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Von wegen Kostenexplosion. Möglichkeiten einer solidarischen Krankenhausfinanzierung

Gespräch mit Volker Gernhardt

Die Corona-Krise hat die Probleme des derzeitigen Gesundheitssystems deutlich zutage treten lassen. Eines der wichtigsten Themen ist die Frage der Krankenhausfinanzierung. Derzeit läuft diese über ein System von Fallpauschalen (DRG, Diagnosis Related Groups), das einen permanenten Kostendruck in den Kliniken verursacht. Ob diese Art der Finanzierung erhalten bleiben soll – darum wird aktuell viel gestritten. Die Diskussion um die Krise der DRG-Abrechnung hatte schon vor Corona begonnen: So wurden etwa die Pflegekosten aus den Fallpauschalen herausgenommen. Aus Schleswig-Holstein wird nun die Forderung einer Finanzierung von sogenannten Vorhaltekosten als Grundfinanzierung für die Krankenhäuser laut. Und es gibt Überlegungen, zumindest die Kinder- und Jugendkliniken ebenfalls auszugliedern, weil ihr Bestand sonst nicht gesichert werden kann (vgl. Kunkel/Lützkendorf/Weinberg [1] in LuXemburg-Online).

Corona hat die Frage der Krankenhausfinanzierung noch einmal zugespitzt aufgeworfen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft etwa fordert, das DRG-Abrechnungssystem im Jahr 2020 auszusetzen und alle entstandenen Kosten zu refinanzieren, damit am Ende nicht die einzelnen Krankenhäuser auf den Kosten der Corona-Krise sitzenbleiben. Es gab ja schon mal eine Alternative, das sogenannte Selbstkostendeckungsprinzip. Warum wurde es abgeschafft?

Die Selbstkostendeckung ist 1972 mit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) eingeführt worden. Damals wurden neue Richtlinien zur Berechnung des Personalschlüssels aufgestellt. Das deutsche Krankenhausinstitut hat also Vorgaben gemacht, wie viel Personal pro Bett eingestellt werden muss. Das hatte einen erheblichen Aufbau an Personal zur Folge, der wegen der Selbstkostendeckung komplett durch die Krankenkassen finanziert wurde.

Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre gab es dann bereits erhebliche Auseinandersetzungen zwischen den Krankenkassen und den Krankenhausbetreibern um das Selbstkostendeckungssystem. Die Krankenkassen kritisierten eine vermeintliche Kostenexplosion im Gesundheitssystem – dieser Begriff ging damals auch durch die Presse.

Und, hat es eine Kostenexplosion gegeben?

Nein, die Beitragssätze wurden in der Zeit zwar angehoben, dafür waren aber nicht die steigenden Ausgaben in den Krankenhäusern verantwortlich, sondern die sinkenden Einnahmen der Krankenkassen angesichts hoher Arbeitslosigkeit in dieser Zeit. Dadurch mussten einfach weniger Lohnabhängige mehr Geld aufbringen. Aber die Beitragsstabilität galt auch damals als oberstes Gebot im Gesundheitswesen, denn Deutschland sollte auf den internationalen Märkten konkurrenzfähiger werden – dafür musste der Anteil an den Sozialkosten und damit auch die Krankenkassenbeiträge sinken. In der Diskussion um Kostensenkungen in den Krankenhäusern wurden dann aber erste Änderungen eingeführt, die gravierende Folgen hatten. Zunächst wurden die Reinigungen und die Küchen privatisiert, d. h. das Gesamtsystem Krankenhaus als eine der Patientenheilung dienliche Einheit wurde auseinandergenommen und in verschiedene Bereiche zergliedert. Und auch das Selbstkostendeckungsprinzip wurde damals schon infrage gestellt. Die Krankenkassen drängten sehr auf Wirtschaftlichkeit.

Was bedeutete das in Bezug auf die Personalvorgaben, von denen du gesprochen hast?

1992 wurde beispielsweise eine Pflegepersonalbemessungsregelung (PPR) eingeführt, aufgrund derer viele neue Pflegekräfte in den Krankenhäusern eingestellt werden konnten (vgl. Gernhardt [2] in LuXemburg Online). Durch ihr Drängen auf Kosteneindämmung haben die Krankenkassen aber bewirkt, dass diese PPR kurz nach Einführung wieder ausgesetzt wurde. Auch andere Bereiche wurden disziplinarisch zum sparsamen Wirtschaften gezwungen, was unter anderem dazu geführt hat, dass weiter outgesourct wurde. Alles, damit Beitragssätze stabil bleiben konnten.

Es gab damals ja sehr viele Mythen um die Selbstkostendeckung, etwa den Vorwurf, es hätte eine Verschwendung von Geldern gegeben, sie diene den Krankenhäusern als Selbstbedienungsladen. Andere versuchten die Selbstkostendeckung als Freiheitsberaubung der Patient*innen darzustellen, behaupteten also, die Patient*innen würden möglichst lange stationär behandelt, weil die Kliniken dadurch mehr Tagessätze abrechnen könnten. Was sagst du dazu? Wie funktionierte die Selbstkostendeckung tatsächlich?

Ein Krankenhaus musste auf Grundlage der Ausgaben des Vorjahres einen Wirtschaftsplan vorlegen. Es wurde aufgeschlüsselt, wie viele Fälle auf welchen Stationen in welchen Zeiträumen gelegen hatten. Für die Unterbringung der Patient*innen wurde ein Tagessatz gezahlt, also ein Basissatz, der die allgemeine Versorgung durch Küche, Reinigung und Handwerker*innen enthielt. Für Pflege und Medizin variierten die Tagessätze je nach Fachbereich.

Auf der Grundlage des vergangenen Jahres wurde also für das Folgejahr eine Prognose aufgestellt. War diese zu gering, musste nachfinanziert werden; war sie zu hoch, wurde den Krankenhäusern der zu hohe Betrag vom Budget des nächsten Jahres abgezogen. Am Ende wurden nur die tatsächlich entstandenen Kosten erstattet – kein Selbstbedienungsladen also. Das wurde sehr rigide gehandhabt. Aber finanziert wurde eben schon alles, was aus medizinischer oder pflegerischer Hinsicht als notwendig befunden und geleistet wurde. Die öffentlichen Krankenhäuser hatten damals Krankenhauskonferenzen, in denen der Senat, der Bezirk, die Krankenhausleitung, Beschäftigtenvertreter*innen und Personalrät*innen saßen. Dort wurden Budgetfragen diskutiert, aber auch Sparmaßnahmen von den Krankenkassen eingefordert und ihre Ansprüche verhandelt.

Welche Rolle hat der Bezirk gespielt?

Der Bezirk hatte früher viel mehr Einfluss auf die Krankenhauspolitik, als das heute der Fall ist. Er war Ausrichter der Konferenzen und nahm eine vermittelnde Position zwischen dem Senat, den Kassen und den Krankenhäusern ein. Auch politische Fragen waren dort Thema. Wir hatten im Krankenhaus Neukölln zum Beispiel eine der größten Krankenpflegeschulen, deren Kosten durch die Krankenkassen nicht automatisch abgedeckt wurden. Das war dann ein Thema in den Krankenhauskonferenzen, da für die Finanzierung der Schulen immer gekämpft werden musste.

Und die Krankenhausbetreiber? Welche Interessen vertraten sie mit Blick auf die Kostenfrage?

Die öffentlichen Krankenhäuser waren damals – anders als heute – keine eigenständigen Betriebe, sondern nicht selbstständige Einheiten des Senats und der Bezirke. Sie waren bemüht, ihr Renommee als Krankenhaus zu verbessern. Es gab aber auch damals schon Versuche der Krankenhäuser, sich finanziell besserzustellen. So wurden zum Beispiel Auslandspatient*innen oder Privatpatient*innen in die Häuser geholt, um zusätzliche Gelder zu generieren. Im Grunde war es jedoch so, dass die Krankenhäuser nur auf Veranlassung des Senats bzw. der Krankenkassen – also durch politischen Druck, nicht durch Profitzwang – zum Sparen gebracht wurden.

Kommen wir noch einmal zurück zum Mythos der Freiheitsberaubung. Patient*innen verbrachten in den 1980er und 1990er Jahren durchschnittlich 15 bis 16 Tage im Krankenhaus, heute ist es ungefähr ein Drittel davon. Oft wird gesagt, dass Patient*innen beispielsweise auch noch über das Wochenende dabehalten wurden, weil das für die Krankenhäuser lukrativ war. Wie erklärst du die Unterschiede in den Verweildauern?

Die Krankenkassen haben darauf gedrängt, die Verweildauern zu verkürzen, indem sie für das jeweilige nächste Jahr geringere Sätze vereinbarten. In einzelnen Fällen mag es dazu gekommen sein, das Patient*innen länger dabehalten wurden als erforderlich, weil es auch innerhalb der Häuser zwischen den Abteilungen Konkurrenz gab. Jede Abteilung wollte eine gute Bettenauslastung haben. Weil die Stationen innerhalb des Krankenhauses so mehr Ressourcen für sich beanspruchen konnten. Für einzelne Chefärzt*innen kann es dann auch Sinn machen, eine Entlassung zu verschieben. Aber das ist nicht der zentrale Punkt. Der große Unterschied in den Verweildauern erklärt sich vor allem dadurch, dass in der Pflege soziale Aspekte eine Rolle spielten, was heute nicht mehr der Fall ist. Wir hatten ein ganz anderes Pflegeverständnis. Damals diente die Pflege der Wahrung der persönlichen Integrität und der Wiederherstellung der Ressourcen der Patient*innen. Etwa indem sie dabei unterstützt wurden, nach der Krankheit ihr Leben wieder eigenverantwortlich zu Hause zu führen. Bei der Aufnahme der Patient*innen war es zudem möglich, eine ordentliche Anamnese zu machen und Planungsziele aufzustellen, die genau diese Wiederherstellung ihrer persönlichen psychischen und physischen Integrität zum Ziel hatten. Dafür braucht man Zeit, die wir damals hatten. Das findet heute nicht mehr statt. Bevor es zu diesen Fragen kommt, wird der Patient entlassen. Zu Hause ist er dann auf einen Pflegedienst angewiesen. Statt also mit Unterstützung seine Aktivität wiederherzustellen, werden bestimmte Alltagsdinge dann für ihn erledigt und er wird nicht mehr richtig selbstständig.

Warum gibt es diese Form der Pflegeplanung jetzt nicht mehr?

Technisch betrachtet gibt es sie noch. Wenn eine Patientin aufgenommen wird, bekommt sie eine Pflegediagnose und es werden Ziele aufgestellt, die darauf ausgerichtet sind, dass sie das Krankenhaus wieder so verlassen kann, dass sie sich selbstständig im Alltag zurechtfindet. Aber diese Ziele können nicht mehr erreicht werden, weil die DRG das einfach nicht hergeben. Patient*innen werden entlassen und müssen dann zusehen, wie sie sich behelfen. Das ist furchtbar, aber es ist Tatsache.

In den Krankenhäusern steht also nicht mehr eine möglichst gute Behandlung der Patient*innen, sondern ein möglichst geringer Einsatz von Kosten für die Behandlung im Vordergrund?

Das lässt sich so auch nicht sagen. Die tatsächlichen Kosten sind heute weitaus höher als früher. Wenn ich beispielsweise mit Schwierigkeiten im Bauchraum ins Krankenhaus komme und der untersuchende Arzt feststellt, dass ich auch ein bisschen komisch laufe, kann es passieren, dass auch meine Kniegelenke behandelt werden. Es ist also gängig, dass Patient*innen eine Zweitdiagnose bekommen. Dafür gibt es eine neue Berufsgruppe in den Krankenhäusern, die medizinischen Dokumentationsassistent*innen. Sie überlegen, wie man die Krankheitsbilder so zusammenfügen kann, dass am meisten Geld dabei rausspringt. Patient*innen bekommen folglich eine Behandlung, die nicht notwendig ist und sich nicht aus der eigentlichen Beschwerde ergibt, sondern daraus, dass sie dem Krankenhaus mehr einbringt. Damit es sich ökonomisch rechnet, muss diese Behandlung aber schnell gehen, da das DRG-System den Zeitraum begrenzt, innerhalb dessen der volle Fallsatz bezahlt wird. Sowohl bei kürzerer als auch bei längerer Verweildauer gibt es Abstriche. Ob die Pflegeplanung dann abgeschlossen ist oder nicht, interessiert keinen Menschen.

Im September letzten Jahres hat es im Stern einen Appell von Ärzt*innen gegeben, die genau diesen Zustand beklagen. Darin heißt es: „Das Fallpauschalensystem […] bietet viele Anreize, um mit überflüssigem Aktionismus Rendite zum Schaden von Patientinnen und Patienten zu erwirtschaften. Es belohnt alle Eingriffe, bei denen viel Technik über berechenbar kurze Zeiträume zum Einsatz kommt.“ Und weiter: „Es bestraft den sparsamen Einsatz von invasiven Maßnahmen. Es bestraft Ärztinnen und Ärzte, die abwarten, beobachten und nachdenken, bevor sie handeln.“[1] [3] Ist damit das Pflegeverständnis, das mit dem DRG-System eingesetzt hat, gut beschrieben?

Ja, das ist der Kern des Problems. Die DRG wurden eingeführt, um die Sparsamkeit im Gesundheitswesen zu erhöhen. Dieses Ziel wurde aber keineswegs erreicht. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt hatten wir früher eine Ausgabenhöhe von acht bis neun Prozent, heute sind wir bei fast zwölf Prozent, d. h. es wird im Gesundheitsbereich mehr Geld ausgegeben. Wenn man die überflüssigen Maßnahmen wegstreichen und das Geld tatsächlich zur Heilung und Gesundung von Patient*innen einsetzen würde, könnten erhebliche Summen gespart werden und wir hätten eine bessere Versorgung der Bevölkerung, als das im Moment der Fall ist.

Die Rationalität des Finanzierungsmodells hat sich in der Pflege auch auf die Ausbildungsinhalte ausgewirkt. Bestimmte Aspekte pflegerischen Handelns sind in den letzten 30 Jahren in den Hintergrund gerückt. Wenn man sich die Pflegeliteratur anschaut, wird deutlich: Das Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse der Patient*innen, das geduldige Gespräch, sich Zeit zu nehmen, Beziehungsarbeit umzusetzen, emotionale Unterstützung und soziale Aspekte, etwa den Hintergrund der Patient*innen zu erfragen, die Bedingungen der Entlassung – all das hat an Stellenwert eingebüßt. Stattdessen stehen heute standardisierte Informationsvermittlungen etwa über Ankreuzzettel im Vordergrund. Zudem soll die Pflege darüber nachdenken, was wirtschaftlich sinnvoll für das Krankenhaus ist. Was bedeuten diese Veränderungen?

Für mich ist vor diesem Hintergrund die Entwicklung im Bereich der PPR sehr wichtig, also die Frage, wie der Bedarf an Pflege in den Krankenhäusern gemessen wird. Die PPR hat zwei Bereiche: den Grundpflegebereich und den Behandlungspflegebereich. Im Grundpflegebereich (der A-Gruppe) hat die Pflegekraft die Oberhoheit – was sie sagt, muss gemacht werden. Im Behandlungspflegebereich, also der medizinischen Seite (dem S-Bereich), ist es umgekehrt. Hier bestimmt die ärztliche Seite und delegiert Aufgaben an eine ausgebildete Pflegekraft. Der Bereich, in dem Pflegekräfte selbstständige Entscheidungen treffen können, nimmt aber immer mehr ab und es wird zunehmend mehr die Behandlungslinie durchgeführt. Hilfskräfte halten Patient*innen sauber und satt, während qualifizierte Pflegekräfte umsetzen, was die Arzt*innen anordnen. Ein Irrbild der Pflege entwickelt sich da. Pflege fußt darauf, dass man die Patient*innen als Menschen wahrnimmt, die mit Schmerz, Angst oder Depression ins Krankenhaus kommen, und die in ihrer Heilung unterstützt werden sollen. Dieses Pflegeverständnis ist eigentlich auch mit der PPR einhergegangen. Die DRG-Bedingungen schließen es jedoch aus, denn sie bevorzugen die behandlungsseitige Pflege. Ob die Patient*innen selbstständig in ihre häusliche Umgebung entlassen werden, spielt keine Rolle. Das ist eine sehr schlechte Entwicklung.

Mein Eindruck ist, dass es eine ideologische Unterfütterung genau dieser Entwicklung gegeben hat: Was heute als professionelle Pflege verstanden wird, sind eigentlich medizinisch-technische und ärztliche Tätigkeiten. Das Eingehen auf die Subjektivität der Patient*innen, auf ihre Gefühlslage, die Körperpflege, aber auch die Unterstützung beim Essen, findet entweder gar nicht mehr statt oder wird an Hilfskräfte delegiert. Diese Arbeiten werden also als vermeintlich weniger qualifizierte oder gar unqualifizierte Tätigkeiten aufgefasst. Dadurch entsteht nicht nur eine stärkere Stratifizierung der Belegschaft, sondern auch eine Hierarchisierung von pflegerischen Tätigkeiten: in ihrem Ansehen, aber auch in der Bezahlung. Ideologisch unterfüttert wird dies mit dem Schlagwort der Professionalisierung der Pflege. Denn diese wird mit der Vorstellung verknüpft, dass Pflegekräfte jetzt endlich auch ärztliche Tätigkeiten übernehmen können.

Ja, gewünscht ist eine hoch qualifizierte Pflege, die fast schon eine ärztliche Ausbildung im Rücken hat, und die dann auf den kleinsten Wink der Ärzt*innen ausführt, was medizinisch erforderlich ist. Der Bereich der persönlichen Betreuung von Patient*innen fällt da hinten runter.

Du hast die Selbstkostendeckung mit der Logik der PPR und damit auch mit einem höheren Stellenwert der Grundpflege verknüpft. Warum das?

In der Patienten-Anamnese kann ich einstufen, wie es dem*der Patient*in bei der Aufnahme geht. Je schlechter es jemandem geht, desto höher stufe ich die Person in der A-Skala ein. Und je mehr medizinische Behandlung notwendig ist, desto höher wird jemand in der S-Skala, also der Behandlungspflege, eingestuft. Das ist jeweils mit Behandlungszeit in Minuten hinterlegt. Je höher ein*e Patient*in in der A-Skala eingestuft ist, desto mehr Zeit habe ich zur Verfügung, um mich einem*r Patient*in zu widmen. „Schlecht gehen“ bedeutet hier nicht nur, dass die Person vielleicht schlecht laufen und nicht selbstständig essen kann, sondern auch, dass sie Ängste hat, dass sie unter Depressionen leidet, dass sie sozial isoliert ist, dass sie nicht mehr gut sehen kann. Es lassen sich also verschiedenste Dinge eingruppieren, für die jeweils Zeit zur Verfügung gestellt wird. Im Selbstkostendeckungssystem ist es dann so: Wenn die Pflege sagt, dass sie für eine*n Patient*in viel Zeit braucht, muss das letztlich finanziell abgedeckt werden.

Und wie ist es jetzt mit den Fallpauschalen gelöst?

Hier gibt es für jede Behandlung festgelegte Pauschalen, die vom InEK, dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus, in einem komplizierten Verfahren der Durchschnittsbildung ermittelt werden. Es werden durchschnittliche Behandlungsdauer und Ressourceneinsatz zugrunde gelegt und entsprechend pauschal vergütet. Einen Ressourcenverbrauch in Bezug auf die Pflege gibt es jedoch nicht. Es interessiert also nicht der Bedarf an Pflege, denn dieser wird anders als mit der PPR gar nicht ermittelt. Die Finanzierung orientiert sich lediglich daran, was aufgewendet wurde. Was für eine*n Patient*in jeweils notwendig wäre, spielt faktisch keine Rolle mehr.

Was wäre deine Forderung in den aktuellen Auseinandersetzungen um die Finanzierung der Krankenhäuser?

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit einer Selbstkostenfinanzierung wieder zu anderen Formen des Umgangs zwischen Pflegekräften, Patient*innen und ärztlichem Dienst kommen könnten. Wir würden eine andere Qualität von Versorgung wiedergewinnen, die derzeit vollkommen von der ökonomischen Seite verdrängt wird. Darüber hinaus sollten wir ein Gewinnverbot einführen, das gab es ja auch schon mal. Erst die Möglichkeit, mit Gesundheit Gewinne zu machen, führt ja dazu, dass dieses System in eine Richtung entwickelt wird, die sich nicht mehr an den Patient*innen orientiert. Die wichtigste Forderung ist also: Keine Gewinne mit der Gesundheit – dann hätte auch eine Privatisierung von Krankenhäusern de facto keinen Sinn mehr. Damit hätten wir wieder ein Gesundheitssystem, das in öffentlicher Hand wäre, was ja auch dem gesetzlichen Auftrag der öffentlichen Daseinsfürsorge entspricht. In dem Zusammenhang kann dann auch die Selbstkostendeckung wiedereingeführt werden. Dann allerdings müssen wir noch einen Schritt weitergehen und die gesamte Finanzierung noch einmal durchdenken. Etwa das Versicherungswesen – hier brauchen wir eine Bürgerversicherung. Eine Kasse für alle, in der es keine Beitragsbemessungsgrenze gibt. Denn diese führt faktisch dazu, dass ich mit einem hohen Gehalt relativ betrachtet weniger einzahle als jemand mit einem niedrigen Gehalt, was im Sinne einer solidarischen Gesundheitsversorgung ebenso unsinnig ist. Dieses Gesamtpaket kann zu einer Gesundheitsversorgung führen, die einer staatlichen Daseinsfürsorge gerecht wird.

Wie stehen unsere Chancen dafür?

Unter den derzeitigen Corona-Bedingungen haben wir eine Chance, diese zentralen Punkte aufzuwerfen und das DRG-System wirklich in Zweifel zu ziehen, weil es sich in dieser Situation als unfähig erweist, die Gesunderhaltung der Bevölkerung auch nur halbwegs zu gewährleisten. Das zeigt, wie brüchig dieses System ist. Und es wird deutlich, dass es eben überhaupt nicht auf die Gesundung der Menschen abzielt, sondern auf die Abschöpfung von Gewinnen. Das ist eine Chance, die wir nutzen müssen.

Das Gespräch führte Julia Dück.

Anmerkung

[1] [4] Aus: „Rettet die Medizin“, Ärzte-Appell des Magazins Stern vom 05.09.2019, getragen von mehr als 50 vorwiegend ärztlichen Organisationen und Verbänden sowie über 1 500 ärztlichen Unterzeichner*innen.