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Wahlsieg des rechten Autoritarismus in Ungarn

Von Attilla Melegh

Die Wahlergebnisse vom 8. April in Ungarn sind Resultat eines komplexen Prozesses. Die Elemente waren eine Wahlrechtsreform, zugunsten der dominierenden Partei, die Zersplitterung der Opposition, die Kampagne gegen Geflüchtete und die Delegitimierung der Demokratie vor dem Hintergrund der besonderen Entwicklungen kapitalistischer Transformation in Osteuropa. Das ungarische Wahlgesetz wurde von der letzten Orbán-Regierung im Jahr 2012 geändert. Daraus ergibt sich eine Mischung aus Direktmandaten über die Wahlkreise (ohne zweiten Wahlgang) und einem Verhältniswahlrecht über Parteilisten mit einem System der Kompensation, bei der die Stimmen der Direktwahlen über einen Schlüssel auf die Listenwahl zusätzlich angerechnet werden.[1] [1]

Damit erlangt die Direktwahl überragende Bedeutung. 106 Sitze werden per Direktmandat mit einfacher Mehrheit der Stimmen in den Wahlkreisen und 93 Sitze über die Listenwahl verteilt. Es besteht eine Fünf-Prozent-Sperrklausel für Parteilisten und eine Zehn-Prozent-Sperrklausel für gemeinsame Listen von zwei Parteien. Für die Minderheiten gilt eine geringere Sperrklausel, allerdings können diese auch nur ein Mandat über die Listenwahl erhalten. Im Ergebnis gewann die FIDESZ 49,6 Prozent der Listenstimmen sowie 91 der 106 Wahlkreise. Sie erreichte damit eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Zersplitterung der Opposition

Kleinere Parteien hätten sich besser mit größeren zusammentun sollen, um gegenüber den Wähler*innen den Verlauf der Frontlinien zu verdeutlichen. Während der letzten Jahre war die Zusammenarbeit zwischen Oppositionsparteien nur schwach ausgeprägt. Es gab eine gemeinsame Wahlliste der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) und dem politisch grün ausgerichteten Dialog für Ungarn (PM). Letztere konnte mit ihrem Kandidaten für das Premierministeramt, Gergely Karácsony, der ansonsten bröckelnden größeren Partei frischen Wind zufächeln, mit begrenztem Erfolg wie sich zeigen sollte. Beide Parteien arbeiteten in den einzelnen Wahlkreisen mit der proeuropäischen und marktorientierten Abspaltung der sozialistischen Partei, der Demokratischen Koalition (DK) zusammen, indem der jeweils weniger aussichtsreiche Kandidat zurückgezogen wurde. Die kleine sozial-liberale Partei ZUSAMMEN (Együtt) unterstützte in einigen Distrikten diese Kooperation. Eine weitere Kleinpartei mit dem Namen POLITIK KANN AUCH ANDERS SEIN (LMP, links-grün und für eine partizipative Demokratie), die Bewegung Momentum Mozgalom (entstanden aus der Mobilisierung gegen die Olympiabewerbung 2017) und die radikal nationalistische JOBBIK („Die Besseren“) traten allein und mit minimaler Koordination an. Schon simple Mathematik hätte erkennen lassen, dass eine derart gespaltene Opposition keine relevante Anzahl von Sitzen gewinnen konnte. Die Wähler*innen mussten also Ratschlägen auf Internetseiten folgen, um herauszubekommen, in welcher Weise am effektivsten gegen die FIDESZ gewählt werden konnte, während die Parteien ihre jeweiligen Kandidat*innen im Rennen hielten. Eine Situation, in der die Regierungspartei den unsortierten Lauf der Opposition als chaotisch nur zu kommentieren brauchte. Selbstverständlich bedarf es einer tiefergehenden Analyse der politischen Spaltungen, um zu beantworten, weshalb die Kooperationsversuche scheiterten.

In den letzten zehn Jahren wurden die demokratischen Institutionen Ungarns entleert. Die Medienlandschaft wurde von regierungsnahen Konzernen umgewälzt, unabhängige und kritische Berichterstattung marginalisiert.  Die Unabhängigkeit der Justiz wurde eingeschränkt. Oppositionelle Kräfte versuchen dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, mit geringem Erfolg. Die Vorstellung einer offenen und demokratischen Debatte im Land ist weithin verloren gegangen. Entsprechend konnte Premierminister Orbán es ablehnen, überhaupt eine Debatte mit der Opposition oder kritischen Medien zu führen. Es gab lediglich einige marginale Diskussionen zwischen Oppositions- und Regierungspolitiker*innen der zweiten Reihe.

Das politische Leben ist polarisiert, findet in zwei weitgehend getrennten Blöcken statt: den nationalistischen und den linksliberalen politischen Block. Der nationalistische Block ist hegemonial und bestimmt das politische Terrain. Hier ist die oligarchische, gegen die EU und „gegen Migration“ ausgerichtete FIDESZ die seit den späten 2000er Jahren entscheidende Partei. Mithilfe des von ihr eigens eingeführten Wahlsystems, das die Sieger bevorzugt, kann sie heute das gesamte politische Feld dominieren: Sie erreichte die Zweidrittelmehrheit, obwohl sie faktisch nur die Unterstützung eines Drittels der Wahlberechtigten und weniger als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Die Regierungspartei hat sich dabei mehr und mehr nach rechts bewegt und dabei ihren unmittelbaren Zugriff auf Medien und demokratische Institutionen verstärkt.

Im politischen Feld hatte die FIDESZ nur einen ernstzunehmenden Konkurrenten, den JOBBIK, der sich seinerseits vom radikal rechten Flügel weg bewegt, um ein moderateres Image zu gewinnen. Beide Parteien zielen auf ähnliche Themen und soziale Gruppen (ethnische und kulturelle Homogenität, nationaler Protektionismus). Seit den frühen 2010er Jahren hat JOBBIK die Korruption und die antidemokratischen Politiken von FIDESZ fokussiert. JOBBIK unternahm große Anstrengung, um der FIDESZ ihre dominierende Position im nationalistischen Block streitig zu machen. Diese Auseinandersetzung wurde zur zentralen politischen Konfliktachse. JOBBIK erreichte 19,2 Prozent der Stimmen und 26 Sitze und verzeichnet damit leichte Verluste gegenüber den letzten Wahlen, muss ihre Führung in wichtigen ländlichen Wahlkreisen hinnehmen.

Zwei kleinere Parteien, POLITIK KANN AUCH ANDERS SEIN (LMP) und die Momentum-Bewegung, verbanden Attacken auf die FIDESZ-Regierung mit Kritik am linksliberalen Oppositionsblock von Ungarischer Sozialistischer Partei (MSZP) und Demokratischer Koalition (DK). Die beiden letzteren portraitierten sie als Repräsentanten des „alten Regimes“, welches im Zuge der Wirtschaftskrise von 2008 und 2009 zusammengebrochen war. Im Ergebnis verstärkte diese Taktik die Kritik und den Druck der Nationalisten auf das Lager von MSZP und DK. Dies führte eher zu einer Schwächung des gesamten linksliberalen Blocks, der insgesamt an Stimmen verlor. Die MSZP verlor mehr als die Hälfte ihrer Stimmen und erreichte mit 12 Prozent und 20 Sitzen nur den dritten Platz hinter JOBBIK. Die DK erreichte nur 5,4 Prozent und neun Sitze. Die LMP konnte ihr Ergebnis zwar mit 7,1 Prozent und 8 Sitzen leicht verbessern. Auch ZUSAMMEN (Együtt) erhielt nur einen Sitz. Die Opposition kam ungeachtet ihrer Programme mit starken Überschneidungen nicht zu einer verbindenden Politik. Erfrischend war immerhin die Kampagne der parodistischen Kleinstpartei Partei des zweischwänzigen Hundes, die angetreten ist, um die politische Arena mit Spott zu überziehen.

Kampagne gegen Migration

Die Zersplitterung der Opposition ist natürlich nur ein Element für den Erfolg der FIDESZ. Ein weiteres ist sicherlich ihre erfolgreiche Kampagne gegen Einwanderung und gegen die Globalisierung, mit der sie den Diskurs formte und damit auf die Empfindungen und Stimmen der unteren Klassen vor allem im ländlichen Raum zielte. Dieser Diskurs „nationaler Kontrolle“ verfing gut, gespickt mit einem bisher ungekannten Maß rassistischen Vokabulars und Denunziation der Demokratie, die eben nicht in der Lage war, den gegenwärtigen Probleme und Herausforderungen zu begegnen. Dagegen konnte der linksliberale Block weder thematische Alternativen setzen noch eine Sprache finden.

Ungarn steht besipieöhaft für jene osteuropäischen Länder, in denen es nicht gelingt, einen artikulationsfähigen linken Block und eine wirkungsvolle Kritik des globalen Kapitalismus mit seinen transnationalen Institutionen aufzubauen und im gleichen Zuge alternative, nicht-konkurrenzförmige, nicht-rassistische, solidarische und emanzipatorische Alternativen zu entwickeln. Besondere Herausforderung ist dabei die Entwicklung einer sozialen und solidarischen Einwanderungsgesellschaft, um der Angst vor der sogenannten „Migrationskrise“, als Motor eines neuen Autoritarismus (nicht nur in Ungarn), etwas entgegenzustellen. Ohne diese werden die verlassenen popularen Klassen Osteuropas manipulativen Eliten und deren passive Revolution weiter zunehmend unterstützen – in Richtung eines nationalistischen und autoritären Managements des globalen Kapitalismus.

 

Aus dem Englischen von Corinna Trogisch und Mario Candeias

 

Anmerkungen

[1] [2] Die für den Gewinn des Direktmandats sozusagen „nicht verbrauchten“ Stimmen werden als „Bruchteilstimmen” den landesweiten Parteilisten gutgeschrieben. Ein Beispiel: In einem Wahlkreis stimmen 40.000 Wähler für Kandidat A, und 20.000 für Kandidat B. Das Mandat erhält A. Die 20.000 Stimmen für den unterlegenen Kandidaten B werden komplett seiner Partei BBB gutgeschrieben, der Partei AAA von Kandidat A wird die Differenz(–1) gutgeschrieben, mit der er das Direktmandat gewonnen hat, also (40.000–20.000–1=) 19.999. Hätten beide Kandidaten nur 10 Stimmen auseinandergelegen, würden Partei AAA nur 9 Stimmen gutgeschrieben.