| Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat

April 2016  Druckansicht
Von Giorgio Agamben

Was bei der Verlängerung des Ausnahmezustands in Frankreich1 wirklich auf dem Spiel steht, lässt sich nur verstehen, wenn man ihn in den Kontext einer radikalen Umwandlung des uns vertrauten Staatsmodells stellt. Zunächst gilt es die Aussage unverantwortlicher PolitikerInnen zurückzuweisen, wonach der Ausnahmezustand angeblich die Demokratie schützt. Die Geschichte hat gezeigt, dass das Gegenteil richtig ist. Der Ausnahmezustand ist genau jene Einrichtung, über die sich die totalitären Mächte in Europa etablierten. So hatten die sozialdemokratischen Regierungender Weimarer Republik in den Jahren vor Hitlers Machtübernahme derart oft auf das Instrument des Ausnahmezustands zurückgegriffen, dass man sagen kann: Deutschland hatte bereits vor 1933 aufgehört, eine parlamentarische Demokratie zu sein.

Auch die erste Amtshandlung Hitlers nach seiner Ernennung (zum Reichskanzler, Anm.d.Ü.) bestand in der Ausrufung des Ausnahmezustands, der niemals (während der NS-Herrschaft, Anm. d. Red.) zurückgenommen wurde. Wenn man sich darüber wundert, welche Verbrechen in Deutschland ungestraft durch die Nazis begangen werden konnten, vergisst man, dass diese Handlungen absolut ›legal‹ waren, weil das Land dem Ausnahmezustand unterworfen war und Grundund Freiheitsrechte ausgesetzt waren.

Es lässt sich nicht ausschließen, dass sich ein solches Szenario auch in Frankreich wiederholen könnte: Man kann sich mühelos eine rechtsextreme Regierung vorstellen, die sich zu ihren Zwecken eines Ausnahmezustands bedient, an den die sozialistische Regierung die BürgerInnen mittlerweile gewöhnt hat. In einem Land, das unter einem permanenten Ausnahmezustand steht und in dem polizeiliche Operationen zunehmend an die Stelle der Macht der Judikative treten, ist von einer raschen und nachhaltigen Beschädigung der öffentlichen Institutionen auszugehen.

Die Angst wachhalten

Dies trifft umso mehr zu, als der Ausnahmezustand heute Teil eines Prozesses ist, der dabei ist, die westlichen Demokratien in etwas zu verändern, das man bereits als Sicherheitsstaat oder security state bezeichnen muss. Das Wort Sicherheit ist derart zum festen Bestandteil des politischen Diskurses geworden, dass man ohne Zweifel sagen kann: Sogenannte Sicherheitsgründe (raisons de sécurité) haben den Platz dessen eingenommen, was man früher die Staatsräson (raison d’état) nannte. Eine Analyse dieser neuen Regierungsform steht jedoch noch aus. Da der Sicherheitsstaat weder zum Rechtsstaat gehört noch zu dem, was Michel Foucault die Disziplinargesellschaft nannte, sollen an dieser Stelle Überlegungen skizziert werden, wie eine mögliche Definition aussehen könnte. Im Modell des Briten Thomas Hobbes, das auf so tief greifende Weise unsere politische Philosophie beeinflusst hat, setzt der Gesellschaftsvertrag, mit dem die Macht auf den Souverän übertragen wird, die gegenseitige Angst und den Krieg aller gegen alle voraus: Der Staat ist genau das, was dieser Angst ein Ende bereitet. Im Sicherheitsstaat kehrt sich dieses Schema um: Der Staat wird dauerhaft auf die Angst gegründet und muss sie um jeden Preis wachhalten, weil er aus ihr seine wesentliche Funktion und seine Legitimität bezieht.

Bereits Foucault hat aufgezeigt: Als das Wort Sicherheit in Frankreich erstmals im politischen Diskurs auftauchte, nämlich mit den Regierungen der Physiokraten vor der Französischen Revolution,ging es nicht darum, Katastrophen und Hungersnöten vorzubeugen. Vielmehr ging es darum, diese zu.zulassen, um sie anschließend zum Gegenstand von Regierungshandeln zu machen und in eine Richtung zu lenken, die man als nutzbringend erachtete.

Ebenso wenig zielt die Sicherheit, von welcher heute die Rede ist, darauf ab, terroristische Handlungen zu verhindern (was im Übrigen äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich ist, da die Sicherheitsmaßnahmen nur im Nachhinein wirksam sind und da der Terrorismus ›von Natur aus‹ immer wieder auf eine andere Art und Weise zuschlägt). Es geht vielmehr darum, eine neue Beziehung zwischen den Menschen herzustellen, die aus einer verallgemeinerten und grenzenlosen Überwachung besteht – deswegen das besonders starke Beharren auf Einrichtungen, die eine lückenlose Kontrolle von elektronischen und Kommunikationsdaten der Bevölkerung erlauben, einschließlich des vollständigen Kopierens sämtlicher Computerdaten.4

Das erste Risiko, das ich aufzeigen möchte, besteht im Abdriften in einen Zustand, in dem Terrorismus und Sicherheitsstaat eine symbiotische Beziehung eingehen: Wenn der Staat die Angst benötigt, um sich Legitimität zu verschaffen, muss er also im äußersten Fall den Terror hervorrufen, oder er darf seine Entstehung zumindest nicht verhindern. Man muss sich nur die Außenpolitik mancher Länder ansehen, die zunächst den Terrorismus befeuern, der dann im Inneren bekämpfen werden muss, und die äußerst enge Beziehungen zu solchen Staaten unterhalten (und diesen sogar Waffen verkaufen), von denen man weiß, dass sie terroristische Organisationen finanzieren.

Ein zweiter Punkt, den es unbedingt zu begreifen gilt, ist die Veränderung des politischen Status der BürgerInnen und des Volkes, das bis dahin als Inhaber der Souveränität betrachtet wurde. Im Sicherheitsstaat lässt sich eine unaufhaltsame Tendenz ausmachen, die auf eine zunehmende Entpolitisierung der BürgerInnen abzielt. Deren Teilhabe am politischen Leben wird immer mehr auf die Beteiligung an Meinungsumfragen im Vorfeld von Wahlen reduziert. Diese Tendenz ist umso beunruhigender, als sie durch Nazi-Juristen in theoretische Form gegossen worden ist: Sie haben das Volk als im Wesentlichen politisch ohnmächtiges Element definiert, dessen Schutz und dessen Wachstum der Staat garantieren muss.

Diesen Juristen zufolge gibt es nur eine einzige Methode, diesem politisch ohnmächtigen Element zu politischer Wirkung zu verhelfen: durch den Bezug auf gemeinsame Abstammung und Rasse, durch die es sich vom Fremden und vom Feind unterscheidet. Es geht hier nicht darum, den Nazi-Staat und den zeitgenössischen Sicherheitsstaat miteinander gleichzusetzen. Was man jedoch verstehen muss, ist Folgendes: Wenn man die BürgerInnen entpolitisiert, dann können diese aus ihrer Passivität nur noch befreit und mobilisiert werden durch die Angst vor einem fremden Feind, der ihnen nicht allein äußerlich ist (das betraf die Juden in Deutschland, es betrifft die Muslime in Frankreich heute).

Ungewissheit und Terror

Vor diesem Hintergrund muss man heute das schändliche Gesetzesvorhaben zur déchéance de nationalité (Ausbürgerung) für Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft betrachten, das an das faschistische Gesetz aus dem Jahr 1926 zum Entzug der italienischen Staatsbürgerschaft bei »unwürdigen Bürgern« und an die Nazi-Gesetze zur Ausbürgerung der Juden erinnert.5

Ein dritter Punkt, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, betrifft die Kriterien, mit denen in der öffentlichen Sphäre heute Wahrheit produziert und bewertet wird. Hier hat eine radikale Verschiebung stattgefunden. Was einen aufmerksamen Beobachter bei den Beschreibungen terroristischer Verbrechen als Erstes frappiert, ist der totale Verzicht auf eine Tatsachensicherheit im juristischen Sinne.

Während es in einem Rechtsstaat selbstverständlich ist, dass nur mithilfe eines gerichtlichen Verfahrens der Umstand eines Verbrechens offiziell festgestellt werden kann, hat man sich – unter dem Vorzeichen der Sicherheitspolitik – mit dem zu begnügen, was die Polizei verlautbart und die Medien daraufhin berichten; also mit den Aussagen zweier Instanzen, deren Zuverlässigkeit zu Recht schon immer angezweifelt werden konnte. Daher rühren die unglaubliche Vagheit und die auffälligen Widersprüche in der Wiedergabe der Ereignisse, die meist überstürzt erfolgt und bewusst jede Möglichkeit der Überprüfung oder Widerlegung ausschließt. Man hat den Eindruck, es eher mit Gerüchten und Tratsch zu tun zu haben als mit ernsthaften Ermittlungen. Das bedeutet: Der Sicherheitsstaat hat ein Interesse daran, die BürgerInnen – für deren Sicherheit er zu sorgen hat – in der Ungewissheit darüber zu belassen, was sie bedroht, denn Ungewissheit und Terrorgehen Hand in Hand.

Auch der Gesetzestext vom 20. November 2015, der den derzeitigen Ausnahmezustand in Frankreich begründet, ist von einer solchen Unbestimmheit gekennzeichnet.7 Sonderregelungen gelten demnach für »jede Person, gegenüber der es ernsthafte Gründe gibt, anzunehmen, dass ihr Verhalten eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt«. Es liegt auf der Hand, dass die Formulierung, »ernsthafte Gründe, anzunehmen«, juristisch unhaltbar ist. Sie verweist auf die Willkür dessen, der »annimmt«, und kann sich zu jedem Zeitpunkt auf jede Person beziehen. In einem Sicherheitsstaat werden gezielt vage gehaltene Formulierungen – von JuristInnen immer schon als Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit kritisiert – zur Norm.

Entpolitisierung der BürgerInnen

Dieselbe Unbestimmtheit und dieselben Zweideutigkeiten kennzeichnen Erklä- rungen von PolitikerInnen, denen zufolge Frankreich sich im »Krieg gegen den Terrorismus« befindet. Die Rede von einem »Krieg gegen den Terrorismus« ist ein Widerspruch in sich, denn der Kriegszustand ist genau dadurch definiert, dass es möglich ist, den zu bekämpfenden Feind ohne Zweifel zu identifizieren. In der Vision des Sicherheitsstaates muss der Feind im Gegenteil schwammig bleiben, damit egal wer – im Inneren, aber auch im Äußeren – als solcher definiert werden kann.

Diese drei Grundzüge des Sicherheitsstaats – die Aufrechterhaltung eines verallgemeinerten Angstzustands, die Entpolitisierung der BürgerInnen und der Verzicht auf jede Rechtsbestimmtheit – sollten uns zu denken geben. Denn der Sicherheitsstaat, auf den wir uns derzeit zubewegen, tut das Gegenteil von dem, was er verspricht. Während Sicherheit die Abwesenheit von Sorge (Lateinisch: sine cura – ohne Sorge – als Wurzel für das französische Wort sécurité) bedeutet, schürt er permanent Angst und Schrecken (Terror). Zum anderen ist der Sicherheitsstaat ein Polizeistaat, denn durch das Aushebeln der Macht der Judikativeerhebt er die Entscheidungsfreiheit der Polizei – die in einem zum Alltag gewordenen Ausnahmezustand immer mehr wie der Souverän agiert – zum Normalfall.

Durch die zunehmende Entpolitisierung des Bürgers – der in gewisser Weise zum potenziellen Terroristen geworden ist – bricht der Sicherheitsstaat schließlich aus dem bekannten Bereich der Politik aus, um sich auf eine unbestimmte Zone zuzubewegen, wo Öffentliches und Privates, deren Grenzen man nur noch schwer zu definieren vermag, immer mehr verschwimmen.

Der Artikel erschien zuerst am 23. Dezember 2015 in der Zeitung Le Monde. Aus dem Französischen von Bernard Schmid

 

Anmerkungen

1 Inzwischen wurde der Ausnahmezustand erneut bis Ende Mai 2016 verlängert (Anm. d. Ü.).
2 Agamben meint hier eher die Brüning- und die nachfolgenden Regierungen in den Jahren von 1930 bis Anfang 1933, die jedoch zur bürgerlichen Rechten zählten. Zwar hatte die SPD den sogenannten Blutmai am 1. Mai 1929 in Berlin zu verantworten, aber die Notverordnungskabinette waren keine SPDRegierungen (Anm. d. Ü.).
3 Es handelt sich um eine ökonomische Schule, die um 1768 entstand und von 1774 bis 1781 den Generalkontrolleur der Finanzen des Königs stellte (Anm. d. Ü).
4 Diese Praxis war bei den über 3 000 Hausdurchsuchungen außerhalb richterlicher Kontrolle, die auf der Grundlage des Ausnahmezustandsgesetzes seit Mitte November 2015 durchgeführt wurden, zunächst gang und gäbe, wurde jedoch als einzige Maßnahme am 19. Februar 2016 vom französischen Verfassungsgericht in der bisherigen Form für unzulässig erklärt (Anm. d. Ü.).
5 Die französische Regierung plant, die bereits bisher in rechtlich engen Grenzen mögliche Ausbürgerung von DoppelstaatbürgerInnen auf weitere Personenkreise auszudehnen. Voraussetzung dafür wäre eine Verurteilung wegen »Verbrechen oder Vergehen, die fundamentale Interessen der Nation verletzen«. Der Gesetzentwurf dazu wurde in erster Lesung am 10. Februar 2016 in der Nationalversammlung angenommen. Er bedarf jedoch einer noch ausstehenden Verfassungsänderung, um rechtskräftig zu werden (Anm. d. Ü.).
6 Hier auch im ursprünglichen Wortsinne von Schrecken gemeint (Anm.d.Ü.).
7 Gemeint ist das Gesetz, mit dem das französische Parlament den Ausnahmezustand für die Periode vom 26. November 2015 bis zum 26. Februar 2016 erstmals verlängert hat (Anm. d. Ü.).
8 So bedarf es nach geltendem Ausnahmezustand keinerlei richterlichen Kontrolle mehr etwa im Vorfeld von Hausdurchsuchungen oder bei der Verhängung von Hausarrest (Anm. d. Ü.).