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VON DER ÜBERSCHULDUNG ZUR ENTSCHULDUNG

Von Peter Dreier

KOMMMUNALE STRATEGIEN FÜR EINE ANDERE KRISENREGULIERUNG

In Richmond (Kalifornien) sind die Eigenheimpreise von ihrem Höchststand um 58 Prozent abgestürzt. Die Stadt geht nun einen neuen Weg, um Eigenheimbesitzern bei der Refinanzierung zu helfen und das Abrutschen in die Zwangsvollstreckung zu verhindern. Im Jahr 2005 zahlten Rodney Conway und seine Frau Vicki 340 000 US-Dollar für ihr knapp 90 Quadratmeter großes Haus in Richmond, einer Arbeiterstadt in der San Francisco Bay Area. Heute ist das Haus noch etwa 140 000 Dollar wert. Aber das Paar ist weiterhin mit 320 000 Dollar verschuldet und zahlt für diese Summe monatliche Zins- und Tilgungsraten an die Bank of America. »Im Grunde mieten wir dieses Haus für 2 000 Dollar im Monat«, sagt der 52-jährige Conway, der 1983 vom Dienst auf einem US-Navy-Schiff im Libanon-Einsatz als Invalide zurückkehrte.

Mit ihrem Bürojob und seiner Erwerbsunfähigkeitsrente kommen die Conways gerade so über die Runden. »Wir machen keine Ausflüge und gehen auch nicht essen. Vor kurzem waren wir zum ersten Mal in diesem Jahr im Kino«, sagt Conway, der 26 Jahre als Postbote gearbeitet hatte, bevor er 2009 entlassen wurde. »Ich würde meiner Frau gern ein nettes Geburtstagsgeschenk machen, aber das kann ich mir nicht leisten.«

In fast allen Landesteilen steht ganzen Stadtvierteln – manchmal ganzen Städten – das Wasser bis zum Hals. Sie sind nicht Opfer von Naturkatastrophen, sondern kämpfen wie die Conways mit Verschuldung: Sie sind Opfer der rücksichtslosen Kreditvergabepraxis der Wall Street.

Seit 2006, als die spekulative Immobilienblase platzte, sind die Eigenheimpreise in den Keller gerauscht. Hausbesitzer haben Vermögen von mehr als sechs Billionen Dollar verloren. Viele müssen nun Hypothekendarlehen zurückzahlen, die den Wert ihrer Häuser weit übersteigen. Obwohl die Immobilienpreise in einigen Landesteilen wieder steigen, sind mehr als elf Millionen amerikanische Familien – ein Fünftel aller Hausbesitzer mit Hypotheken – immer noch unverschuldet überschuldet. Wenn nichts unternommen wird, werden viele von ihnen irgendwann zu den mehr als fünf Millionen Hausbesitzern gehören, die ihr Heim durch die Zwangsvollstreckung bereits verloren haben.

Die schlimmsten »Überschuldungsbrennpunkte« des Landes sind die Gegenden, die die Banken für ihre rücksichtslose Kreditvergabe im Fokus hatten – dies sind überdurchschnittlich viele Viertel mit schwarzer und Latino-Bevölkerung. Dort drängten sie die Kreditnehmer oftmals in riskante Hochzinsdarlehen, selbst wenn für die Leute konventionelle Hypotheken infrage gekommen wären. Viele haben nun infolge der Wirtschaftskrise ihre Jobs verloren oder mit Einkommenskürzungen zu kämpfen und haben Schwierigkeiten, ihre Rechnungen zu bezahlen.

Dallas, Las Vegas, Miami, Houston, San Bernardino, Tampa, Jacksonville, Phoenix, Atlanta, Orlando, Stockton, Reno, Modesto und Detroit, um nur einige Beispiele zu nennen, gehören zu den brisantesten Brennpunkten – eine Reihe von mittleren und Großstädten an der Westküste und im Westen, in den Südstaaten und im ehemaligen Industriegürtel der großen Seen im Norden der Vereinigten Staaten. Aber es gibt noch viele andere Kommunen mit einem großen Bestand an überschuldeten Hypotheken. Und dort erholen sich die Eigenheimpreise derzeit auch nicht.

Kommunen im Teufelskreis

Das Problem ist ansteckend: In den Kommunen mit vielen überschuldeten Hausbesitzern fällt auch der Wert anderer Häuser. Laut einer Studie des Center for Responsible Lending haben allein die Zwangsvollstreckungen in umliegenden Vierteln zu einem Verfall von Eigentumswerten in Höhe von zwei Billionen Dollar geführt. Der daraufhin einsetzende Einbruch der Grundsteuereinnahmen hat viele Städte nahezu in den Bankrott geführt, es folgten Entlassungen und Einschnitte bei zentralen öffentlichen Dienstleistungen.

Viele Wirtschaftswissenschaftler, darunter der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz (vgl. LuXemburg 2/2013, 22ff) und der Finanzanalyst Mark Zandi, stimmen darin überein, dass ein »teilweiser Forderungsverzicht« die beste Lösung wäre. Das würde heißen, die Banken senken die Hypothekensumme des Kreditnehmers. Dies wäre aber kein Akt der Barmherzigkeit, sondern ein Weg, den ökonomischen Absturz aufzuhalten und umzukehren. Würden die überschuldeten Hypotheken an den Marktwert der Häuser angeglichen werden, würde das sowohl den Hauseigentümern als auch den Kommunen helfen und, laut einem Bericht der Home Defenders League, jährlich rund 102 Milliarden Dollar in die Wirtschaft pumpen. Die Banken würden damit nämlich nicht mehr Verluste einfahren als mit Zwangsvollstreckungen, deren Erlös den Marktwert regelmäßig nicht übersteigt, die Hypothek aber vollständig tilgt.

Die Hauseigentümer, die bei den Banken wegen einer Anpassung ihrer Hypotheken vorsprechen, haben aber oft mit eiskalter Ablehnung oder mit einem bürokratischen Dickicht zu kämpfen. Bisher waren die Obama-Administration und der Kongress nicht willens, unnachgiebige Banken auf eine Darlehensangleichung zu verpflichten.

Kommunales Bündnis

Angesichts dieses Teufelskreises nehmen immer mehr Städte – unterstützt von Bürgerinitiativen und Gewerkschaften – die Angelegenheit selbst in die Hand. Dank einer juristischen Expertise, die ursprünglich von Robert Hockett, Jura-Professor an der Cornell University, verfasst wurde, haben Kommunalpolitiker erkannt, dass sie hier ihr Recht auf »Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit« ausüben können, um überschuldete Hypotheken zum aktuellen Marktwert aufzukaufen und sie wieder an die Eigentümer zu verkaufen: zu einem reduzierten Preis und mit verringerten Monatsraten. Für gewöhnlich wird das Enteignungsrecht wahrgenommen, um Grundstücke für Gehwege, Infrastrukturmaßnahmen, Schulneubauten und ähnliche Projekte zu erwerben.

Richmond ist die erste Stadt, die nun diese Strategie verfolgt. Der Stadtrat – unterstützt von der Bürgerinitiative Alliance of Californians for Community Empowerment (ACCE), die seit Jahren schon Hauseigentümer gegen rücksichtlose Banken organisiert (vgl. Ogman in diesem Heft ) – stimmte unlängst mit sechs Stimmen und ohne Gegenstimme dafür, Kaufgebote für überschuldete Immobilien abzugeben. Sollten die Gläubiger ablehnen, wird die Stadt sie enteignen und entschädigen. In Zusammenarbeit mit einer Gruppe freundlicher Investoren, den Mortgage Resolution Partners (MRP), wird sie die Darlehen dann über die Federal Housing Administration (FHA) refinanzieren.

In Richmond leben 103000 Menschen, die Stadt ist geprägt von einer großen Chevron-Ölraffinerie. Allein im vergangenen Jahr haben hier Hausbesitzer Vermögensverluste von mehr als 264 Millionen Dollar erlitten. Tausende Hausbesitzer haben ihre Häuser durch die Zwangsvollstreckung verloren, andere – wie die Conways – klammern sich noch an ihre Grundstücke. Rund 12000 Familien – die Hälfte aller Hausbesitzer, die Hypotheken aufgenommen haben – sind überschuldet. Die Stadtverwaltung büßte Millionen Dollar an Grundsteuereinnahmen ein, sie kürzte das Budget für die Instandhaltung von Straßen und entließ zahlreiche Kommunalbeschäftigte (darunter auch Bibliotheksangestellte). Gleichzeitig musste sie öffentliche Gelder aufwenden, um verlassene Gebäude, Drogenkriminalität und andere Probleme in den Griff zu bekommen, die mit der Zwangsvollstreckungsepidemie einhergehen.

Würden die Banken die überschuldeten Hypotheken in Richmond an den Marktwert angleichen, würden die Hausbesitzer durchschnittlich mehr als 1 000 Dollar im Monat an Zinszahlungen und Tilgungsraten sparen. Diese Ersparnisse könnten für lokale Güter und Dienstleistungen ausgegeben werden, was eine Finanzspritze für die Wirtschaft von rund 170 Millionen Dollar wäre. Außerdem würden mindestens 2 500 Arbeitsplätze geschaffen.

Die Situation ist besonders für jene Hausbesitzer bizarr, deren Hypotheken von den Banken an private Investmentfonds verkauft wurden – ein Schachzug, dem die Branche den schönen Namen »privat gesichertes Wertpapier« (private label security, PLS) gab. Die Treuhänder dieser Hypotheken – die den dutzenden oder hunderten fernab angesiedelten Fondsinvestoren verpflichtet sind – behaupten, sie hätten keine Vollmacht, die Hypotheken zu ändern. Richmond hat als erstes diese PLS-Darlehen im Fokus. MRP, der Kapitalbeschaffungspartner von Richmond, hat einer Reihe von Prinzipien zugestimmt, die von der Kommune aufgestellt wurden und sicherstellen sollen, dass die Investoren verzweifelte Städte und Hauseigentümer nicht übervorteilen. MRP wird pro Hypothek lediglich eine Pauschalgebühr erheben und versicherte unter anderem, dass das Projekt den Steuerzahler nicht einen Cent kosten werde. Hauseigentümer können aus dem Programm aussteigen, wann immer sie wollen.

Finanzlobby nicht Erfreut

Seitdem im vergangenen Jahr mehrere Städte diese Strategie diskutiert haben, schlagen die Branchenlobbyisten zurück. In einer konzertierten Aktion, die Briefe, Anrufe und Meetings umfasste, haben einige der mächtigsten Lobbygruppen des Landes – darunter die National Association of Realtors (Immobilienmakler), die American Bankers Association (Banken), die National Association of Home Builders (Bauwirtschaft und -finanzierer), das American Securitization Forum (Finanzdienstleistungen) und die Securities Industry and Financial Markets Association (SIFMA, Finanzdienstleistungen) – versucht, Kommunalpolitiker von der Enteignungsstrategie abzubringen.

So reisten beispielsweise die SIFMA-Vertreter Kim Chamberlain und Tim Cameron im April 2013 von New York nach Richmond, um Bürgermeisterin Gayle McLaughlin und ihre Ratskollegen zum Rückzug zu bewegen. »Wir lassen uns von diesen Wall-Street-Leuten nicht einschüchtern«, sagte MacLaughlin, eine ehemalige Lehrerin, die seit 2006 das Bürgermeisteramt bekleidet. »Es ist eine Schande, dass sie sich dem widersetzen. Sie sind es, die diese Krise in erster Linie verursacht haben. Und sie haben keine Lösung. Die Stadt hat jedes Recht, diesen Schritt zu tun.«

Die Lobbyisten drohten, die Kommunalregierungen in kostspielige juristische Auseinandersetzungen zu verwickeln, sollten sie zur Enteignung greifen, um Problemhypotheken zu übernehmen. Aber MRP hat zugesichert, die Kosten jedes potenziellen Rechtsstreits zu übernehmen. So räumen die meisten Kommunalpolitiker nun ein, dass es sich dabei im Wesentlichen um eine leere Drohung handelt.

Die Lobbyisten warnten die Lokalpolitiker auch, dass die Banken den Darlehenspreis steigern oder sogar die Kreditvergabe völlig einstellen würden, sollten die Städte ihren Plan durchziehen. Diese Warnungen werden von ihnen so formuliert, als seien es Vorhersagen. Tatsächlich ist es jedoch die Drohung mit einem koordinierten, branchenweiten Kreditboykott. Dabei handelt es sich um eine Form von redlining – jener diskriminierenden Praxis, Dienstleistungen in bestimmten Gebieten gar nicht oder nur überteuert anzubieten –, die gegen die Bundesgesetze zur fairen Kreditvergabe und zum freien Wettbewerb verstößt. Ein vom Wall Street Journal veröffentlichtes Editorial (12.6.2013) gab die Linie der Branche wieder: Die Enteignungsstrategie sei sowohl ungesetzlich als auch unklug.

Um den Kommunalregierungen zuvorzukommen, schickten im Juni 2013 drei republikanische Kongressabgeordnete aus Kalifornien im Namen der Branche einen Brief an US-Bauminister Shaun Donovan, in dem sie verlangten, sein Ministerium solle es der Behörde FHA untersagen, Darlehen auf enteignete Hypotheken zu finanzieren. Glaubt man der NGO-Datenbank Opensecrets. org, dann stand die Finanz-, Immobilien- und Versicherungsbranche im vergangenen Jahr an oberster Stelle auf der Spendenliste der drei beteiligten Politiker: Gary Miller (erhielt 366 000 Dollar), John Campbell (484000 Dollar) und Ed Royce (1 Million Dollar). »Wir sind in Sorge, dass die vorgeschlagenen Enteignungen die Rückkehr des Privatkapitals in das System der Immobilienfinanzierung bremsen und unsere fragile Erholung auf dem Wohnungsmarkt gefährden würden«, schrieben sie an Donovan. Klingt das nicht vertraut? Das gesamte letzte Jahrhundert hindurch haben Lobbygruppen der Wirtschaft beständig davor gewarnt, dass Regierungsmaßnahmen zum Schutz von Konsumenten, Kommunen und Beschäftigten – seien es gesetzlich vorgeschriebene Sicherheitsgurte, der Mindestlohn, Vorschriften zur Sicherheit am Arbeitsplatz etc. – »Arbeitsplätze vernichten« und die Wirtschaft zerstören würden. Ihre schauerlichen Warnungen waren allesamt falsch, aber sie wiederholen sie so oft, dass sie irgendwann überzeugend klingen.

David schlägt Goliath

Wie ihre Vorgänger, so schlagen auch die Lobbygruppen der Banken, der Finanzdienstleister und der Immobilienbranche falschen Alarm. Sie können ärgerliche Gerichtsprozesse anstrengen. Sie können Lobbyisten anheuern und die Gelegenheitsexperten eines konservativen Think Tanks für Ökonomie dazu bringen, mit ihrer Propaganda hausieren zu gehen. Tatsächlich haben aber die Kommunen das verbriefte Recht der Enteignung, um in den Gemeinden den Wohlstand wiederherzustellen, den sich rücksichtslose Banken in den letzten Jahren angeeignet haben. Dennoch ist die Einschüchterungstaktik mancherorts aufgegangen.

Die gewählten Vertreter von San Bernardino – wo die Hälfte aller Hauseigentümer überschuldet ist – traten dieses Jahr den Rückzug an, nachdem Branchenlobbyisten über diese problembeladene Kommune, die eine Stunde von Los Angeles entfernt liegt, hergefallen waren. Aber in Richmond, Seattle, Newark und anderen Städten – in denen Bürgerinitiativen und Gewerkschaften verärgerte Hauseigentümer und deren Nachbarn mobilisiert haben – sind die Lokalpolitiker entschlossen, weiterzumachen. Und sie sind sich im Klaren, dass sie das Recht und die Wirtschaftswissenschaften auf ihrer Seite haben.

»Die Wall Street hat Angst und setzt ihr ganzes politisches Gewicht ein, um uns aufzuhalten«, sagt Amy Schur, Kampagnenleiterin von ACCE. Die Organisation arbeitet in verschiedenen Städten mit Hauseigentü- mern und Lokalpolitikern zu dieser Strategie. »Aber«, fügt Schur hinzu, »wir wissen: David schlägt Goliath.«

»Wir hoffen«, sagt MacLaughlin, die Bürgermeisterin von Richmond, »dass unsere Stadt ein Beispiel bietet für andere Städte, und dass daraus eine landesweite Bewegung wird.«

Der Artikel erschien am 12. Juli 2013 in The Nation [1]. Aus dem Amerikanischen von Andreas Förster.