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Von #metoo zu #westrike. Politik im Femininum

Von Liz Mason-Deese

Etwa ein Jahr bevor sich in den USA die #MeToo-Bewegung formierte fanden in Argentinien Massenproteste gegen das unermessliche Ausmaß sexistischer Gewalt statt, durch die dort alle 30 Stunden eine Frau getötet wird. Tausende Frauen legten am 19. Oktober 2016 demonstrativ ihre Arbeit nieder und verweigerten sich damit der ihnen zugeschriebenen weiblichen (Opfer-)Rolle sowie der Unterordnung unter die geschlechtliche Arbeitsteilung. Ihr Streik war eine Antwort auf die wachsende Zahl von Femiziden (Frauenmorden), insbesondere auf den brutalen Mord an einer jungen Frau namens Lucía Pérez. In ihrem Aufruf wiesen sie jedoch auch auf die vielfältigen Gewaltformen hin, denen Frauen in einem ausbeuterischen Wirtschaftssystem ausgesetzt sind:

»Mehr als 22 Prozent der Frauen unter 30 haben keine Arbeit. Unsere Leben sind prekär. Frauen gelten als Schlampen oder werden in den Knast gesteckt. Transfrauen werden tagtäglich auf
den Straßen verfolgt und haben kein Recht, zu arbeiten, sodass ihnen oft nur die Prostitution bleibt. Frauen werden von ihren Partnern getötet. Sie werden von ihren Eltern misshandelt oder von der Polizei geschlagen. Was wir erleben, ist eine Hetzjagd. Der Neoliberalismus testet seine Stärke an unseren Körpern. In jeder Stadt und an jedem Ort der Welt. Wir sind nirgendwo sicher.« (Ni Una Menos 2016a)

Eine halbe Million Frauen trugen an diesem 19. Oktober in Buenos Aires ihre Wut und Empörung auf die Straße und schufen
so einen Raum kollektiver Handlungsmacht. »Heute sind wir nicht für euch da«, riefen die Teilnehmerinnen ihren männlichen Genossen und Partnern zu. An diesem Tag wollten sie nur jene Arbeit leisten, die notwendig war, um zusammenzukommen und füreinander da zu sein. Der Streik ließ die vielfältigen Formen von Arbeit sichtbar werden, die Frauen täglich erledigen – bezahlt und unbezahlt, formell und informell, im Haushalt, im Büro und
in der Schule. Er brachte Frauen über ihre Differenzen hinweg zusammen und machte
es möglich, sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in ihren alltäglichen Lebens- und Arbeitsweisen zu erkennen, auch hinsichtlich ihrer Erfahrungen mit Gewalt.

Wenige Monate später demonstrierten in den USA Millionen gegen einen offen frauenfeindlichen Präsidenten. Der Women’s March war trotz seines begrenzten liberalen Fokus, trotz seiner Verengung auf die Person Trump und seines eher essenzialistischen Begriffs von »Frauen« für viele eine einschneidende politische Erfahrung. Viele begannen, die These, dass wir in einem postfeministischen Zeitalter leben, sowie die neoliberalen Aufstiegsversprechen zu hinterfragen: Wenn wir angeblich so gleichberechtigt sind, wie kann dann jemand Präsident werden, der öffentlich Frauen herabsetzt? Sie fingen an, neu über eigene Erfahrungen mit Ungleichheit, Diskriminierung und Gewalt nachzudenken, und erlebten erstmals die Kraft einer kollektiven sozialen Bewegung. Ein Ausweg aus der von patriarchaler Herrschaft und Neoliberalismus hervorgerufenen Vereinzelung wurde erkennbar.

Eine Gruppe von Latinas in den USA, überwiegend Dozentinnen und Studentinnen, hatte schon während des ersten Streiks in Argentinien über Verbindungslinien nachgedacht:

»Wir wollten Solidarität zeigen und haben schnell gemerkt, dass auch wir die Gewalt […] sichtbar machen wollen, der wir hier in den USA ausgesetzt sind. Am Tag des Streiks haben viele Studentinnen – Schwarze, Weiße und Latinas – angefangen, über ihre eigenen Erfahrungen zu erzählen. Darüber, wie sie auf der Straße, bei der Arbeit und in der Schule belästigt wurden, wie ihnen beständig gesagt wird, sie seien nicht schön oder schlau genug. Die Gewalt in Lateinamerika schien nicht so weit weg. Wir sind durch gemeinsame Erfahrungen verbunden. In einem Land wie unserem, wo wir ständig von Vergewaltigern hören, die ohne Konsequenzen davonkommen, und wo an den Unis jede sechste Frau sexuelle Übergriffe erfährt, fragten wir uns plötzlich: Was wäre, wenn auch wir streiken würden?« (Almenara et al. 2016)

Als #MeToo viral ging, stärkte dies die weltweite Organisierung von Frauen. Mit
der Verbreitung des Hashtags und der damit verbundenen Erzählungen wurde nicht nur sichtbar, was ohnehin jede Frau weiß – dass
es überall sexualisierte Gewalt gibt. Es boten sich auch neue Handlungsoptionen und
die Chance, mit einer Stimme zu sprechen. Dennoch fühlten sich viele durch den Fokus auf bestimmte Branchen oder Protagonistinnen außen vor gelassen. Eine Schwäche von #MeToo ist, dass ein Großteil der Aufmerksamkeit auf berühmte Frauen gerichtet ist, die sich individuell gegen ihre Peiniger aussprechen, und dass der Hauptfokus auf einem Wandel in den Institutionen liegt. Deshalb: Was kann die #MeToo-Bewegung von lateinamerikanischen Feministinnen lernen? Wie kann eine globale Perspektive dazu beitragen, neue Formen
der Gewalt zu erkennen und eine Politik zu entwickeln, die die Wurzeln der Ungleichheit angreift?

Populare Feminismen in Lateinamerika

In Lateinamerika organisieren sich Frauen seit Jahren gegen sexistische Gewalt und Feminizide. Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez ist nicht nur ein neoliberales Labor mit sweatshop-ähnlichen Fertigungsstätten transnationaler Konzerne, den sogenannten Maquiladoras, sondern auch Brennpunkt dieses Kampfes: auf der einen Seite US-amerikanische Unternehmen, die billige Arbeitskräfte jenseits der Landesgrenze suchen, auf der anderen Seite eine neue Klasse junger Frauen, die ihre Familien verlassen, um als Fabrikarbeiterinnen ein Stück Freiheit zu gewinnen. Seit der Einführung des Freihandelsabkommens NAFTA sind Hunderte von ihnen verschwunden, wurden gefoltert und/oder ermordet, während die Täter oftmals ungestraft davonkamen. Untersuchungen deuten auf Verflechtungen zwischen staatlichen Behörden, lokaler Polizei, Drogenhändlern und Fabrikbossen hin, die gefügige Arbeitskräfte wollen.

Angehörige und Freund*innen der Ermordeten setzten schließlich das Problem der Frauenmorde in Lateinamerika auf die Tagesordnung. Meist betrifft es arme Fabrikangestellte, Studentinnen und Arbeiterinnen im informellen Sektor, deren Verschwinden von allen – Behörden, Wissenschaft und Presse – zunächst ignoriert wurde. Deshalb weist die Protestbewegung immer wieder auf den engen Zusammenhang zwischen der brutalen Gewalt gegen Frauen und der Position von Ciudad Juárez in einem globalisierten Produktionssystem hin. Die Morde sind unmittelbar mit der ökonomischen Ausbeutung weiblicher Arbeitskraft verknüpft.

2014 schließlich entstand Ni Una Menos (»Nicht eine Frau weniger«; abgekürzt NUM) als Reaktion auf die steigende Zahl von Frauenmorden in Argentinien.1 NUM ist ein Kollektiv aus Journalistinnen, Autorinnen, Künstlerinnen und Akademikerinnen, das aber für eine größere Bewegung von Frauen unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit steht. Ihre erste gemeinsam organisierte landesweite Aktion war eine öffentliche Lesung
und damit eine künstlerische und poetische Veranstaltung. Es folgten mehrere Versammlungen, eine Großdemonstration und der erste Frauenstreik im Herbst 2016. Die daraus entstandene Dynamik führte zu Frauenstreiks am 8. März 2017 und 2018. Doch NUM zeichnet sich nicht nur durch eine besondere Mobilisierungsfähigkeit aus. Die Bewegung hat auch die Debatte über sexistische Gewalt und feminisierte Arbeit verschoben und die herrschenden Geschlechterverhältnisse auf vielen Ebenen kritisiert: auf der Straße, in der Politik und am Arbeitsplatz, aber auch in privaten Beziehungen und in den Familien.

Ni Una Menos baut auf der langen Geschichte von Frauenbewegungen in Argentinien auf, insbesondere dem jährlichen nationalen Frauentreffen und der Bewegung zur Legalisierung von Abtreibungen. Das nationale Frauentreffen findet seit 1986 in verschiedenen Städten statt und zog 2016 ungefähr 70 000 Frauen an. Die Treffen sind selbstorganisierte offene Versammlungen,
auf denen eine große Bandbreite von Themen diskutiert wird: von reproduktiver Gesundheit über häusliche Gewalt bis zur Diskriminierung am Arbeitsplatz. Die Frauen kommen aus allen Landesteilen und haben verschiedene politische, ideologische, ethnische und Klassen-Hintergründe. Von Anfang an waren Frauen aus Parteien und Gewerkschaften dabei, doch erst mit der Beteiligung von Erwerbslosenorganisationen hat sich die Klassenzusammensetzung nachhaltig verändert. Die Debatten um Abtreibung, die vorher vor allem aus einer Menschenrechtsperspektive geführt wurden, verlaufen, seitdem Slumbewohnerinnen aus erster Hand von Todesfällen durch heimliche Abtreibungen berichten, nun völlig anders.

Diese Prozesse sind Ausdruck eines neuen popularen Feminismus, der in den Wohnvierteln der Armen und Arbeiter*innen entstanden ist. Er speist sich aus der Frustration vieler Frauen, die in der Erwerbslosenbewegung, in Kooperativen oder anderen linken Kämpfen aktiv sind und dort wichtige Organisierungsarbeit leisten, doch nur selten Führungspositionen einnehmen und immer noch der Gewalt ihrer »Genossen« ausgesetzt sind. Viele dieser Frauen haben während der Wirtschaftskrise das Überleben ihrer Familien und Nachbarschaften gesichert und trotz Krise um Würde und Lebensfreude gekämpft. Nun sind sie nicht mehr bereit, ihre Ungleichbehandlung passiv hinzunehmen. Männliche Aggressoren werden öffentlich angeprangert, ähnlich wie bei #MeToo. Die Frauen eignen sich immer mehr Räume an, um sich auszutauschen und kreative Formen des Widerstands zu entwickeln.

In diesem Prozess spielen Frauen mit besonders prekären Arbeits- und Lebensbedingungen eine zentrale Rolle: Straßen- und Marktverkäuferinnen, Hausangestellte, Textilarbeiterinnen, illegal oder in der Schattenwirtschaft Arbeitende sowie Frauen, die staatliche Transferleistungen empfangen. Viele der in der informellen Ökonomie (die einen Großteil der argentinischen Volkswirtschaft ausmacht) Beschäftigten sind in der Confederación de Trabajadores de la Economía Popular (CTEP) organisiert. Während sich die meisten Gewerkschaften gegen die Idee eines Frauenstreiks sperrten, hat die CTEP ihn voll unterstützt. Und das, obwohl gerade die Prekären in einem Streik besondere Risiken eingehen, sowohl was den Verdienstausfall als auch die Repression angeht. Gerade sie haben aber besonders zahlreich am Streik teilgenommen, auch weil im informellen Bereich überwiegend Frauen arbeiten und dort das ganze Spektrum sexistischer Gewalt zu spüren bekommen.

Diese soziale und räumliche Erweiterung des Feminismus hat auch den inhaltlichen Fokus ausgeweitet. Die Forderungen nach reproduktiven Rechten und nach Gleichheit am Arbeitsplatz und in politischen Institutionen sind nach wie vor wichtig, doch es sind neue Forderungen hinzugekommen, die auf alltägliche Gewalt und Unsicherheiten zielen. Feministinnen beschäftigen sich nun mit
der Reproduktion des Lebens an sich und erkennen, wie der gegenwärtige Kapitalismus dieses Leben permanent ausbeutet, ihm
Wert entzieht und es dadurch grundlegend gefährdet.

Ein kollektives Subjekt entsteht

Ausgehend von diesen Konzepten der lateinamerikanischen Feministinnen lässt sich fragen, inwieweit die von #MeToo angeprangerten Übergriffe Teil eines größeren Zusammenhangs von Gewalt und Abhängigkeiten sind. Wie könnte zum Beispiel eine Verbindung zwischen den Kämpfen und Interessen der meist schlecht bezahlten, oftmals Schwarzen oder migrantischen Servicekräfte an amerikanischen Universitäten und den Studentinnen hergestellt werden, die ebenfalls sexuellen Übergriffen auf dem Campus ausgesetzt sind? Man kann nicht davon ausgehen, dass es einen solchen common ground von vornherein gibt – das heißt aber nicht, dass er sich nicht herstellen ließe. Das besonders Perfide an patriarchalen Herrschaftstechniken ist nämlich, dass wir uns für Gewalterfahrungen in der Regel selbst die Schuld geben und nicht darüber sprechen. #MeToo hat den Raum geschaffen, um dieses Schweigen, das uns voneinander trennt, aufzubrechen. Dabei wird nicht nur die Allgegenwart von Gewalt augenfällig, sondern auch ihr struktureller Charakter. Um die Unterdrückung von Frauen zu beenden, müssen wir diese Verbindungen aufzeigen.

Genau das formulieren Ni Una Menos
in ihrem Aufruf zum Frauenstreik 2018:

»Mit dem Instrument des Streiks können wir die Gewalt, der wir ausgesetzt sind, sichtbar machen, kritisieren und bekämpfen. Diese ist keine private oder häusliche Angelegenheit, es handelt sich vielmehr um eine Gewalt, die ökonomische, soziale und politische Ursachen hat, die die Form von Ausbeutung und Enteignung annimmt und jeden Tag schlimmer wird: Es geht um Entlassungen, um die Militarisierung von ganzen Landstrichen, um Konflikte um neo-extraktivistische Ausbeutung, um natürliche Ressourcen oder um die Erhöhung der Nahrungsmittelpreise, um
die Kriminalisierung von Protesten und von Migration.« (Ni Una Menos 2018)

Diese Verbindungen stellen sich vor
allem durch eine Praxis von regelmäßigen Versammlungen her, auf denen Frauen ihre Geschichten und Erfahrungen teilen. Sie berichten von sexueller Belästigung, von der Angst, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, vom Verharren in gewalttätigen Beziehungen. Eine Frau erzählt ihre Geschichte, die nächste bezieht sich darauf und ergänzt ihre Erfahrungen. Eine dritte, die zum Beispiel als Hausangestellte arbeitet, findet sich in der Erzählung nicht wieder und fügt eine weitere Ebene der Analyse hinzu. Auf diese Weise werden die unterschiedlichen Erfahrungen deutlich, ohne sie als unüberbrückbar zu betrachten. So entsteht Schritt für Schritt ein neues kollektives Subjekt.

Die Versammlungen finden an unterschiedlichen Orten statt: am Arbeitsplatz, in Gewerkschaften und politischen Organisationen, in Schulen und Nachbarschaften, in Städten und Dörfern. Es sind Künstlerinnen, Autorinnen, Musikerinnen, Lehrerinnen und Migrantinnen, die hier zusammenfinden. Es gibt Versammlungen, auf denen sich gezielt zwei oder mehrere Gruppen treffen, um in einen Dialog zu treten, wie beispielsweise Ni-Una-Menos-Aktivistinnen und indigene Mapuche-Aktivistinnen in El BolsÓn. Das Motto, das diese verbindet, lautet »Unsere Körper, unser Land«, denn die Enteignung von Land und Ressourcen ist direkt mit der Ausbeutung von Frauen verknüpft. Es gab Versammlungen von Gewerkschafterinnen und Frauen, die früher bei PepsiCo arbeiteten und entlassen wurden. Eine Gruppe in Buenos Aires schuf den Slogan »Wir wollen schuldenfrei bleiben« und griff damit den ursprünglich aus Ciudad Juárez stammenden Slogan »Wir wollen lebendig bleiben« auf. Dazu erläuterten sie: »Die Finanzialisierung durch Kredite und Schulden ist eine direkte Form der Ausbeutung der Arbeits- und Lebenskraft von Frauen und ihrer Fähigkeit, das familiäre und gemeinschaftliche Leben zusammenzuhalten. Die Feminisierung der Armut und die Abhängigkeit, die durch Schulden entsteht, verstärken männliche Gewalt.« Finanzielle Prekarität und sexistische Gewalt hängen unmittelbar zusammen, theoretisch wie praktisch.

Den Kern dieser Gewalt sehen sie in der Entwertung weiblicher Reproduktionsarbeit und im systematischen Angriff auf die soziale Reproduktion selbst. Der Angriff erfolgt auf unterschiedlichen Ebenen. Hierzu gehören die Verteidigung des Modells der heteropatriarchalen Familie durch rechte Regierungen überall auf der Welt, neoliberale Kürzungspolitiken, Angriffe auf sexuelle und reproduktive Rechte und schließlich direkte körperliche Gewalt gegen Frauen. Silvia Federici hat darauf hingewiesen, dass diese Gewalt nicht neu ist. Sie bildet das Herzstück des Kapitalismus, und zwar sowohl seiner ursprünglichen Akkumulation als auch seiner erweiterten Reproduktion (vgl. Federici 2018). Das bedeutet umgekehrt: Wenn sich Frauen autonom organisieren, um ihre soziale Reproduktion kollektiv abzusichern, stellt das eine gewisse Bedrohung für das Kapital dar. Denn es stellt die Trennung der Arbeiter*innen von ihren Reproduktionsmitteln infrage, die dem Kapitalismus zugrunde liegt. Die körperliche Gewalt gegen Frauen hat darum einen »pädagogischen« und einen disziplinierenden Effekt über das konkrete Individuum hinaus, wie Rita Segato (2016) argumentiert. Sie produziert gefügige Subjekte und zerstört jede Form von Widerstand gegen Herrschaft. So werden koloniale und kapitalistische Machtverhältnisse gefestigt. Heute versucht das Kapital, auf andere Art und Weise den Wert reproduktiver Arbeit abzuschöpfen, und setzt damit die Reproduktion des Lebens selbst aufs Spiel. Soziale Versorgungsnetzwerke drohen durch die Ausweitung der finanzgetriebenen Akkumulation zusammenzubrechen und vergrößern die Verwundbarkeit von Frauen.

Indem die lateinamerikanischen Feministinnen unterschiedliche Formen von Gewalt zueinander ins Verhältnis setzen, können sie auch neue Formen der Ausbeutung offenlegen und ein neues Bild der Klassenzusammensetzung zeichnen. So lassen sich Ansätze für neue Allianzen erkennen:

»Mit den beiden Frauenstreiks, die wir in weniger als einem Jahr mit Gewerkschafterinnen und anderen Organisationen auf die Beine gestellt haben, konnten wir konkrete Forderungen auf die Agenda setzen. Wir konnten die Anliegen der regulär Beschäftigten mit denen der Arbeitslosen und denen der informell Beschäftigten zusammenbringen. Wir konnten sie verbinden mit der historischen Forderung, die zahllosen unbezahlten Tätigkeiten von Frauen anzuerkennen, Care-Arbeit zu politisieren und Arbeit in selbstverwalteten Strukturen aufzuwerten.« (Ni Una Menos 2017a)

Ein richtiger Generalstreik

Aus dieser Arbeit ging der Frauenstreik hervor. Die Erklärung von NUM vom 8. März 2018 lautete: »Mit dem Instrument des Streiks konnten wir die ökonomischen Hintergründe patriarchaler Gewalt offenlegen. Außerdem war der Streik eine enorme Demonstration unserer Macht. Wir verließen die Opferrolle und erklärten uns selbst zu politischen Subjekten und Produzentinnen von Wert.« (Ebd.) Verónica Gago und Natalia Fontana schrieben zum Streik vom Oktober 2016:

»Der Begriff des Streiks wurde erweitert. Es kamen Frauen aus allen gesellschaftlichen Bereichen zusammen. […] Das hat die Fantasie der Frauen beflügelt. Sie fragten sich, wie lässt sich der Effekt eines Streiks noch verstärken und ausweiten? Was bedeutet es, zu streiken, wenn du in keiner Gewerkschaft bist, oder wenn du anderweitig organisiert bist, etwa über eine Schule oder einen Nachbarschaftsverein, oder, oder, oder.« (Fontana/Gago 2017)

Im Oktober 2016 streikten Frauen an verschiedenen Orten in Lateinamerika und schließlich am 8. März 2017 weltweit. Schnell wurde Kritik 
laut, dass es
 sich nicht um 
»echte Streiks«
 gehandelt habe,
weil sie sich
 nicht an den
 Formen traditioneller Streiks
 orientiert
 hätten. Aber wie 
sollten sie auch? 
Mariarosa Dalla
Costa hatte 
bereits 1974 
klargestellt:
»Kein Streik
 war je ein
 Generalstreik.
 Wenn die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung zu Hause in der Küche ist, während die andere Hälfte streikt, dann ist das kein Generalstreik.«

Auch das aus Madrid stammende Kollektiv Precarias a la Deriva (2016) betonte diesen Punkt, als es beim Generalstreik 2002 Frauen und prekäre Beschäftigte, die den offiziellen Streikaufrufen nicht gefolgt waren, fragte: »Wie sieht eure Form des Streiks aus?« In einer kollektiven Untersuchung arbeiteten sie die Gründe heraus, warum prekär Arbeitende an klassischen Streiks nicht teilnehmen. Sie erweiterten die Vorstellung, was ein Streik ist, auf der Basis einer erweiterten Vorstellung von Arbeit. Der Streik wurde zu einer »täglichen und vielfältigen Praxis«, die an vielen Orten stattfindet, auf der Straße, in Betrieben, aber auch zu Hause. Ein Streik von Frauen ist darum untrennbar mit den Praxen und den Prozessen verbunden, die einen Streik sonst erst möglich machen. Er eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten und verlangt einen anderen Umgang mit Zeit:

»Wir Frauen fordern unsere Zeit zurück. Wir wollen nicht länger das tun, was uns aufgezwungen wird, sondern das, was wir wollen – um uns zu finden, um gemeinsam zu denken, um das Wort zu ergreifen und um die Straßen zu besetzen, uns den öffentlichen Raum anzueignen und ihn in einen Ort der Gastfreundschaft und des freien Austauschs untereinander zu verwandeln.«(ebd.)

Eine Politik im Femininum

In einem Video zur Unterstützung des Frauenstreiks im März 2018 erläutert Silvia Federici, dass »Streiken nicht nur bedeutet, bestimmte Arbeiten zu unterbrechen. Es bedeutet auch, uns anderen gesellschaftsverändernden Tätigkeiten zu verschreiben, die über unsere Alltagssorgen hinausreichen und neue Potenziale in sich tragen.« (Zit. nach Gago 2018, XY) Welche Möglichkeiten entstehen, wenn wir für einen Tag aufhören, sexistische Hierarchien und Geschlechterrollen zu reproduzieren? #MeToo hat deutlich gemacht, wogegen wir sind. Doch was ist es, wofür wir kämpfen wollen?

Rund um den Streik selbst können
wir eine Bewegung beobachten, die Raquel Gutiérrez (2015) eine »Politik im Feminium« genannt hat. Sie ist nicht an essenzialistische Vorstellungen von Weiblichkeit gebunden, sondern bezieht sich auf die Perspektiven und kollektiven Fähigkeiten derer, die für den Schutz und die Reproduktion unseres Lebens sorgen. Es geht Gutiérrez nicht einfach um die gleichberechtigte Teilnahme von Frauen an der Politik oder um »Frauenpolitik«. Eine »Politik im Femininum« verändert die Art und Weise, überhaupt Politik zu machen. Sie zielt darauf ab, jene sozialen Verhältnisse umzuwerfen, die das Herzstück des Kapitalismus bilden, und darauf, alles zu verändern.

Eine solche Politik macht soziale Reproduktion zu einer kollektiven Verantwortung – wofür die politische Macht von Frauen gestärkt und die kapitalistische Akkumulation angegriffen werden muss. Gutiérrez’ Konzept bezieht sich zwar auch auf staatliche Macht, definiert sich aber nicht über den Zugang dazu oder die Kontrolle darüber. Es geht nicht darum, die Forderungen so zuzuschneiden, dass sie für den Staat akzeptabel werden, sondern darum, sie gemäß der eigenen Logik und den eigenen Vorstellungen zu entwickeln. Gutiérrez zufolge wird eine nicht staatszentrierte Politik »gestärkt durch die Verteidigung des Gemeinsamen. Sie drängt die Macht des Staates und das Kommando des Kapitals zurück und fördert die vielfältigen sozialen Fähigkeiten, in öffentliche Angelegenheiten einzugreifen und Entscheidungen zu treffen.« (Ebd., 89)

»Um Opfer zu sein«, schreibt Verónica Gago (2018), »müssen wir an den Staat glauben.« Eine Politik der Feminisierung lehnt die Opferrolle ab. Stattdessen bezieht sie ihre Kraft aus den Praktiken der alltäglichen Selbstorganisation von Frauen, wo nicht nur Erfahrungen geteilt werden, sondern sich auch ein neues Bewusstsein herausbildet. Dafür müssen alle Frauen und ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Wissensformen gleichermaßen wertgeschätzt werden: Es darf keine besonderen Aufmerksamkeitsräume für Superstars geben. In den Unterstützungsnetzwerken von Frauen entwickeln sich die Fähigkeiten und Beziehungen, die nötig sind, um die Normsetzungen der Macht, der kapitalistischen wie der patriarchalen, infrage zu stellen.

Eine Politik der Feminisierung ist mehr als eine Politik des Überlebens. Sie setzt an den Bedürfnissen von Frauen an und unterscheidet sich damit grundsätzlich von einer Politik, die Selbstaufopferung und Leiden verlangt. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen die eigenen Bedürfnisse im Zentrum stehen. #MeToo hat einen solchen Raum geschaffen: nicht im Sinne einer »Sexpanik«, wie einige Kritiker*innen behaupten, sondern im Sinne einer Politik, die an Bedürfnissen ansetzt: an dem Bedürfnis, nicht belästigt oder angegriffen zu werden, an dem Wunsch, über den eigenen Körper zu verfügen, sich frei von Angst auf den Straßen und zwischen Ländergrenzen zu bewegen und Beziehungen zu führen, die aus vorgegebenen Geschlechterhierarchien ausbrechen. Im Aufruf zum internationalen Frauenstreik 2017 von Ni Una Menos heißt es dazu:

»#WirWollenUnsLebendUndFrei, und deshalb riskieren wir
es, neue Allianzen einzugehen. Weil wir uns Zeit für uns selbst und füreinander nehmen, ist dies ein erster Schritt der Erleichterung und ein Austausch zwischen Verbündeten. Aus Versammlungen machen wir Demonstrationen, aus Demonstrationen Feste und aus Festen eine gemeinsame Zukunft. Weil #WirFrauenFüreinanderDaSind, ist dieser 8. März der erste Tag unseres neuen Lebens.« (Ni Una Menos 2017b)

#westrike

Wie kommen wir also von #MeToo zu #WeStrike? Zunächst müssen wir das Gemeinsame in unseren Erfahrungen mit Übergriffen, Diskriminierung und Unterdrückung betonen. Wir müssen #MeToo in einen kollektiven Forschungsprozess verwandeln, und unsere jeweiligen Positionen im Gefüge kolonialkapitalistisch-patriarchaler Macht ausloten. So werden konkrete Bündnisse erkennbar, die Widerstand ermöglichen, und in denen wir zu politischen Subjekten werden. Um das System wirklich langfristig zu verändern, um alles zu verändern, dürfen wir nicht politics as usual betreiben und uns erst Recht nicht als Opfer an den Staat wenden. Es geht um eine Politik im Femininum, die die Zeit und die Beziehungen zwischen Frauen und die so entstehenden Räume wertschätzt. Die Bewegungen in Lateinamerika zeigen uns, wie durch eine solche Politik ein neues kollektives Subjekt entstehen kann. Es ist nicht die Erfahrung der Gewalt, die uns definiert. Es ist der gemeinsame Kampf gegen diese Gewalt, der unser Wir ausmacht.

 

Dieser Text erschien zuerst in dem Sammelband »Where Freedom Starts: Sex Power Violence #MeToo« bei Verso Books, März 2018. Dies ist eine leicht gekürzte Fassung. Aus dem Englischen von Johannes Liess

 

Literatur

Anmerkungen

1 Anm. d. Red.: Die entsprechende Bewegung
im deutschsprachigen Raum nennt sich #Keinemehr (keinemehr.wordpress.com [1]).