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Von Detroit zum Amazonas – Eine Reise durch die Ruinen des Imperiums


von Greg Grandin

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Fordlandia, Foto: Mélété

Das Imperium endet mit einem Rückzug. Nicht, wie viele vor ein paar Jahren dachten, aus dem Irak, sondern aus Detroit. Der eigentliche Rückzug von Motor City begann bereits vor Jahrzehnten als Ford, General Motors und Chrysler damit begannen, ihr operatives Geschäft aus der Innenstadtgegend in die schwieriger gewerkschaftlich zu organisierenden ländlichen Gegenden und Vororte und schließlich nach Übersee zu verlagern. Selbst als die Wirtschaft in den 1950er und 60er Jahren noch boomte verließen bereits 50 Detroiter am Tag die Stadt. 1989 gab es Tausende Baulücken und über 15.000 verlassene Wohnhäuser zu bestaunen. Hinreißende Gebäude wurden ver- und der Natur überlassen, die sie mit Gras überzieht, nunmehr kunstvoll verzierte Vogelhäuser.

In mythologischer Hinsicht bleibt Detroit jedoch die Geburtsstätte des sagenumwobenen amerikanischen Kapitalismus. Es gibt unzählige Untersuchungen darüber, was in der amerikanischen Autoindustrie schief gelaufen ist und ebenso viele schwelgende Erinnerungen an die Wunderjahre Detroits. 2008 gab die Ikone Clint Eastwood mit seinem Film Gran Torino der Ikone des weißen Autoarbeiters das letzte Geleit. Jedoch konnten nur wenige dieser post mortem Analysen vermitteln, welche immense Bedeutung Detroit für die Außenpolitik der USA hatte – nicht allein als Anker seiner hoch-technologischen, hoch-profitablen Exportindustrie sondern als Bekräftigung des amerikanischem Selbstverständnisses als die führende Weltmacht.

Aus Detroit kam nicht nur ein nicht versiegende Flut an Symbolen der kulturellen Macht Amerikas,  von dort kam auch das organisationale Know-How, um ein großes Industrieunternehmen – oder ein Imperium – wie eine Autofabrik zu steuern. Der Präsident von General Motors, „Engine“ Charlie Wilson, wird gerne mit dem Satz zitiert, dass, was für Amerika gut sei, „gut für General Motors sei und umgekehrt“. Nur selten wird daraufhin hingewiesen, dass er dies anlässlich seiner Bestätigung als Verteidigungsminister unter der Regierung Eiswenhowers sagte. Im Pentagon sollte Wilson das bürokratische Unternehmensmodell von General Motors den Streitkräften aufzwingen, sie dadurch modernisieren und fit für den Kampf im Kalten Krieg machen.

Nach General Motors war Ford an der Reihe, die Zügel in die Hand zu nehmen. John F. Kennedy griff auf Robert McNamara und seine „Wunderkinder“ zurück, um die amerikanischen Truppen auf einen „langen Kampf, Jahr ein, Jahr aus“ vorzubereiten. McNamara benutzte Fords Herangehensweise des integrierten „Produktionsmanagement“ dafür, vom Himmel über Vietnam, Laos und Kamboscha aus, „mechanisierte, entmenschlichte Schlachten“ zu führen, wie es der Historiker Gabriel Kolko ausgedrückt hat.

Vielleicht sollten wir die Ruinen in Detroit als amerikanisches Forum Romanum betrachten. So wie uns Roms Triumphbögen an längst vergangene imperiale Siege in Mesopotamien, Persien und anderswo erinnern, so beschwören  Motowns baufällige Gebäude Amerikas schnell schwindende Vormachtstellung.

Zu  den imposantesten gehört Henry Fords Fabrik Highland Park, die seit den späten 1950er Jahren verlassen und verrammelt da liegt. In diesem Gebäude perfektionierte Ford die Fließbandproduktion – bis zu 9000 Ford „T“ wurden hier am Tag gebaut – und katapultierte die USA um Lichtjahre in Führung. Dies war auch der Ort, an dem Ford seinen Arbeitern fünf Dollar am Tag zahlte und eine der am schnellsten wachsenden, wohlhabendsten Wohngegenden der amerikanischen Arbeiterklasse mit Häusern im Arts-And-Crafts-Stil schuf. Heute sieht Highland Park wie ein Kriegsgebiet aus. Die Straßen sind mit Glassplittern bedeckt und von abgebrannten Häusern gesäumt. Über 30 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut, die Arbeitslosenquote liegt bei über 20 Prozent oder anders ausgedrückt, das mittlere Einkommen liegt unter 20.000 Dollar.

Als Mahnung, dass das nicht immer so war, prangt auf der Fordfabrik eine Denkmalschutzplakette: Die Massenproduktion verbreitete sich von hier aus schnell in alle Phasen der amerikanischen Industrie und setzte das Maß für Wohlstand und Überfluss der Lebensführung im 20 Jahrhundert.

Amerika im Amazonas

Um wirklich zu verstehen, wie tief Amerika von den Gipfeln seiner wirtschaftlichen Größe gefallen ist, und um zu verstehen wie dieser Größenwahn zu erstaunlich wahnwitzigen Taten führte, ist eine Reise durch eine andere Ruinenlandschaft empfehlenswert: weit entfernt vom „Rostgürtel“ des Mittleren Westen in die Tiefen des brasilianischen Regenwaldes im Amazonas.  Dort steht mit  tropischen Reben bewachsen Henry Fords Vermächtnis an den Glauben, dass der American Way of Life problemlos überall hin exportiert werden und selbst an den wildesten, entlegensten Orten des Planeten gedeihen kann.

Ford besaß Wälder in Michigan sowie Minen in Kentucky und West Virginia, die ihm Kontrolle über die natürlichen Ressourcen verschafften, die er für die Autoherstellung benötigte. Alle außer Gummi. 1927 erwarb er im Amazonas einen Pachtvertrag für ein Stück Land von der Größe eines kleinen US-Bundesstaats. Anders als die anderen Gummiverwerter hatte Ford Großes vor. Er fühlte sich dazu berufen, nicht nur „Gummi sondern auch die Gummibauern“ zu kultivieren. Amerikana in Amazonien. Für die brasilianischen Arbeiter ließ er mit Schindeln bedeckte Häuser bauen. Er drängte sie dazu, Blumen- und Gemüsegärten anzulegen, Vollkornbrot, ungeschälten Reis, Dosenpfirsiche aus Michigan und Haferbrei zu essen. Mit angemessenem Stolz taufte er seine Dschungelstadt Fordlandia. Am Wochenende organisierte das Unternehmen Square Dancing und Lesungen amerikanischer Dichtung. Das Unternehmenskrankenhaus versorgte Arbeiter und Besucher unentgeldlich. In Fordlandia gab es einen zentralen Platz, Bürgersteige, Sanitäranlagen in den Häusern, gestutzte Rasen, ein Kino, Schuhgeschäfte, Eisdielen und Parfümerien, Schwimmbäder, Tennisplätze, einen Golfplatz und selbstverständlich fuhr auf den asphaltierten Straßen der Ford T.

Das Aufeinanderprallen zwischen Henry Ford, dem Mann der die industrielle Fertigung auf ihre einfachsten Bewegungen minimiert hatte, um eine Serie endlos gleicher Produkte zu ermöglichen, wo das erste vom millionsten nicht zu unterscheiden war, und dem Amazonas, dem kompliziertesten und facettenreichsten Ökosystems der Welt, trug in seiner Absurdität Züge eines Chaplin-Films und führte zu einigen filmreifen Missgeschicken. Brasilianische Arbeiter lehnten sich gegen den Forschen Puritanismus und die Natur gegen die industrielle Einhegung auf.  Unter der Leitung inkompetenter Manager, die nichts vom Gummianbau verstanden und noch weniger von Menschenführung, war Fordlandia in den ersten Jahren geplagt von Laster, Messerkämpfen und Aufständen. Bordelle und Bars breiteten sich an seinen Rändern aus.

Letzten Endes gelang es Ford, Kontrolle über sein Lehen zu erlangen, aber weil er darauf bestand, dass seine Manager die Gummibäume in engen Reihen anbauten, so wie er in seinen Detroiter Fabriken die Maschinen eng nebeneinander aufstellte, schaffte er die Bedingungen für ein explosionsartiges Wachstum von Käfern und Braunfäule, die schließlich die Plantage zerstörten. Im Laufe von beinahe zwei Jahrzehnten versenkte Ford Millionen von Dollars in seinem Versuch, seine Dschungelutopie des American Way umzusetzen, doch nicht ein Tropfen Fordlandia-Latex schaffte es jemals in einen Ford.

Das Gruseligste daran ist, dass heute die Ruinen von Fordlandia denen in Highland Park und anderen Städten sehr ähnlich sehen, in denen sich das Leben einst um eine Fabrik drehte und die heute von Gras überwuchert sind. Es gibt tatsächlich eine etwas unheimliche Ähnlichkeit zwischen Fordlandias rostenden Wassertürmen, zerfallenen Sägewerken und leer stehenden Kraftwerken und den Hülsen derselben Strukturen in Iron Mountain, einer wirtschaftlich am Boden liegenden Industriestadt im Norden Michigans, die auch einmal eine Ford-Stadt war. Nicht weniger als das Wrack Detroit ist Fordlandia ein Monument für die Titanen des amerikanischen Kapitals – keiner größer als Ford, der glaubte, dass die USA ein allgemein gültiges und weltweit anerkanntes Vorbild für den Rest der Menschheit ist.

Gang in die Wildnis

Es wäre einfach, die Geschichte Fordlandias als eine Parabel über Arroganz zu lesen. Sich seiner Bestimmung gewiss und mit einer fehlenden Neugier auf eine Welt, die nur zu bekannt schien, wies Ford alle Expertenratschläge zurück und zog aus, den Amazonas zu dem Mittleren Westen seiner Vorstellungskraft zu machen. Je mehr das Projekt in seinem Zweck, Gummi anzubauen, scheiterte, desto nachhaltiger verteidigte die Unternehmensleitung es als eine zivilisatorische Mission. Man kann sich das als eine Vorschau auf die Rechtfertigungen vorstellen, warum die USA in den Irak einmarschierte. Und doch schneidet Fordlandia tiefer in das Mark der amerikanischen Erfahrung als das.

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Fordlandia heute, Foto:Guido Otero/flickr

Vor über 50 Jahren hielt der Historiker Perry Miller eine Rede mit dem Titel „Gang in die Wildness“, in der er zu erklären versuchte, warum die englischen Puritaner in die Neue Welt aufbrachen anstatt etwa nach Holland. Sie seien nicht nur deshalb in die Neue Welt aufgebrochen, um der anglikanischen Kirche zu entkommen, sondern um die protestantische Reformation des Christentums, die in Europa ins Stocken geraten war, zu vollenden und England ein Model für eine reinere Gemeinde zu sein. Die amerikanische Expansion war von Anfang an von einer tiefen Unruhe geleitet, einem Gefühl, dass zuhause „etwas falsch gelaufen war“

Die Gründung Fordlandias war von einer vergleichbaren Unruhe angetrieben, ein nagendes Bewusstsein davon, dass, selbst in den guten Zeiten, den besten aller Zeiten, „etwas falsch gelaufen war“ in Amerika. Als Ford zu seinem Abenteuer im Amazonas aufbrach hatte er bereits den größten Teil zweier Jahrzehnte und große Teile seines riesigen Vermögens darauf verwendet, die amerikanische Gesellschaft zu reformieren. Seine Frustration und Unzufriedenheit mit Innenpolitik und Kultur sind Legende. Krieg, Gewerkschaften, Wall Street, Energiemonopole, Juden, moderner Tanz, Kuhmilch, die Roosevelts, Zigaretten und Alkohol nahm er ins Visier und zum Anlass von Klagen.  Doch unter all diesen phantasierten Ärgernissen schwelte der Tatbestand, dass die Mächte des Industriekapitalismus, die er zu entfesseln half, die Welt, die er wieder herstellen wollte, untergruben.

Ford predigte mit der Überzeugung eines Pastors seine Wahrheitslehre: steigende Produktivität und steigende Löhne werden die Plackerei der Menschheit mildern und eine wohlhabende Arbeiterschaft hervorbringen, und Unternehmensprofite werden durch ständig wachsende Nachfrage durch die Verbraucher realisiert. Ende der 1920er war der Fordismus wie seine Idee genannt wurde synonym mit Amerikanismus und Quell des Neids der ganzen Welt, weil er scheinbar den Industriekapitalismus menschlich gemacht hatte.

Aber der Fordismus enthielt die Saat für seine eigene Zerstörung in sich selbst: die Zergliederung des Produktionsprozesses in immer kleinere Aufgaben machte es in Verbindung mit schnellen Veränderungen in Transport und Kommunikation möglich, dass Hersteller aus der von Ford eingeführten Gleichung von hohen Löhnen und großen Märkten ausbrechen konnten. Güter konnten an einem Ort hergestellt und an einem anderen verkauft werden wodurch der Anreiz für Unternehmer verschwand, den Arbeitern Löhne zu zahlen, von denen sie die Waren kaufen konnten, die sie hergestellt hatten.

Rom zerfiel zu Ruinen als das Reich auseinander brach. In den USA begann der Zerfall von Detroit als das Land noch zu neuer Größe als Supermacht wuchs.

Fordlandia, Foto: Méduse [3]

Fordlandia, Foto: Méduse

Ford spürte diesen Zerfall früh und reagierte darauf indem er versuchte, ihn auf zunehmend exzentrische Weise zu verlangsamen. In Michigan führte er dezentralisierte „Dorf-Industrien“ ein, die Farm- und Fabrikarbeit in ein Gleichgewicht bringen und das kleinstädtische Amerika retten sollten. Doch seine Pfarrgemeinden waren der rohen Macht des Wandels, den er selbst so vorangetrieben hatte, nicht gewachsen. Also wandte er sich dem Amazonas zu, um dort seine Stadt auf dem Berg zu errichten – oder in diesem Fall, eine Stadt in einem tropischen Flusstal. In einem letzten verzweifelten Versuch versuchte er, die verschiedenen Stränge seines Utopismus zum Erfolg zu bündeln.

Vor beinahe einem Jahrhundert bemerkte der Journalist Walter Lippman, dass Henry Fords Streben, die Welt zu erneuern, eine weit verbreitete Form „primitiven Amerikanismus“ darstelle, der durch seine Erfolge verstärkt werde, und er kommentierte sarkastisch: „Warum sollte der Erfolg in Detroit nicht auch den in Bagdad garantieren?“ Wir kennen die  Zerstörung, die über Detroit gekommen ist. Quo vadis, Bagdad? Quo vadis, Amerika?

 

Aus dem Englischen von Catharina Schmalstieg