelernt werden muss. Es geht nicht einfach darum, Menschen zu finden, die ihre Mitmenschen für die Durchsetzung bestimmter Inhalte und Interessen organisieren wollen. Es geht vielmehr darum, dabei Erfahrungen zu organisieren und in der Organisierung Fähigkeiten zu vermitteln, die die Grundlagen dafür legen, dass eine Durchsetzung realistisch wird.

5 // Organizing ist eine bestimmte Art und Weise, wie Organisationen ihre Ressourcen einsetzen und Macht aufbauen: Im Mittelpunkt steht die Erweiterung der organisierten Basis und die Qualifikation der bereits Organisierten. Dies erfordert einen Auf- und Ausbau der strategischen Kompetenzen dieser Organisationen. Denn eine Aktivierung wird nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen in den Auseinandersetzungen wirklich etwas verändern können. Dies jedoch ist nicht einfach an die Entwicklung von Machtressourcen gebunden, sondern auch an deren klugen strategischen Einsatz. Kampagnen mit nicht erreichbaren oder – schlimmer noch – nicht genau definierten Zielen werden auch mit dem besten Organizing-Handwerkszeug nicht organisierend wirken.

Darüber hinaus baut Organizing eine Solidarität auf, die die konkreten Auseinandersetzungen überdauert und andere Kämpfe sowie das (politische) Verhalten in der Gesellschaft oder in der Wahlkabine beeinflussen kann.

Im Folgenden setzen wir uns mit einigen der am häufigsten vorgebrachten Vorbehalte gegen Organizing auseinander.

»Organizing ist alter Wein in neuen Schläuchen«

Meist ist damit gemeint, dass sich Menschen auch schon früher organisiert haben (oder organisiert wurden) und es natürlich in der gesellschaftlichen Linken auch ohne Organizing (Selbst-)Organisierungsprozesse gab und gibt. In den Gewerkschaften wird darüber hinaus oft auf die gewerkschaftliche Bildungsarbeit, die damit verbundene Vermittlung von Handwerkszeug sowie auf den systematischen Aufbau von Fähigkeiten Ehren- und Hauptamtlicher verwiesen (Vertrauensleuteseminare, Ausbildung von Gewerkschaftssekretär*innen).

Selbstverständlich haben Organizing-Ansätze eine Geschichte und beruhen auf den vielen Erfahrungen der gesellschaftlichen Linken. Tatsächlich sind uns jedoch – auch aus den Gewerkschaften – keine Konzepte bekannt, die systematisch die oben genannten Elemente miteinander verbinden.[ref]Erst in den letzten Jahren wurden solche Fragen systematischer in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit aufgenommen. Dies geschah jedoch in direkter Auseinandersetzung mit Organizing-Konzepten.[/ref] Organizing beschreibt für uns einen Paradigmenwechsel, denn von der politischen Theorie, Praxis und Organisation verlangt es die Haltung, dass die Organisierung von Menschen die zentrale Aufgabe ist und von allen gelernt werden muss. Die Fähigkeit zur Organisierung ist keine ›natürliche‹ Eigenschaft, die einige mitbringen und andere nicht. Organizing muss trainiert und weitergegeben werden.

So haben wir die Erfahrung gemacht, dass zwar vielen (haupt- wie ehrenamtlichen) Aktiven in den Gewerkschaften bewusst ist, dass die direkte Ansprache von Kolleg*innen wichtig ist, sie jedoch oft von ihrer Stellvertreterhaltung blockiert sind, dass sie sich dafür legitimieren müssten, indem sie etwas Konkretes ›zu bieten‹ hätten. Auch in Mieter*innenorganisierungen begegnen uns Aktive, die sich kaum trauen, Nachbar*innen zu einem Treffen einzuladen, wenn dort nicht zumindest auch eine kompetente Anwältin eine individuelle Rechtsberatung anbietet. Demgegenüber wird mit Organizing eine Haltung praktisch eingeübt, in deren Mittelpunkt das ›Angebot‹ zur Selbstermächtigung steht. Damit wird in Deutschland nun zum ersten Mal systematisch über die Instrumente diskutiert, mit denen Ansprache, Strukturaufbau und Einbeziehung von Menschen in gesellschaftliche Auseinandersetzungen gelingen.

»Organizing ist kein Allheilmittel«

Dieser Vorbehalt ist eine durchaus verständliche Reaktion auf eine gewisse messianische Grundhaltung, mit der Vertreter*innen des Organizing manchmal auftreten. Insofern ist er so banal wie richtig.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Organizing als Konzept wichtige Denkansätze, aber auch das Handwerkszeug enthält, mit denen ein zentrales Problem der gesellschaftlichen Linken angegangen und gelöst werden kann: Die Verankerung in den (all-)täglichen Begehren derjenigen, deren Interessen im kapitalistischen Alltag unter die Räder kommen. Diese Verankerung ist die wichtigste Machtressource linker Politik, ohne die Mobilisierung dieser Interessen wird es keine Veränderung geben. In diesem Sinne können vom Organizing wichtige Impulse für linke Praxis ausgehen: Wer wird eigentlich mit linken Aktivitäten sichtbar? Was müsste sich an den Kampagnen-, Öffentlichkeits- und Aktionsplanungen verändern, damit auch die Repräsentation linker Politik breiter werden kann und nicht nur medienerfahrende Aktivist*innen und Funktionär*innen abbildet? Wie unterscheiden sich Mobilisierung und Organisierung der Menschen?

Im Sinne unseres Organizing-Verständnisses stellen sich vor jedem Treffen und jeder Aktion die folgenden zwei Fragen: Erstens, nützt uns diese Aktion, um größer und stärker zu werden? Zweitens, können wir und alle anderen Aktiven etwas Neues lernen? Der Umstand, dass in vielen Kontexten zu oft die üblichen Verdächtigen die Aktiven oder Repräsentant*innen sind, zeigt eben an, dass der systematischen Weiterentwicklung von Fähigkeiten – von der Organisierung von Treffen bis hin zur Strategiebildung oder Verhandlung – zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Langfristig zielt Organizing immer darauf, dass sich Organizer*innen selbst überflüssig machen.

»Organizing dauert viel zu lange«

Dieses Argument geht oft mit einer Sympathiebekundung für Organizing-Ansätze einher, auf die ein »Ja, aber« folgt. Weil für systematisches Organizing zu wenig Zeit sei, fällt man in routinierte Arbeitsformen von Kampagnen- und klassischer Öffentlichkeitsarbeit zurück oder rechtfertigt die üblichen Repräsentant*innen. »Wir können jetzt nicht die langwierige Arbeit der Organisierung der Menschen beginnen, weil die Finanzkrise nun mal jetzt vor der Tür steht, weil die AfD jetzt ganz akut immer stärker wird oder weil wir jetzt ein gutes Zeitfenster für Verhandlungen eines Tarifvertrages haben.«

Dieses Argument ist so alt wie die deutsche Organizing-Debatte, also fast 20 Jahre. Umgedreht könnte man sagen: Hätte die gesellschaftliche Linke in dieser Zeit ihre Arbeit schon systematisch darauf umgestellt, sich über Themenkämpfe in den popularen Klassen breiter zu organisieren, hätte sie jetzt eine ganz andere gesellschaftliche Verankerung, um auf die akuten Krisen antworten zu können. Darüber hinaus: Wenn es stimmt, dass die Verankerung in den popularen Klassen die wichtigste Machtressource zur gesellschaftlichen Veränderung ist – und nicht nur der nächsten Wahlergebnisse – dann ist das auch kein Argument.

Uns drängt sich der Verdacht auf, dass sich hinter dem »das dauert zu lange« die Vorstellung verbirgt, dass grundlegende gesellschaftliche Veränderungen auch ohne die Organisierung popularer Klassen, nur durch eine veränderte Medienstrategie und andere Formen der Repräsentation oder Mobilisierung der Klasse erreicht werden könnten. Dabei ist es ja nicht falsch, dass die öffentliche Repräsentation durch charismatische Führungsfiguren oder sichtbare Kampagnen eine positive Wechselwirkung mit Organisierungsbemühungen vor Ort haben können. Diese Wechselwirkung kann sich jedoch nur entfalten, wenn diese Formen der Repräsentation auch Organisierungsprozesse widerspiegeln.

»Organizing weckt hohe Erwartungen und falsche Hoffnungen, die dann nicht erfüllt werden können«[ref]In der schlimmsten Funktionärssprache: »Sie wissen, wie man die Leute auf die Bäume kriegt, aber nicht, wie man sie wieder runterkriegt.«[/ref]

Auch dieser Vorbehalt knüpft an eine richtige Beobachtung an. Im ersten Schritt zielt Organizing tatsächlich darauf ab, Erwartungen zu erhöhen und Hoffnungen zu wecken. Es ist darauf ausgerichtet, die alltäglich gewordenen Verletzungen der Würde im real existierenden Kapitalismus bewusst in den Willen zur Veränderung zu transformieren. Organizing ermöglicht damit überhaupt erst wieder, Forderungen so radikal zu stellen, wie es die Zeiten erfordern. Dabei bleibt Organizing aber nicht stehen. Indem Organizing neben der Entwicklung der Erwartungen auch die demokratische Teilhabe an den Kämpfen und den Entscheidungen organisiert, wird es überhaupt erst möglich, dass Debatten über das Nichterreichen von Zielen nicht in Schuldzuweisungen enden, sondern in gemeinsamen Lernerfahrungen der Kämpfenden und dem kollektiven Spüren der Machtverhältnisse.

Wir haben in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen die Erfahrung gemacht, dass eine solche gemeinsame Lernerfahrung im Kampf die Voraussetzung für eine solidarische Diskussion schwierigster Kompromisse ist. Essenziell dafür ist jedoch, dass die Grenzen der eigenen Durchsetzungsfähigkeit gemeinsam erfahren und reflektiert werden. Das setzt neue Diskussions- und Beteiligungskulturen voraus. So müssen im Gewerkschaftskontext Streiks dafür genutzt werden, gemachte Erfahrungen immer wieder zu diskutieren und so zu lernen, gemeinsam Kräfteverhältnisse einzuschätzen.

»Organizing stellt eine Entpolitisierung linker Praxis dar«

…, weil es nur noch um Methoden der Organisierung geht und die Vermittlung von Inhalten sowie die Entwicklung kritischen Wissens verloren gehen. Auch dieser Vorbehalt spricht ein reales Problem an. Tatsächlich kann die Grundhaltung, Ressourcen darauf auszurichten, mehr zu werden und die Fähigkeiten der Aktiven zu entwickeln, auch technokratisch verkürzt werden – und diese Tendenz zeigt sich auch in einigen Organisationen, die auf Organizing umgestellt haben. Natürlich ist es problematisch, wenn jeden Monat Ansprachetrainings angeboten werden, die Mittel für Bildungsangebote zu kritischer Ökonomie, Feminismus oder Klimagerechtigkeit aber zusammengestrichen werden. Ebenso wäre es problematisch, wenn sich auf Konferenzen nur noch über Organisierungserfahrungen ausgetauscht würde, es aber keine inhaltlichen Diskussionen über gesellschaftliche Rahmenbedingungen und politische Analysen gäbe.

Der Vorbehalt hat jedoch auch ein Gschmäckle. Real ist es in der deutschen Linken doch immer noch so, dass ein Großteil der inhaltlichen Diskussionen und Bildungsveranstaltungen eher darauf ausgerichtet ist, den Zustand der Welt zu analysieren und zu kritisieren und höchstens theoretisch darüber zu reflektieren, welche Rolle Organizing spielen könnte. Insofern schwingt in dieser Kritik vielleicht auch eine gewisse Angst mancher Theoretiker*innen mit, dass das eigene soziale Kapital an Wert verliert, wenn praktische, soziale Fähigkeiten politisch aufgewertet werden.[ref]Unsere nicht repräsentative – aber mit internationalen Erfahrungen korrespondierende – Wahrnehmung ist im Übrigen, dass es zwischen dem Interesse an Theorieschulungen und Organizing-Trainings einen geschlechterspezifischen Bias gibt.[/ref] Tatsächlich gibt es hier aber vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen keine einfache Lösung. Es gilt also, Prioritätensetzungen konstant politisch auszuhandeln. Unsere These: Wenn sich das Theorie-Praxis-Verhältnis in der linken Bildungsarbeit von aktuell 90 zu 10 Prozent auf 70 zu 30 Prozent verschieben würde, wäre schon viel gewonnen, ohne dass die Linke darüber theoretisch ›ausbluten‹ würde.

Der Vorbehalt zielt aber noch auf eine zweite Dimension: Die politische Offenheit von Sozialtechniken. Ja, die Methode des Organizing ist offen: Beteiligung an Entscheidungen, gezielte Ansprache, Entwicklung von Kernbotschaften, Kampagnenplanung. All das ist auch ohne progressive Intentionen einsetzbar, wie wir spätestens wissen, seitdem auch Volksparteien Entscheidungen anhand von Mitgliederbefragungen treffen. Die Soziologie spricht von der Erhöhung der Inputlegitimität, die insbesondere dann notwendig wird, wenn es Repräsentant*innen schwerer fällt, ›zu liefern‹.

Emanzipatives Organizing unterscheidet sich aber von Projekten der Akzeptanzbeschaffung dadurch, dass es die Ermächtigung, die in all diesen sozialen Techniken angelegt ist, entfalten möchte – statt sie nur so weit zuzulassen, wie es für die Einbindung notwendig ist. Diese Ermächtigung beinhaltet, dass sich ein politisches Bewusstsein über die gesellschaftlichen Bedingungen der eigenen Auseinandersetzungen entwickelt. Das Argument stimmt aber insoweit, dass nicht aus jeder ›beteiligungsorientiert‹ geführten Auseinandersetzung automatisch ein erweitertes gesellschaftliches Bewusstsein erwächst. Gerade die Erfahrungen mit rechten Einstellungsmustern von gewerkschaftlichen Aktiven (wie sie derzeit in einer Studie der Universität Jena reflektiert werden) machen machen deutlich, dass die Organisierung rund um die eigenen Interessen nicht per se emanzipatorische Impulse freisetzt. Das ist aber nicht einfach ein Problem des Organizing, sondern jedes Ansatzes, der »nach Interessen organisiert und nicht nach Köpfen« (Oskar Negt).

»Organizing ist nicht nachhaltig«

Diesen Vorbehalt kennen wir vor allem aus den Gewerkschaften: »Da gibt es für viel Geld Leuchtturmprojekte, bei denen mit viel Manpower Organisierungsprozesse angestoßen werden. Aber wenn die bezahlten Organizer weg sind, bricht alles wieder zusammen.« Auch diesem Vorbehalt liegen reale Erfahrungen zugrunde.

Ein »erfolgreicher« Organizing-Einsatz sollte immer beide Anforderungen im Blick haben: Wurden die konkreten Ziele erreicht und wurden zugleich Menschen ausgebildet? In großen Projekten mit vielen personellen und finanziellen Ressourcen können in kurzer Zeit viele Menschen ausgebildet und mobilisiert werden – und natürlich auch Ziele erreicht werden. Und gleichzeitig bleibt die Frage berechtigt, welche sozialen Veränderungen in den relativ kurzen Zeitetappen

möglich sind. Denn soziale Prozesse brauchen Zeit. Kulturen in Betrieben oder Nachbarschaften verändern sich nicht über Nacht. Die Herausbildung einer politisch aktiven Subjektivität – mit allen Veränderungen in der Lebensführung, die das mit sich bringt – erfolgt nicht von jetzt auf gleich. Großprojekte haben also klare Grenzen. Deshalb ist die Ausbildung, Entwicklung und Ermächtigung von Aktiven eine langfristige Organisationsaufgabe der gesellschaftlichen Linken. Und deshalb ist es so wichtig, Organizing als Haltung zu verstehen, die auf die Veränderung der gesamten Organisationskultur zielt. Organizing ist kein Zaubertrank, mit dem in kurzer Zeit große Projektziele erreicht werden können.