| Vierzig Jahre Neoliberalismus in Chile

September 2013  Druckansicht
Carlos Perez Soto

Seit fast vierzig Jahren (seit 1975) ist Chile Schauplatz eines tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Experiments. In einem durch den Staatsstreich (September 1973) und die darauf folgende blutige Repression (1973-1978) mit Gewalt befriedeten Land konnten die zivilen Minister der Militärregierung auf brutale Weise jegliches institutionelle Hindernis beiseite schieben und mittels Verordnungen ein der chilenischen Tradition völlig fremdes Wirtschaftsmodell implementieren. Dafür gab es weltweit keinen Präzedenzfall.

Viele der von den neoliberalen Theoretikern in den letzten Jahrzehnten entwickelten Wirtschafts- und Sozialformeln wurden erstmalig in Chile angewandt. Der viel gepriesene „Erfolg“ des chilenischen Modells verschleiert aber vor allen Dingen die soziale Katastrophe, die es für die meisten Chilenen bereit hält und verschweigt, dass es auf Raubbau und Plünderung der chilenischen Ressourcen beruht. Hier sollen zwei Angaben genügen:

Zwischen 2006 und 2011 haben die großen ausländischen Bergbauunternehmen über 160 Milliarden Dollar Profite aus Chile abgezogen. Allein 2006 betrugen ihre Profite etwa 25 Milliarden Dollar. Hingegen betrug die Summe der Gesamtinvestitionen dieser Unternehmen zwischen 1974 und 2006 knapp 20 Milliarden Dollar. In einem Jahr machten sie also mehr Profite als die Summe ihrer Gesamtinvestitionen von 22 Jahren.

Laut Angaben der Steuerbehörde verfügen 99% der Chilenen über ein monatliches Durchschnittseinkommen von 680 Dollar. Die restlichen 1% über 27.400 Dollar. Das heißt sie haben 40 Mal mehr. Und unter der Mehrheit gibt es ebenfalls beträchtliche Unterschiede: 81% der Personen leben von einem Durchschnittslohn von nur 338 Dollar.

Diese Fakten zeigen den Betrug, der sich hinter den vermeintlich „erfolgreichen“ makroökonomischen Zahlen verbirgt. Aber mehr als die Kennziffern oder als der gewalttätige Ursprung des in Chile praktizierten „Modells“ interessiert mich die Frage: Worin besteht sein tieferes Wesen und auf welche Weise kann eine marxistische Analyse seine „Normalität“ erklären. Also seine außerordentliche politische Stabilität, die bis zum heutigen Tag wirksam ist. Mein Anliegen ist es, seine Mechanismen und die politischen Kompromisse zu beschreiben, die sein Funktionieren ermöglichen.

Am besten dokumentiert ist die erste Phase zur Durchsetzung des neoliberalen Modells – die der Privatisierung des Staatsvermögens und der Reduzierung staatlicher Ausgaben.[1] Auch in der eigenen Führungselite wird diese Phase am häufigsten beschrieben. Man schreibt ihr allerlei „ordnende“ und „disziplinierende“ Wirkungen im Bezug auf das Chaos zu, in das der Staat die modernen Volkswirtschaften gestürzt hätte.

Die verschiedenen linken Analysen des Modells beschäftigen sich insbesondere mit seinen gewalttätigen Ursprüngen. Sie betonen die extreme Gewalt der lateinamerikanischen Diktaturen der 70er Jahre. Und sie beschäftigen sich mit der extremen Gewalt einer zivilen Korruption. Diese habe gestützt auf die Militärgewalt die natürlichen Ressourcen und jegliche öffentliche Produktion privatisiert und enteignet, die in Jahrzehnten des Desarollarismo, der nachholenden Entwicklung, aufgebaut worden waren.

Diese Betonung der expliziten Gewalt hat jedoch über einen langen Zeitraum dazu beigetragen, die zweite und viel tiefer gehende Phase zu vertuschen, in der das Modell sich ausweitet und konsolidiert, und dabei von Politikern gefördert wird, die in verschiedenem Umfang selbst Opfer der Gewalt geworden waren. Sie nutzen systematisch ihre Geschichte als Verfolgte dazu, ihre ökonomischen Dogmen, die sie angeblich kritisieren, als „Alternativen“ oder als „Modifizierungen im Rahmen des Möglichen“ zu legitimieren.

Es ist diese zweite Phase, in der Chile erneut Modellcharakter trägt, die dringend analysiert und kritisch reflektiert werden muss. Denn dieses chilenische Modell ist in fast allen „Auswegen“ präsent, die weltweit für die Folgen der sich seit 2008 entwickelnden Finanzkrise angeboten werden. Diese Phase muss erklärt und angeprangert werden, vor allem, um einen der wichtigsten Mythen der herrschenden anti-neoliberalen Kritik bloß zu stellen: das neoliberale Modell wurde WEDER von Militärdiktaturen aufgezwungen, NOCH von ihnen als wirksamer und gangbarer Weg gestaltet. Seine wahrhaftige Wirksamkeit und Tiefe ist Schritt für Schritt von zivilen Regierungen implementiert worden, mit „demokratischen“ Mitteln und von politischen Koalitionen, die sich als „Mitte-links“ ausgeben. Lagos und Bachelet sind die perfekten Erben Pinochets und seiner Finanzminister. Die PSOE (Sozialistische Arbeiterpartei) ist das perfekt komplementär zur PP (Volkspartei) in Spanien. Das Ehepaar Kirchner sind die perfekten Nachfolger von Menem. Lula von Cardoso. Und das geschieht mit allen „Mitte-links“ Kräften in Europa und trotz all ihrer Anti-Thatcher und Anti-USA Rhetorik.

Die erste Etappe des neuen Modells kapitalistischer Herrschaft, das seit den 80er Jahren überall in der Welt implementiert wird, ist oft als „Schockpolitik“ charakterisiert worden. Im Licht der späteren Ereignisse ist es notwendig, dieser vereinfachenden Sicht erhebliche Differenzierung hinzuzufügen. Zweifelsohne haben solche Schockmomente existiert, aber sie waren trotz ihrer Bedeutung eher die Ausnahme als die Regel. Jedenfalls ist die Anwendung militärischer Gewalt kein entscheidendes Element gewesen und schon gar nicht die sie ermöglichende Bedingung. Der Schock in Griechenland, Irland, Spanien, Portugal hat sich in einem uneingeschränkt demokratischen Rahmen durchführen lassen. Der tiefe neoliberale Übergang erfolgt in den USA, Großbritannien, Deutschland, Russland und in fast allen Ländern, die vormals zum sozialistischen Block gehörten, ohne einen sichtbaren Schock, mittels vielfacher in diese Richtung weisenden Maßnahmen, die sich aber nicht als eine massive, schnell wirkende und ausdrückliche Politik darstellen.

Der neoliberale Schock vollzieht sich vor allen Dingen in vier Bereichen:

  1. in einer Politik zur Prekarisierung der Beschäftigung und zur Schwächung der Arbeitsgesetzgebung
  2. in einer Politik der Privatisierung staatlicher Güter;
  3. in einer umfassenden Politik der Entnationalisierung von natürlichen Ressourcen;
  4. in einer umfassenden Politik der Liberalisierung des Welthandels, der Beseitigung von Zollschranken, was den neuen Formen der weltweiten Industrieproduktion entspricht.

Mehr als eine Militärdiktatur, die solche Maßnahmen per Verordnung durchsetzt (wie in Chile geschehen), ist es in Wirklichkeit dieser letzte Aspekt, der die drei vorhergehenden auslöst und als deren Motor agiert. Seit Ende der 70er Jahre hat eine drastische Neuordnung, sowohl der technischen Basis des Kapitals als auch seiner Standorte stattgefunden. Die verarbeitende Produktion ist nicht mehr in großen, zentralisierten, vor allem im geographischen Bereich der „Ersten Welt“ gelegenen Anlagen organisiert, sondern wurde in die Peripherie verlagert, wo es möglich ist, die Lohnkosten beträchtlich zu senken. Hinzu kommt die netzartige Form der Produktion von Teilen und Stücken, in der nur einige Module als Integrations- oder Montagewerk agieren. Dies hat eine radikale Deindustrialisierung von den USA und Europa zur Folge. Gleichzeitig kam es zu einer wachsenden Industrialisierung von Ländern wie Südkorea, Taiwan, Singapur, Malaysia in einer ersten Welle, und nun China, Indien, Brasilien und Mexiko. Durch diese vernetzte Produktion ist der Welthandel innerhalb der multinationalen Konzerne selbst stark gewachsen. Sie selbst organisieren sich als Netzwerke, die „innere“ über die nationalen Grenzen hinausgehende Märkte beliefern. Diese Organisation hat eine vollständige Öffnung des Handels erzwungen. Im selben Aufwasch wurde die Möglichkeit für die übrigen Länder, Initiativen einer konsistenten industriellen und halbwegs autonomen Entwicklung auszuarbeiten, gleich mit erledigt.

Die Prekarisierung der Beschäftigung, die Entnationalisierung der natürlichen Ressourcen und die Privatisierung der staatlichen Güter sind so Folgen dieser tiefgreifenden Neuorganisierung der internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung, die von historischem Ausmaß ist. Streng genommen sind der doktrinäre neoliberale Diskurs, sein angeblich „technisches“ Wissen weder Ursache noch Motor dieser Reorganisierung, sondern eher ihre Legitimierung. Die „Ineffizienz des Staates”; die zwanghafte Notwendigkeit, sich in die „Globalisierung“ einzureihen; das angebliche Unheil, das durch den „Protektionismus“ heraufbeschworen würde; die vermeintlichen Vorteile der „Eigeninitiative“ und „des unternehmerischen Selbst“, das selbst für kleinste Wirtschaftseinheiten gepredigt wird, sind alles Argumente, die aus diesem Prozess der Neuordnung der Produktion entspringen und ihm dienlich sind.

Aus diesem Grund ist der so genannte neoliberale Schock in Ländern mit „demokratischen“ Herrschaftsformen nicht auf massive, ausdrückliche und eindeutige Weise eingetreten, das heißt, an solchen Orten und in solchen sozialen Räumen, wo diese post-fordistische Revolution noch nicht notwendig geworden ist. Die Prekarisierung der Beschäftigung ist beispielsweise im größten Teil der Welt durch beschäftigungspolitische Maßnahmen eingeführt worden, die auf paradoxe Weise als „Förderung“ oder „Schaffung neuer Arbeitsplätze“ oder als „Ausnahme“ dargestellt werden: prekäre Beschäftigung für Jugendliche, für Frauen, für ärmere Regionen, für Schul- oder Studienabgänger. Neue Normen kommen zu den bestehenden hinzu, ohne sie zu ersetzen, wenngleich die alten faktisch negiert werden. Sie werden begleitet von kostspieligen Propagandaaktionen nach und nach zu einer vorherrschenden Tendenz, in deren Rahmen die traditionellen und in langen Kämpfen errungenen Arbeitsrechte Stück für Stück geschwächt werden. Diese Propagandakampagnen behaupten immer wieder und wieder, dass hiermit die Beschäftigung gefördert und die Wirtschaftsprozesse verbessert und dass jeder Einzelne und die Familien vom ökonomischen Fortschritt der Einzelpersonen und Familien profitieren würden. Natürlich ohne sich für die schlechten Standards der Arbeitsplätze noch für die daraus folgenden niedrigen Löhne oder das im Umfeld durchgesetzte absolute Fehlen jeglichen arbeitsrechtlichen Schutzes verantwortlich zu fühlen. So erklärt sich, warum in den meisten Ländern die Prekarisierung der Beschäftigung ohne weiteres einhergeht mit großen Sektoren, in denen die Arbeiter und Angestellten noch immer ihre klassischen Rechte innehaben. Das betrifft Verwaltungen, staatliche Dienstleistungen und jene Betriebe, in denen noch eine fordistische Organisation herrscht. Aber auch auf dem Land, dort wo noch nicht die neuen Formen der Agrarindustrialisierung angekommen sind. Das zeigt sich in Ländern wie Mexiko, Brasilien und Argentinien.

Ebenso ist die Nationalisierung der natürlichen Ressourcen, die von antiimperialistisch geprägten Regierungen in den 1970er Jahren vorgenommen wurde, nicht auf eine einheitliche und einschneidende Weise zunichte oder rückgängig gemacht worden. Die wirksamste Form der Entnationalisierung der Ressourcen besteht heute vielmehr in der Kontrolle ihrer Vermarktung. Dafür muss man sie nicht mehr besitzen. Wichtig ist die Kontrolle über die Herstellungskette abgeleiteter Produkte oder Konzentrate, die letztendlich in der industriellen Produktion wirklich verwendet werden. Und erst recht die Kontrolle über die Verwaltung der Geldüberschüsse, die von den eigentlich nationalisierten Ressourcen erzeugt werden. Den Ländern gehören nach wie vor die Steine oder das Rohmaterial. Mehr nicht. Die Petrochemie, die Kupfer- und Zinnraffinerien, die großen Stahlwerke befinden sich hingegen in den Händen der multinationalen Konzerne. Die Geldüberschüsse werden vom internationalen Bankenwesen verwaltet. Und nun, in der zweiten Phase des Modells, kommen zwei zusätzliche Mechanismen hinzu. Einer davon ist die „gemischte“ Ausbeutung der Vorkommen, bei der die Nationalstaaten mit multinationalen Konzernen (die sie oft an Wirtschaftsmacht übertrumpfen) Gesellschaftsverträge abschließen, mit „paritätischen“ Vereinbarungen, die das Kapital auf skandalöse Weise begünstigen und es gleichzeitig von Besteuerungslasten oder übermäßiger Überwachung befreien.[2] Ein weiterer Mechanismus besteht in Chile aus dem 1981 als Gesetz erlassenen System der „Vollkonzessionen“, das angesichts der Weigerung der Militärregierung, den Kupferbergbau zu privatisieren, von José Piñera Echeñique, einem der einheimischen Hauptideologen des Modells, erfunden wurde. Es besagt, dass der Staat das Eigentum an den Ressourcen nicht verliert, aber sich verpflichtet, bei Rücknahme einer bestehenden Konzession (mittels einfacher Verfügung des Präsidenten) der betroffenen Firma 100% (!) der ihr eventuell entgangenen Profite zu zahlen.

Die Privatisierung des staatlichen Vermögens ist also nicht durch Verordnungen des Militärregimes erfolgt, sondern bildet eher den Abschluss eines methodisch und absichtlich geführten Zerstörungsprozesses: die Verringerung der Produktivität und Effizienz infolge fehlender Investitionen, die Reduzierung des Gewinns und der Beiträge zum Staatshaushalt infolge von Verschwendung. So ist das neoliberale Dogma von der „Ineffizienz des Staates” schlicht und einfach zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden, nach der die Privatisierung fast als ein Nutzen für die gesamte Gesellschaft erscheint. So geschehen im Fall des spanischen staatlichen Telefonunternehmens, das zu Zeiten der PSOE privatisiert wurde, ebenso wie bei dem mexikanischen Telefonunternehmen, dessen Wert sich weniger als zwei Monate nach seiner Privatisierung auf „wunderbare“ Weise verdoppelt hatte. Die Dienstleistungsbetriebe auf den Gebieten der Kommunikation, der Logistik, der Trinkwasserversorgung können auf diesem Weg bequem und „friedlich“ privatisiert werden.

Vom chilenischen Prozess heißt es, er gründe sich auf militärische Gewalt. Sieht man genauer hin, stellt man fest, dass die reale Schockwirkungen und vor allem die Konsolidierung des Modells als Regime wirtschaftlicher Normalität ab 1990 stattgefunden hat. Also in den Regierungszeiten der Concertación und nicht unter der Diktatur. Das erwähnte Gesetz über Vollkonzessionen wurde bereits 1981 erlassen. Trotzdem erreichten die Bergbauinvestitionen in Chile zwischen 1974 und 1989 nur 2,39 Milliarden Dollar. Hingegen stiegen sie zwischen 1990 und 2005 auf 17,578 Milliarden Dollar. Die Gesetzgebung, auf deren Grundlage die Bergbauunternehmen Steuern hinterziehen oder vermeiden, stammt aus der Zeit der Regierung von Patricio Aylwin. Trotz aller angebotenen Garantien kontrollierten die großen privaten Bergbauunternehmen 1990 nur 16% der Kupferproduktion; im Jahr 2007 war dieser Anteil bereits auf 69% gestiegen. Entsprechendes lässt sich zu jeder einzelnen der großen Wirtschaftsmaßnahmen sagen, die zu Zeiten der Diktatur erlassen wurden. Heute stellt niemand mehr in Frage, dass die Regierungen der Concertación das ererbte Wirtschaftsmodell nicht nur gepflegt, sondern umfänglich vertieft haben, womit sie selbst gegen ihr eigenes Gründungsprogramm verstießen.

Deshalb ist es von großer Bedeutung, so klar wie möglich zu beschreiben, welche ökonomischen Maßnahmen den chilenischen Technokraten ermöglichten, den „Erfolg“ ihres Modells zu predigen.

Die Entnationalisierung des Kupfers ist in diesem Spiel eine wichtige Karte. Chiles Wert entspricht aus Sicht des multinationalen Kapitals dem seiner natürlichen Ressourcen. Die chilenische Bergbauproduktion macht 17,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) aus. Innerhalb dieses Anteils entsprechen 16% den Kupferexporten. Davon entsprechen wiederum um 70% den privaten Bergbauunternehmen. Das heißt, über 12% des BIP verlässt Chile auf dem Weg des privaten Bergbaus.

Für das ausgewiesene Wirtschaftswachstum, von dem vor allen Dingen die privilegierten Kreise profitierten, gibt es jedoch zwei weitere Gründe, die erklären, warum chilenische Unternehmer mittlerweile sogar in andere Länder Lateinamerikas expandieren. Einer davon ist das 1980 geschaffene System der privaten Rentenversicherungsträger (Administradoras de Fondos de Pensiones, AFP), das die Chilenen dazu zwingt, 10% ihrer Löhne bei den privaten Rentenverwaltern einzuzahlen. Diese Zwangsersparnis haben die mit dem Fonds verbundenen Unternehmen als sprudelnde Kapitalquelle nutzen können. Und das, ohne den eigentlichen Eigentümern dieses Kapitals irgendeine reale Rentabilitätsgarantie geben zu müssen oder gar eine Beteiligung an den Investitionsentscheidungen zuzugestehen. Nach über dreißig Jahren sind in diesem System 250 Milliarden Dollar angehäuft worden, die eigentlich den Einzahlern gehören. Aus diesen Fonds haben die Rentenverwalter circa 30% der Beiträge als Provisionen für ihre Verwaltungstätigkeit eingestrichen, unabhängig davon, ob die von ihnen getätigten Investitionen eine reale Rentabilität aufweisen oder nicht. Die Eigentümer der AFP haben trotz wirtschaftlicher Schwankungen und Finanzkrise jährlich zwischen 0,5 und 1 Milliarde Dollar in die Hände bekommen. Seit 2008 ist infolge der internationalen Finanzkrise der Gesamtumfang des Fonds um etwa 30% (!) zurückgegangen. Dieser Rückgang ist höher als alle Gewinne, die der Fonds in den letzten 27 Jahren seiner Existenz eingenommen hat. Trotzdem haben die Besitzer des Pensionsfonds auch 2008 noch über 10 Millionen Dollar Profit gemacht haben. Und 2009, ohne dass die Fonds sich zwischenzeitlich wirklich erholt hätten, waren die Profite wieder bei einer Größenordnung von 500 Millionen Dollar angelangt. Genau damit, dass die Arbeitenden gezwungen werden, in die privaten Pensionsfonds einzuzahlen, erhalten die Betreiber der Fonds die Freiheit, sich fast ein Drittel dieser Ersparnisse als Provisionen anzueignen. Damit sind die AFP zum tragenden „Hauptbalken“ des chilenischen Unternehmertums im Einzelhandel, im Früchte- und Fischexport, der Zellulose- und Papierherstellung, oder im privaten mittleren Bergbau geworden. Zur Veranschaulichung 70% der Mittel dieser Fonds wurden bei nur zehn chilenischen Unternehmensgruppen angelegt.[3]

Die Kehrseite dieses riesigen Beitrags der Arbeitenden für die großen Privatunternehmen trägt dramatische Züge. Im Jahr 2012 betrug die vom System der AFP gezahlte mittlere Rente nur 178.000 CLP (etwa 360 Dollar). Die ausgezahlten Rentenbeträge entsprachen im Durchschnitt nicht mehr als 33% des vor der Rente erhaltenen Lohns. Schlimmer noch: 60% der zwischen 1982 und 2009 durch die AFP ausgezahlten Rentenbeträge sind staatliche Beiträge! Diese Situation erklärt sich aus der Tatsache, dass 60% der Rentenempfänger weniger als 75.000 CLP (150 Dollar) empfangen und ihre Renten mittels staatlicher Beiträge aufgestockt werden müssen.

Der andere Mechanismus, aus dem sich erklären lässt, warum 0,1% der chilenischen Steuerzahler 17% des nationalen Reichtums in ihren Händen halten, besteht in den vielfältigen Formen der Steuerhinterziehung und Steuerumgehung, von denen die Unternehmen über dreißig Jahre lang profitiert haben. Dem so genannten Fonds besteuerbarer Gewinne (Fondo de Utilidades Tributables, FUT) – eines der wichtigsten Instrumente in diesem Sinne – haben es die Unternehmer zu verdanken, dass etwa 40 Milliarden Dollar an Steuern hinterzogen werden konnten. Diese Milliarden gingen auf Kosten möglicher Begünstigungen für alle Chilenen. Aber mit dieser Summe war es möglich, ihr Wachstum durchzusetzen und zu kapitalisieren, und noch dazu zu behaupten, dass sei alles Ergebnis ihrer „Effizienz“. Ingesamt wurde ein Steuersystem ausgebaut, in dem die Unternehmer systematisch weniger Steuern zahlen, als die Arbeitenden.[4]

Prekarisierung der Beschäftigung, Entnationalisierung der natürlichen Ressourcen, Privatisierung der Verwaltung der Rentenfonds, ein System großzügiger Steuervorteile, das sind die wichtigsten Mechanismen, die seit den Zeiten der Diktatur wirken. Aber hinzu kommt eine zweite Phase, in der das Modell – wie bereits gesagt – erweitert und vertieft wird, eine nunmehr vollständig unter „demokratischen“ Verhältnissen initiierte und implementierte Phase.

Dazu gehört als wesentlicher Bestandteil die vollständige Unterordnung des Staates unter die Interessen der Privatunternehmer. Die Logik der privatwirtschaftlichen Unternehmensführung ist in die Verwaltung der staatlichen Dienste eingeschrieben und wird begleitet von einer ungeheueren Einseitigkeit zugunsten privatwirtschaftlicher Interessen. Der Staat privilegiert bei der Auftragsvergabe die Privatunternehmen zum Nachteil seiner eigenen Dienstleistungen und Dienstleister. Unter diesem Regime ist es dem Großkapital gelungen, auch Dienstleistungen in Geschäftsfelder zu verwandeln, die traditionell als soziale Rechte vom Staat bereit gestellt und garantiert werden. Im Rahmen der Kommodifizierung dieser Dienstleistungen werden die Kosten immer stärker auf die Nutzer übertragen; der Staat genehmigt die Profitmacherei mit wesentlichen Gütern und bürgt für deren Erträge, er trägt sogar direkt und indirekt das Kapital bei, das von den Privatunternehmern zur Implementierung ihrer diesbezüglichen Geschäfte benötigt wird. Dies kommt auf vier, für den gewöhnlichen Staatsbürger besonders sensiblen Gebieten, besonders klar zum Ausdruck: den öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Bildungswesen, dem Gesundheitswesen und der Lebensmittelindustrie.

Der Fall des öffentlichen Personenverkehrs in Chile stellt eine Mischung von Neoliberalismus und offener Korruption dar. Die Privatisierung des staatlichen Kollektivtransportunternehmens (Empresa de Transportes Colectivos del Estado) wurde in den ersten Jahren der Diktatur unter dem Vorwand ihrer Ineffizienz und technologischen Antiquiertheit vollzogen. Der Personenverkehr in Santiago (wo 40% der Landesbevölkerung leben) und in anderen großen Städten verlor aber mit der Zeit immer mehr an Qualität, aus ausgerechnet eben diesen Gründen, an deren Behebung die „effizienten“ Privatunternehmer natürlich nicht im Geringsten interessiert waren. Als man ab 2004 begann, an einen radikalen Wandel zu denken, wurde trotz all dieser Ineffizienz stillschweigend davon ausgegangen, dass diese Lösung auf Grundlage der Vergabe neuer Konzessionen an dieselben oder an andere Unternehmer erfolgen müsste. Die himmelschreiende Inkompetenz und mangelnde Praktikabilität des pompösen, während der Amtszeit von Ricardo Lagos entworfenen Projekts wurde ab Umsetzungsbeginn offensichtlich, der dazu noch zweckdienlicher Weise verschoben wurde, um das Problem der Folgeregierung aufzubinden. Aber gerade dann wurde für die schwerwiegenden Probleme, die solch radikale Ineffizienz für die Routine der Großstadt heraufbeschwor, eine außerordentliche Lösung gefunden: der Staat würde mittels Subventionen vollständig für eventuelle Verluste der beteiligten Unternehmen aufkommen.[5]In den Verträgen, die der Staat mit diesen Unternehmern geschlossen hatte, wurden bestimmte Gewinnspannen bedingungslos garantiert. Es handelt sich dabei um eine Formulierung, die in den staatlichen Projektausschreibungen immer häufiger verwendet wird: für Autobahnen, Gefängniskonzessionen und wie wir in Kürze sehen werden, für öffentliche Krankenhäuser. Was das System des Personennahverkehrs betrifft, so musste der Staat allein aus diesem Anlass in den ersten fünf Jahren seines Bestehens über 9,5 Milliarden Dollar ausgeben. Das ist eine absurde Menge Geld, die in der Tat die Summe weit übersteigt, die von den Unternehmern für den Kauf aller Busse ausgegeben werden musste, um an der Ausschreibung teilzunehmen.[6] Damit nicht genug, unterzeichneten die staatlichen Vertreter von ihnen selbst redigierte Verträge, in denen keinerlei reale Überwachung der Servicequalität festgeschrieben, sondern Erfüllungsstandards festgelegt wurden, für deren Nichteinhaltung nicht die geringste Vertragsstrafe vorgesehen war. Für die einzustellenden Arbeiter gab es ohnehin keinerlei Schutzgarantie, was Löhne oder Arbeitssicherheit anbetrifft. Doch damit nicht genug. Als die damalige Opposition die Möglichkeit erkannte, die kommenden Präsidentschaftswahlen zu gewinnen und die nächste Regierung zu stellen, trafen beide Blöcke eine Vereinbarung, die Angelegenheit nicht zum Wahlkampfthema zu machen (weder die Rechte kritisierte die Regierung an deren schwächster Flanke, noch die Regierung machte Anstalten, von der Rechten die Lösung der anstehenden Probleme einzufordern, wenn sie die Wahlen gewinnen sollte). Sie vereinbarten ein Gesetz, um die Finanzierung der Ineffizienz und der Profite der Unternehmer auf Kosten aller Chilenen sicherzustellen. Diesem Gesetz zufolge unterstützt der Staat dieses System und weitere ähnliche in den anderen Regionen des Landes mit einer Summe von 16 Milliarden Dollar für das Jahrzehnt 2012-2022. Dieser Betrag erwies sich schnell als unzureichend. Es werden nun alljährlich zusätzliche Budgetposten verabschiedet, um die Beiträge zu erhöhen.

Wenn man diese unglaubliche Ansammlung von Ineffizienzen und Kosten betrachtet, fällt auf, dass das, was ganz einfach Schwachsinn und Sorglosigkeit zu sein scheint, eine systematische Politik verbirgt. Diese Praxis ist nichts anderes als systematische Korruption. In den großen Verträgen zu öffentlichen Bauten, die an Privatfirmen vergeben werden, garantiert der öffentliche Auftraggeber nicht nur Gewinnmargen. Häufig akzeptiert er ganz besonders günstige Angebote. Aber im Verlauf der Arbeiten erklärt der Vertragsnehmer, er müsse am ursprünglichen Projekt „Korrekturen“ oder „Erweiterungen“ vornehmen, weswegen der Vertrag dann, außerhalb jeglicher Projektvergabeverfahren, komplett neu verhandelt wird. Zu Beträgen, die doppelt so hoch ausfallen können wie die ursprünglich vorgesehenen Kosten.

Auch das Verhalten gegenüber der Lebensmittelindustrie illustriert die systematische Voreingenommenheit der Beamten zugunsten privatwirtschaftlicher Interessen, die den Beamten immer wieder in Fortbildungen vermittelt wird. So wird eine Vorschrift bezüglich der maximal zulässigen Anteile bestimmter Stoffe in Lebensmitteln hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Unbedenklichkeit so erlassen, dass mit diesen Grenzwerten praktisch alle bereits in Umlauf befindlichen Lebensmittel zugelassen sind, unabhängig davon, ob sie schädlich für die Gesundheit sind oder nicht. Es werden Freihandelsabkommen mit einer Reihe von Klauseln unterzeichnet, die es ermöglichen, die Autonomie oder gar die Sicherheit der Lebensmittelversorgung des Landes zu schwächen. Es werden die Vorgaben der Welthandelsorganisation (WTO) zum Umlauf genetisch veränderter Organismen und Patentierung biologischer Produkte akzeptiert. Der Anbau genetisch veränderter Arten in Chile wird akzeptiert und ohne große Öffentlichkeit gefördert („nur für den Export bestimmt“). Importe genetisch veränderter Produkte für den Konsum werden uneingeschränkt zugelassen. Und die Vorschriften stellen noch sicher, dass die Lebensmittelindustrie die Tatsache, dass ihre Produkte genetisch verändert sind, nicht einmal offen legen muss.

Noch deutlicher aber zeigt sich im Bildungs- und des Gesundheitswesen, worum es bei der Vertiefung des chilenischen Modells geht. Im Bildungswesen verschenkte man das existierende System der technischen Bildung an Privatunternehmer. Im Verlaufe der 35 Jahre seit Erhalt des Geschenks haben sie sich jeglicher Investition auf diesem Gebiet enthalten. Außerdem ist ein System privater Universitäten entstanden, die alle Tricks beherrschen, um Gewinne zu machen, die ihnen per Gesetz formell verboten sind. Außerdem ist es ihnen gelungen eine ganze Reihe neuer und außerordentlicher Steuerbefreiungen durchzusetzen. Grund- und Mittelschulen wurden an die Kommunalverwaltungen übergeben. Gleichzeitig und in Konkurrenz dazu fördert der Staat das Wachstum privater Schulen durch direkte Subventionen und Steuervorteile. Unter dem Signum und Zwang der Selbstfinanzierung sind die Studiengebühren der staatlichen Universitäten auf das gleiche Kostenniveau gestiegen wie in den Privatuniversitäten. Gleichzeitig gehen öffentliche Subventionen immer weiter zurück.

Die Studenten- und Schülerbewegungen der Jahre 2005 und 2011 haben das Drama des chilenischen Bildungswesens endlich ans Tageslicht gebracht. Seither gibt es eine breite öffentliche Debatte. Aber niemals ist es gelungen, dass die Politik auch nur geringste Abstriche an der Privatisierung der Bildung gemacht hätte, obwohl die übergroße Mehrheit der chilenischen Bevölkerung dies wünscht. Schlimmer noch, alle von den Behörden als „Lösungen“ vorgeschlagenen Maßnahmen zielen ausschließlich auf eine weitere Vertiefung des Modells.

Eine Folge davon ist, dass die Familien 40% der Kosten für die Hochschulbildung tragen müssen, und zwar in fast allen Fällen, indem sie sich bei Privatbanken oder beim Staat verschulden. Die Studiengebühren in Chile zählen zu den höchsten der Welt. Hinzu kommt, dass die staatlich subventionierten Privatschulen sich zu großen privaten Gesellschaften zusammenschließen, die nicht nur mit den direkten Dienstleistungen uneingeschränkt Gewinne erwirtschaften, sondern auch mit solchen damit verbundenen Dienstleistungen wie Schultransport, Schul- und Lehrmaterial oder durch die Verwaltung von gemeinsamen Finanzierungsmodellen für Schulgebühren durch den Staat und die Familien. Gleichzeitig verarmen die kommunalen Schulen, da sie solche zusätzlichen Gewinne nicht erwirtschaften können, weil die Kommunalverwaltungen in offenem Rechtsbruch die von ihnen für Bildungszwecke empfangenen Mittel ohne jegliche Offenlegung zu anderen Zwecken verwenden. So verlieren die öffentlichen Schulen Zug um Zug ihre Schüler ans Privatsystem. Eine weitere Folge: Es wächst die Prekarisierung der Tätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern. Das geht so weit, dass 60% der Lehrtätigkeit von Lehrpersonal ohne festen Arbeitsvertrag ausgeübt wird. Sie erhalten oft nur zehn oder elf Monate im Jahr Gehalt.

Aber möglicherweise besteht die tiefgreifendste Veränderung darin, dass typisch privatwirtschaftliche Verwaltungsformen ins staatliche Bildungssystem eingeführt wurden. So haben sich die staatlichen Universitäten zu regelrechten Geschäftsfeldern für viele Hochschullehrer entwickelt. Sie sind angehalten, von ihnen administrierte Diplom- und Aufbaustudiengänge, sowie Postgraduierten-Programme zu schaffen, die im Namen und unter den Normen der jeweiligen Universität erteilt und durch einen geringen Anteil an den Einnahmen aus Studiengebühren entgolten werden. Rund um die staatlichen Universitäten ist ein Netz von Firmen entstanden, die die Hochschullehrer selbst gründeten. Diese Firmen sind Nutznießer von Namen und Prestige der Universitäten, aber auch von den Einrichtungen und dem Personal. Diese Firmen nehmen an Ausschreibungen teil, die darüber akquirierten Mittel kommen fast vollständig ihrem privaten Gewinnstreben zugute. Auch hier im Gegenzug für nur einen geringen Anteil der Einnahmen, den sie danach stolz als Beitrag zu der von offizieller Seite auferlegten und geförderten Selbstfinanzierung vorweisen.

Aus dieser Sicht ist es natürlich äußerst zweckmäßig, dass sich die Institutionen an ein Zertifizierungssystem halten, das partikulare und kurzfristig angelegte Formen der Geschäftsführung im Interesse einzelner Hochschullehrer begünstigt. Das Zertifizierungssystem, das als „Qualitäts“-Beweis für die Universitäten dienen soll, bewertet akademische Grade nur in formeller Hinsicht besonders hoch ebenso wie kurzfristige Forschungsprojekte, die zu Veröffentlichungen in international indizierten Fachzeitschriften führen. Gut gerankt werden Aufbaustudiengänge, die zu nichts weiter als zu ihrer Selbstreproduktion dienen. Es ist ein System entstanden, in dem die „Qualität“ der Hochschulbildung keinerlei Beziehung hat zur nationalen Entwicklung, zu strategischen Projekten der Wissensentwicklung oder gar zu den traditionellen Aufgaben der kulturellen Reproduktion und Weiterentwicklung im Dialog mit den Bedürfnissen des Landes. Die Universitäten sind zu Fabriken einzelner Fachkräfte geworden, die hier nur eine Ausbildung kaufen, die ihnen unmittelbaren Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Insofern hat die offizielle Lehrmeinung recht, wenn sie die Bildung nicht mehr als ein Recht, sondern als ein „Konsumgut“ betrachtet.

Mittels eines Systems periodischer Messungen, die rein auf Konkurrenzfähigkeit ausgerichtete und formelle Standards haben, installiert sich bereits ab den ersten Stufen (SIMCE im zweiten, vierten und achten Grundschuljahr, SIMCE nach Fächern, PSU für den Hochschulzugang) ein Verwaltungsmodell des Bildungswesens, das jede Schule auf allen Ebenen in konkurrierende Bildungseinheiten verwandelt. Jede Bildungseinrichtung kämpft nur noch darum, sich entsprechend der zu messenden Standards zu entwickeln. Sie passt sich in ihrem Bildungsideal vollständig den Formalitäten solcher Messungen an und verwandelt sich damit in ein „auf Prüfungen vorbereitendes“ System. Es geht nur noch darum, sich entsprechend der erzielten Punktzahl auszurichten. Es wird immer mehr abgerichtet und immer weniger gebildet und ausgebildet. Die Akteure selbst, die Lehrkräfte, die Schüler, die Familien verinnerlichen so das Konkurrenzsystem. Die Familien selbst gewöhnen sich daran, solche formellen Resultate zu fordern. Die Lehrkräfte werden anhand solcher Kriterien gemessen, ganze Bildungseinheiten werden Jahr für Jahr über die Veröffentlichung solcher Resultate bewertet und erhalten dadurch Prestige und Anerkennung als „erfolgreich“ oder auch nicht.

Ein weiters Beispiel für die Vertiefung des Modells ist die von den Regierungen der Concertación auf dem Gebiet des öffentlichen Gesundheitswesens angewandte Politik. Das Paradigma der „Ressourcenkonzentration“ schuf die allgemeinen, für eine kontinuierliche Grundversorgung zuständigen Gesundheitsbudgets ab und installierte stattdessen ein Verwaltungsmodell, in dem der Staat nur die Gebäude der öffentlichen Krankenhäuser bereitstellt und ihre gesamten Operationen in Ausschreibungen an Privatfirmen vergibt. Das öffentliche Gesundheitssystem (FONASA, AUGE, GES) beschränkt sich nur noch darauf, individuelle Gesundheitsleistungen zu bezahlen.

Eine Folge davon ist die Privilegierung der kurativen Medizin zum absoluten Nachteil von Prävention und Palliativ-Versorgung. Zu letzteren erhält man nur dann Zugang, wenn die Maßnahme über Medikalisierung (Impfungen, REHA, Vorsorge-Untersuchungen) einer kurativen Versorgung nahe kommt.

Die Ausschreibungen und Konzessionen der Dienstleistungen, erst der Reinigung und Ernährung und später sogar der zentralen Bereiche wie Verwaltung und medizinische Versorgung prekarisiert die Beschäftigung im Bereich des Gesundheitswesens. Die staatlichen Unterstützungsleistungen hingegen dienen nicht mehr der Absicherung eines Menschrechts, sondern gleichen Gratifikations- oder Bonuszahlungen. Das Grundrecht auf Gesundheit wird so substantiell geschwächt.

Zugleich stellt die systematische Schwächung der Infrastruktur im öffentlichen Gesundheitswesen, wie sie in dem staatlichen Garantiesystem Garantías Explícitas en Salud, (GES) festgelegt sind, einen geradezu beispielhaften Mechanismus dar, wie man öffentliche Gelder systematisch in den Privatsektor verschiebt.

In Chile gibt es kein tatsächlich öffentliches Gesundheitswesen mehr. Und das hat gravierende soziale Konsequenzen für Prävention und Empowerment seiner Bürger. Ein System aus Boni und Zuweisungen staatlicher Mittel ist auf die medizinischen Bedürfnisse der Individuen als isolierte Einzelpersonen ausgerichtet. Nicht soziale oder Präventionskriterien stehen im Mittelpunkt des Systems, sondern Zuweisungen nach Fallhäufigkeitstabellen. Die staatlichen Gesundheitsausgaben sind keine Investitionen mehr, die auf die Verbesserung des Gesundheitsniveaus der Bevölkerung zielen; sondern nur noch Ausgaben und Kosten, die permanent zu überwachen sind, um ein exzessives Anwachsen des Staatshaushalts zu vermeiden.

Dass dies den privaten Gesundheitsfirmen entgegenkommt, zeigt sich an dem Garantiesystem GES. Nehmen wir ein repräsentatives Beispiel. Wenn ein Beitragszahler von FONASA (der staatlichen Krankenkasse, deren Leistungen von 84% der Bevölkerung in Anspruch genommen werden) einen Krankenhausaufenthalt benötigt, stellt der Staat über FONASA einen GES-Bonus aus. Mit diesem Bonus wird das öffentliche Krankenhaus bezahlt, in das der Patient eingewiesen wurde. Im Jahr 2012 kostete ein „Bettentag“ 129.000 chilenische Pesos. Aber die realen Kosten eines solchen „Bettentags“ liegen bei über dem Doppelten, etwa 300.000 Pesos. Da die Kommune das öffentliche Krankenhaus als unabhängige Wirtschaftseinheit verwaltet, bleibt das Krankenhaus dem Staat diese Differenz schuldig. Diese Kosten sollten eigentlich von den Kommunen übernommen werden, aber diese erhalten keine Mittel vom Staat, um diese Differenz zu decken. Also können nur die vier oder fünf Kommunen in Chile (von 350!) die Leistungen der Krankenhäuser aufrecht erhalten, die über einen finanziellen Überschuss verfügen, weil sich dort die privilegiertesten Bevölkerungsteile konzentrieren. Alle anderen Kommunen häufen eine „Krankenhausverschuldung“ an. Die Krankenhäuser dort verfügen über keine Mittel, ihre Leistungen zu verbessern oder ihre Kapazitäten zu erhöhen. Aber da der Nutzer einen Bonus empfangen hat, der eine die Gesundheitsleistungen betreffende Garantie umfasst, und da das öffentliche Krankenhaus wegen seiner Verschuldung nicht über die erforderlichen Betten verfügt, hat er das Recht, eine private Klinik aufzusuchen. Für die dabei entstehenden Kosten muss der Staat aufkommen. Aber dann ist der Staat auf magische Weise plötzlich bereit, dieser Klinik 800.000 (das Sechsfache!) pro „Bettentag“ zu zahlen. Es werden nicht einmal nur die realen Kosten, sondern genau die einseitig vom Privatunternehmer festgelegten kommerziellen Kosten anstandslos bezahlt. Auf diese Weise hat der Staat allein in den ersten neun Jahren der Implementierung des GES-Systems dem privaten Gesundheitssystem acht Milliarden Dollar zugeschanzt. Ein anderes Beispiel ähnlicher Art: FONASA zahlt den öffentlichen Krankenhäusern pro „Arztbesuch“ 4.950 Pesos, während die Privatkliniken für die gleiche Leistung 11.730 Pesos erhalten. Im Ergebnis waren bis 2012 insgesamt 200 Millionen Dollar „Krankenhausverschuldung“ aufgelaufen. Für den Staat ist das relativ wenig, aber es ist genug, damit das unter dem Prinzip der „Selbstfinanzierung“ verwaltete öffentliche Gesundheitssystem nicht in seine eigene Verbesserung investieren kann.

Während der Regierung von Michele Bachelet wurde der Bau zusätzlicher öffentlicher Krankenhäuser vorgeschlagen und als Lösung des Problems gefeiert. Es handelte sich offenbar um eine sehr fortschrittliche Maßnahme, denn 30 Jahre lang herrschte fast völliger Stillstand beim Bau von Krankenhäusern. Aber sowohl der Bau, als auch der Betrieb dieser Einheiten sind auf Basis von Ausschreibungen und Konzessionen an Privatunternehmen geplant. Die Begründung: man müsse dem Privatsektor Anreize bieten in einem defizitären Geschäftsfeld zu investieren. Also sind Subventionen für Bau und Betrieb der neuen Krankenhäuser vorgesehen, mit denen sichergestellt werden soll, dass die Privatfirmen Gewinne machen. So erwuchsen beim Bau zweier Krankenhäuser, dessen reale Kosten 300 Millionen Dollar betragen, dem Staat Kosten in Höhe von 600 Millionen Dollar. Das nur bezogen auf die Subventionen.

Ein bemerkenswerter Effekt ist, dass die chilenische Regierung triumphierend verkünden kann, sie habe Gesundheitsausgaben erhöht. Auf dieselbe Art sind auch die Ausgaben für Bildung, Kultur, Wohnungs- und Straßenbau drastisch gestiegen. Aber niemand spricht darüber, dass hier vor allen Dingen öffentliche Gelder in Privatkassen umgeleitet werden. Die Privatfirmen können vollkommen marktunübliche Preisaufschläge und Gewinnmargen durchsetzen. Die Gesundheitspolitik hat mit ihrer Bevorzugung der kurativen Medizin die Gesundheitslage verschlechtert, statt sie zu verbessern. Niemand thematisiert, dass die staatlichen Gesundheitsausgaben mittels Konzessionen und Boni keinen ständigen Anspruch begründen und also jederzeit eingefroren oder durch einfache Verwaltungsmaßnahmen (ohne zusätzliche Gesetzgebung) nach und nach wieder entwertet werden können. Unausgesprochen ist, dass die öffentlichen Ausgaben weit weniger wachsen als die Privatinvestitionen, vor allem weil der größte Teil dieser Steigerung der öffentlichen Ausgaben in die Kassen eben dieser Privatfirmen fließt.

In Chile wurde versucht, das Gesundheitswesen zu privatisieren, indem die Arbeitenden dazu gezwungen wurden, 7% ihrer Löhne in ein privates System der Krankenversicherung einzuzahlen: in die ISAPRES. Damit aber solch ein System eine minimale Praktikabilität aufweist, sind relativ hohe Löhne erforderlich. Jedoch beträgt in Chile der Durchschnittslohn aktuell nur 390.000 Pesos und er war noch viel niedriger, als das System damals installiert wurde. Obwohl in ISAPRES in der Vergangenheit bis zu 25% der Bevölkerung versichert waren, sind es gegenwärtig nur 16%: die Höchstverdiener. 84% der Chilenen nutzen das staatliche FONASA-System. Trotzdem haben die ISAPRES zwischen 1990 und 2004 direkte staatliche Subventionen von 530 Millionen Dollar erhalten, wodurch sie nicht nur wachsende Gewinne erzielen, sondern auch die wichtigsten Privatkliniken aufkaufen oder mit ihnen Gesellschaften gründen konnten. Und dann kündigte die Regierung in einer Operation, die uns bereits bekannt vorkommt, mit Pauken und Trompeten an, dass „die direkten Subventionen für Privatfirmen im Gesundheitswesen abgeschafft“ würden. Parallel implementierte sie seit 2005 das Garantiesystem GES. Damit haben die ISAPRES und die Privatkliniken, die heute eng miteinander verbundene Gesellschaften bilden, Zugang zu den Nutzern der FONASA erlangt, den anderen 84% – und das auf Kosten des Staates! Das Ergebnis zeigt sich in den bereits genannten Zahlen: zwischen 1990 und 2004 (in 15 Jahren) Subventionen in Höhe von 530 Millionen Dollar; zwischen 2005 und 2013 (in 9 Jahren) acht Milliarden Dollar Transfers vom staatlichen in den privaten Sektor. Der Staat „hilft“ den ISAPRES nicht mehr, er zahlt ihnen ganz einfach was sie unilateral für ihre legitimen Gewinne halten. Dies hat dazu geführt, dass gegenwärtig 57% der Gesundheitsausgaben in Chile im Privatsektor getätigt werden, wo jedoch nur 16% der Bevölkerung bevorzugt behandelt werden.[7]

Es ist müßig festzustellen, dass mit diesen 8,5 Milliarden Dollar locker 20 qualitativ hochwertige öffentliche Krankenhäuser hätten gebaut und betrieben werden können. So aber wird die öffentliche Infrastruktur im Gesundheitswesen tatsächlich immer ärmer und defizitärer. Entsprechendes geschieht mit dem öffentlichen Bildungswesen, dem Personennahverkehr, dem Wohnungsbau, dem Recht auf Kultur, den Investitionen in die Infrastruktur.

Und natürlich können die Chilenen wie in der Bildung auch in der Gesundheit durch Zuzahlungen bessere Leistungen erkaufen. Im Ergebnis werden 37% der Gesundheitsausgaben unmittelbar von den Familien selbst finanziert.

Der Kern all dieser Mechanismen ist die Prekarisierung der Staatsausgaben und die fortschreitende Umwandlung aller umfassenden und unteilbaren Rechte, die die Arbeitenden durchgesetzt haben, in personalisierte Boni und Zuweisungen. Boni pro Kind für Mütter, Boni für die Opfer eines Erdbebens, Subventionen für die Zusatzzahlungen der Väter an die Privatschulen, Boni für die Verbesserung der Wohnungen als Unterstützung angesichts der gestiegenen Heizmittelpreise, Boni für die Schulmaterialien zum Schuljahresanfang. Alles Boni nach Maßgabe der neo-populistischen und neo-klientelistischen Politik der Parteien, die jeweils zeitweilig die Regierungsgeschäfte übernehmen. Auf diese Weise werden die Staatsausgaben zu einer Menge gelegentlicher Konzessionen, besonderer Zuweisungen anlässlich besonderer, zeit- und räumlich begrenzter Situationen, die solange gewährt werden, solange die Staatsfinanzen gut laufen. Sie verschwinden, wenn in den Kassen Ebbe herrscht oder wenn die Prioritäten es erfordern, Banken oder Großunternehmen vorzuziehen.

Und es muss festgestellt werden, dass es sich um eine Situation handelt, in der der Rückgang der Staatsausgaben KEINE Verringerung der Bürgerrechte darstellt, ganz einfach weil diese Rechte nicht mehr die Kraft und die Beständigkeit einforderbarer Rechte haben, sondern die prekäre Unsicherheit eines Zugeständnisses oder einer hoheitsrechtlichen Schenkung, die kein Recht darstellt.

Dasselbe gilt im Arbeitsbereich. Es gibt kein Recht mehr auf ein einforderbares Grundgehalt. Stattdessen ein System diverser Boni für Produktivität, für Verantwortung, für besondere Feierlichkeiten, für besonders gute bei der Verrichtung der Arbeit gezeigte Eigenschaften, die eher Privilegien darstellen als Rechte, die eingefordert und eingeklagt werden könnten. Boni und variable Zuweisungen sind veritable Erziehungsmittel. Denn ihre Zuweisung erfolgt informell, ist ganz von subjektiven Beurteilungen abhängig. Die Arbeitenden werden so gezwungen, ein „positives Verhalten“ an den Tag zu legen, eine „pro-aktive“ Haltung einzunehmen, um möglicherweise in den Genuss der Begünstigung zu kommen. So entsteht eine interne Klientelbeziehung zwischen den Arbeitenden und dem mittleren Management eines Unternehmens sowie zwischen diesem mittleren Management und der Geschäftsführung. In den Bereichen mit besonders prekärer Beschäftigung ist es nicht selten so, dass die weniger qualifizierten Arbeiter einen Teil der Boni an das ihnen vorgesetzten mittleren Managements bezahlen müssen, während diese mittleren Angestellten wiederum die Boni ihrer Vorgesetzten zu zahlen haben. So ist eine regelrechte Kette der Lohnplünderung geschaffen worden. Der Niedriglohnsektor ist dabei Basis und Grundvoraussetzung für das Funktionieren dieses Systems.

Aber es lassen sich auch analoge Praktiken unter den kapitalistischen Unternehmern selbst beobachten. Gewöhnlicher- und förmlicherweise als Teil ihrer betreffenden Lieferverträge, kassieren die großen Einzelhandelsfirmen (retail) von ihren Lieferanten zwischen 15% und 20% allein dafür, deren Produkte in ihren Verkaufsregalen auszustellen. Das ist ein Betrag, der zur gewöhnlichen Wiederverkaufsmarge hinzuzurechnen ist, die sie bereits dafür erhalten, diese Produkte anzukaufen und an die Konsumenten weiter zu verkaufen. Darüber hinaus zahlen die Lieferfirmen informell auf verschiedenen Wegen direkt an diejenigen, die sie auswählen können. Der am meisten verbreitete und gängigste ist der Fall der Pharmavertreter, durch die die Pharmaindustrie den Ärzten „Anreize“ aller Art anbietet, damit sie die von ihnen beförderten Produkte verschreiben, auch wenn sie teurer als die möglichen Alternativen sind. Das sind Vorgehensweisen, die sich beim Umgang mit den Apotheken oder mit den öffentlichen Diensten wiederholen. Die Wirkung ist natürlich eine kettenförmige Verteuerung der Produktpreise, die letztendlich von den unmittelbaren Konsumenten getragen wird.

Aus einem allgemeineren Blickwinkel betrachtet ist das, was wir auf all diesen Ebenen beobachten, ein Prozess wachsender Bürokratisierung innerhalb der kapitalistischen Dynamik selbst. Immer mehr vermittelnde Wirtschaftsteilnehmer schalten sich zwischen die unmittelbaren Produzenten von Gütern und Dienstleistungen und die Konsumenten, aber auch zwischen die rechtlichen Eigentümer der Produktionsmittel und die Arbeitenden, die für Aufgaben der unmittelbaren Produktion einen Lohn beziehen. Das ist eine Bürokratisierung neuen Typs, die nicht mehr den fordistischen Formen der Bürokratie aus dem zwanzigsten Jahrhundert entspricht, sondern sich als eine enorme, stark wachsende, volatile und schwankende Bevölkerungsschicht etabliert. Ihr gehören die Funktionsträger für Leitungs- und Koordinierungsaufgaben an, die formell und informell die Vorteile nutzen, die ihnen ihr lokaler und unmittelbarer Raum zur Machtausübung gewähren mag.

Und es handelt sich um eine Bürokratisierung, in der die Ressourcen des Staates komplett in den Dienst der Privatunternehmer gestellt werden. So setzen sie die Beamten konstant unter Druck, aber natürlich auch umgekehrt. Auch die Beamten können die kapitalistischen Unternehmen erpressen, weil sie vollkommen abhängig geworden sind von den staatlichen Transferleistungen. So erklärt sich auch das Grauen der Unternehmerkreise angesichts populistischer politischer Projekte. Es geht nicht mehr darum, dass das Privateigentum in Frage gestellt werden würde, wie zu Zeiten der „marxistischen Bedrohung“; es handelt sich vielmehr um den Preis, das Stückchen vom Kuchen, das die Unternehmer an jene zu zahlen haben werden, die den Legitimationsmechanismus dieses ganzen Systems beherrschen: die verwaltete Demokratie.

Denn tatsächlich wäre nichts von all dem möglich gewesen ohne die aktive und gefällige Mithilfe der Staatsdiener selbst, deren Reproduktion und deren Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum immer mehr davon abhängt, inwieweit sie in der Lage sind, die Demokratie zugunsten des Kapitals und ihrer selbst zu verwalten. Zu diesem Zweck haben sie das fordistische Regime dauerhafter und stabiler Arbeitsrechte beseitigt und stattdessen Systeme prekärer Arbeit durchgesetzt, die Gewerkschaften zerstört, das Streikrecht vollkommen annulliert, die Werktätigen zu absolut ungleichen Verhandlungsbedingungen gezwungen. Gleichzeitig wurden das regressive Steuersystem, das Zwangssparsystem der AFP-Rentenkassen und das System der Vollkonzessionen für natürliche Ressourcen beibehalten.

Aber es geht auch darum, Beschäftigung im öffentlichen Dienst weiter zu prekarisieren; um die tatsächliche Zerstörung des öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesens. Und gleichzeitig muss eine qualifizierte Mehrheit der Wählerstimmen erreicht werden, um Gesetze, die Privatinteressen berühren, zu ändern. Auch das Wahlsystem, das der Rechten die Kontrolle der Hälfte des Parlaments mit nur einem Drittel der Stimmen garantiert, darf nicht geändert werden.

Nur eine konstant fortschrittliche Rhetorik kann die Bürger disziplinieren und das Modell sichern. Nicht nur prekäre Beschäftigung und Überschuldung fesseln die Bürger an ein System, das sie alltäglich der Überausbeutung und der Negation ihres Daseins preisgibt. Sie sind auch gefangen von einer in den Massenmedien immer wieder auftauchenden Illusionskonstruktion: bald werden wir sicher die Nöte überwinden, die uns „zeitweilig“ zu schaffen machen. Der Grundkonsens der sogenannten „politischen Klasse“ (bei denen es sich in Chile um das „Duopol“ aus Alianza und Concertación handelt), der fast einstimmig von den Medien unterstützt und verstärkt wird, ist gleichzeitig ein populistischer und nachgebender Diskurs. Ausgehend von einer merkwürdigen Rekonstruktion eines „linken“ Diskurses („all dies ist das Erbe der Diktatur“) wandelt er sich in einen von der „Behutsamkeit der Experten“ gereiften Populismus („wir erzielen tägliche Fortschritte… im Rahmen des Möglichen“).

Es handelt sich um eine Rhetorik, in der die epische Schilderung des „Kampfes gegen die Diktatur“ eine wesentliche Rolle spielt. Selbst Präsident Piñera, ein notorischer Rechter und ein mächtiger Unternehmer, zählt es zu seinen Verdiensten, im Volksentscheid von 1988 für das NO, also gegen Pinochet gestimmt zu haben. Dieser Diskurs von Personen, die Chile verraten haben, lebt von einem moralisierenden Ton. Sie seien im Exil gewesen, ihre Eltern seien ermordet worden oder dass sie vor mehr als dreißig Jahren einige Monate in einem Lager verbrachten. Das ist eine Rhetorik, mit der sie sich glanzvoll von dem unterscheiden möchten, was sie „die Rechte“ nennen, nur um dann selbst die gleiche rechte Politik zu implementieren. Sie zögern nicht, auf Salvador Allende zurückzugreifen, wenn sie unter Druck geraten. Methodisch aber verleugnen sie seine Politik, wenn sie dabei sind, ihre Aufrufe zur „Verantwortung“ und zur „Umsicht“ zu verbreiten.

Die Haupteigenschaft des chilenischen Modells jedoch, die sich am besten auf andere Länder Lateinamerikas übertragen lässt, und die auch für Europa interessant ist, besteht in der außerordentlichen Fähigkeit der politischen Klasse zu kosmetischen Änderungen: Damit alles beim Alten bleibt. Ihre Fähigkeiten sind olympiareif. Sie behaupten, sie würden „anerkennen“ was sie in der Tat nicht anerkennen, sie seien „bereit zu hören“, was sie nicht hören wollen, sie hätten versucht, etwas zu tun, was sie Minuten zuvor verweigerten.

Ein Lagos, der sagt, die Bergbaukonzessionen seien vergeben worden, weil Chile „über keine Mittel verfügte“ um neue Kupferbergwerke auszubeuten; Bachelet und das gesamte politische Spektrum beim Ankündigen einer neuen Bildungsgesetzgebung; ein Bitar, der behauptet, die Hochschulkredite mit staatlicher Bürgschaft würden für die Studenten von Vorteil sein; ein Piñera, der erklärt, die Studentenbewegung von 2011 sei ein „großer, edler und selbstloser Kampf“ gewesen, das sind nur einige der Highlights dieses Stils.

Man muss berücksichtigen, dass jede Regierung nur vier Jahre im Amt ist. Wenn es Proteste gibt, heißt es „man muss die Leute anhören“, selbst wenn man danach nichts tut. Wenn die Proteste anhalten, muss man eine riesige handlungsunfähige Kommission gründen „damit alle vertreten sind“. Wenn sich der Konflikt zuspitzt, muss man eine Expertenkommission bilden und einen Gesetzesentwurf ins Parlament senden. Wenn der politische Druck einen zwingt, ein Gesetz zu erlassen, muss man es vage genug abfassen, damit es unanwendbar oder seine Einhaltung unkontrollierbar wird. Wenn die öffentliche Meinung auf Kontrolle besteht, muss man den schlechtesten aller Unternehmer auswählen, einen der sich am Rande der Insolvenz bewegt oder der ausgesprochen korrupt ist, um ihn öffentlich mit Spott und Schande zu bestrafen und so alle anderen zu retten. Wenn der Betroffene aber über genügend Verbindungen mit der Politik verfügt, muss er kurze Zeit mit Getöse verdammt werden, um dann in aller Stille und in der Dunkelheit an seinen Berufungen und Kompensationen zu arbeiten.

Aber wenn all dies nicht genügt und die soziale Bewegung ein ums andere Mal die Straßen füllt, muss man zu einem „verantwortungsvollen Verhalten“ und zur „Einhaltung der Kommunikationswege“ aufrufen. Man muss mit dem „Chaos“ drohen und mit den „faktischen Mächten“, man muss daran erinnern, dass „Chile eine Aufgabe für alle ist“, Expertenmeinungen einholen, darauf verweisen, was man in „entwickelten Ländern“ macht, verdeckt damit drohen, dass wir „nicht das Unheil erneut erleben wollen, das unser Land schon einmal getroffen hat“. Man muss die „Unnachgiebigen“ anklagen, nicht „zum Dialog bereit“ zu sein, „die Grundregeln der Demokratie nicht zu beachten“ und „das internationale Prestige unseres Landes zu gefährden“. Macchiavelli könnte auf dieser Grundlage seinen Il Principe neu schreiben, würde aber dreimal so viel Seiten dafür benötigen.

Ein solch geschicktes Verhalten der Staatsvertreter ist nur möglich dank der ständigen Förderung rein individueller Interessen. Der rein private Nutzen wird allenthalben gepredigt. Rücksicht auf die Umwelt oder gar deren Schutz, Rücksicht auf die Menschen, die schließlich die Folgen erleiden, all das gilt als nutzlos. Die Mentalität der Erfolgsorientierung verlangt nach präsentablem Erfolg und teurem Konsum. In dieser Mentalität gibt es keine Grenzen des Selbstnutzens. Wer sich immun zeigt gegenüber den Folgen des eigenen Handelns und sich aus jeglicher gesellschaftlichen oder solidarischen Verantwortung verabschiedet, macht „Nächstenliebe“ zur geheiligten Ausnahme. Eine Nächstenliebe, die sich vollkommen in Paternalismus kleidet, in geheucheltes gutes Gewissen oder sogar nur eine weitere Gelegenheit ist für gute Geschäfte. Es gibt bereits zwei traditionelle chilenische Institutionen, die davon ein dramatisches Zeugnis ablegen: die „Teletón“, ein Spendenmarathon zugunsten behinderter Kinder, sowie das Obdachlosenheim „Hogar de Cristo“, das von der katholischen Kirche einer Privatfirma in Konzession verpachtet wurde.

Diese Mentalität hat eine neue öffentliche Subjektivität begründet. Ärzte in öffentlichen Krankenhäusern erlauben sich ohne moralische Skrupel als Inhaber einer Privatpraxis an den Ausschreibungen von Dienstleistungen teilzunehmen, die sie selbst während ihrer regulären Arbeitszeit bereitstellen sollten. Ja, sie gewinnen solche Ausschreibungen und bieten die betreffenden Dienstleistungen zu den gleichen Terminen an. Niemals jedoch würden sie auf ihre regulären Einkünfte aus der Staatskasse verzichten.

So wird es möglich, dass die privaten Schulunternehmer in Grund- und Mittelschulen darauf drängen, dass ihre Schüler als Personen mit „besonderem Förderbedarf“ (wie Aufmerksamkeitsdefizit oder leichter Sprachschwäche) diagnostiziert werden, nur weil sie deswegen im Vergleich zu „normalen“ Kindern den dreifachen Subventionsbetrag für das betreffende Kind empfangen können. So wird es möglich, dass Ärzte ihre Privatpatienten behandeln, während sie eigentlich die Grundversorgung gewährleisten müssten. So können Bürgermeister die Mittel für Bildung zweckentfremden womöglich sogar aufs eigene Konto, ohne dass irgendwer das wirklich kontrolliert. Die Parlamentsangehörigen entscheiden einvernehmlich und über Parteigrenzen hinweg, nur noch zwei Tage pro Woche zu arbeiten, um die anderen drei Tage mit vom Staat getragenen Fahrtkosten in ihre Bezirke zu reisen, nur um dort permanent für ihre Wiederwahl zu werben. Es führt auch dazu, dass die politischen Parteien ohne jegliche Rückfrage bei den Wählern die Personen bestimmen, die die wegen Rücktritt oder Todesfällen frei werdenden Sitze ihrer Organisationen im Parlament einnehmen werden. Es führt dazu, dass die Hochschullehrer der staatlichen Universitäten privat betriebene Graduiertenprogramme einrichten, dabei den Namen und die Einrichtungen der Universität nutzen und im Gegenzug nur einen Teil ihrer Gebühreneinnahmen abtreten; oder dass sie private Gesellschaften bilden, um im Namen der Universität und oft auch unter Nutzung von deren Infrastruktur an öffentlichen Ausschreibungen teilzunehmen. Es führt dazu, dass leitende Beamte Vorstandsmitglieder der von ihnen kontrollierten Privatfirmen werden. Es führt dazu, dass die Beamten die Verträge zwischen Staat und Privatfirmen absichtlich vage gestalten, auf Staatskosten Gewinnmargen garantieren und jegliche Kontrolle oder Strafzahlungen wegen Nichterfüllung der vertraglichen Vereinbarungen durch die Privatseite erschweren, selbst wenn Nichterfüllungen staatlicherseits oft mit gravierenden Vertragsstrafen belegt sind. Es führt dazu, dass millionenschwere „Geheimfonds“ des Staatspräsidenten und der wichtigsten Ministerien existieren, die wiederum auf Grund parteiübergreifender Beschlüsse von jeglicher formeller Rechnungslegung oder öffentlicher Einsichtnahme ausgeschlossen sind. Es führt dazu, dass der Senat der Universität aller Chilenen mit Hinweis auf ihren staatlichen Charakter staatliche Finanzierung verlangt, sich aber gleichzeitig selbst vor Gericht weigert, die Gehälter der Funktionäre und Hochschullehrer bekannt zu geben, wozu er per Gesetz verpflichtet wäre. Und so weiter und so weiter.

Zwei Aspekte sind wesentlich für diese Mechanismen: ihre „Normalität“ und ihr Elitismus. Die Bezeichnung Korruption wäre eine moralisierende und voreilige Sichtweise. Denn in Wirklichkeit ist das Teil der normalen, weitgehend institutionalisierten Funktionsweise des Systems. Es geht darum, dieses System theoretisch zu durchdringen, denn es handelt sich nicht um Ausnahmen oder Zufall. Die bürokratischen Interessen sind als etwas Besonderes zu betrachten, sie sind nicht einfach nur „anormale“ oder „korrupte“ Verlängerung der kapitalistischen Interessen. Der „Neoliberalismus“ ist so nicht mehr ein exklusiver Auswuchs der kapitalistischen Logik, sondern eine grundlegend neue Kombination, ein Bündnis zwischen den Interessen der kapitalistischen und der bürokratischen Klasse. Es handelt sich nicht um Beihilfe oder Mittäterschaft des Staats zur Sicherung kapitalistischen Gewinnstreben, also eine Art Verrat an den „wahren“ Zwecken des modernen Staates. Nein, das ist das Wesen des Staates: Die staatlichen Vertreter haben eigene Interessen, sie sind Teil einer sozialen Klasse. Sie bilden, zusammen mit den Bürokraten der großen kapitalistischen Unternehmen und Banken (deren höheres Management, nicht deren Eigentümer), einen Teil des herrschenden Klassenblocks, der mittels Aneignung und Verteilung von Mehrwert von dem realen, von unmittelbaren Produzenten geschaffenen Reichtum nutznießt.[8]

Mehr als diese Grundfragen, die die Vertiefung des „neoliberalen“ Modells mit dem Aufkommen der bürokratischen Macht in Verbindung bringt, interessiert mich am Ende dieses Kapitels der elitäre Charakter, der sich ausdrückt in der Art und Weise, die Herrschaft über die Gesellschaft zu organisieren.

Da es sich um eine Form von Ausbeutung handelt, geht es selbstredend um die Herrschaft einer Minderheit. In der marxistischen Tradition ist es möglich die schräge und mystifizierende Eleganz des Ausdrucks “élites” zu umgehen, mit dem sie die bürgerlichen Standardsoziologen bezeichnen. Nennen wir sie als das, was sie sind: ein Block herrschender Klassen.

Ein bürgerlich-bürokratischer Klassenblock, der seinerseits von einer drastischen Differenzierung in Schichten durchquert wird.[9] Die enormen Unterschiede in der Einkommensverteilung, die ich in vorangegangenen Abschnitten dieses Textes kommentiert habe, können hinsichtlich sozialer Klassen und Schichten als der tiefe Unterschied verstanden werden, der äußerst wenige nationale Kapitalisten (viel weniger als 1% der Bevölkerung) sowie das obere Management der Privatunternehmen und des Staatsapparats (durchaus bis zu 10% der Bevölkerung) von den restlichen 90% der Chilenen trennt.

Was die erste dieser Zahlen, die knappen 1% (oder eher 0,1%) der Chilenen betrifft, die große Industrieunternehmer, Banker oder Handelstreibende sind, ist eine melancholische Überlegung angebracht. In Wirklichkeit stellt ihr für den Rest der Chilenen kaum ermesslicher und unerhörter Reichtum nicht mehr als Krümelchen dar, die in ihren Händen als vermittelnde Satrapen verbleiben, nachdem das multinationale Großkapital den in Chile produzierten Reichtum geplündert hat. Die schlichte und tragische Wahrheit ist, dass praktisch der ganze von diesem Land produzierte signifikante Reichtum von den multinationalen Konzernen abgeschöpft wird. Und um das festzustellen, genügt es, die Hauptenklaven zu betrachten, von denen aus der „Erfolg“ des chilenischen Modells erzeugt wird: 70% der Kupferexporte und der größte Teil des Eigentums der AFP (Rentenversicherungen) befinden sich in den Händen des ausländischen Kapitals. Die „nationalen“ Kapitalisten pflegen starke Verbindungen mit dem transnationalen Kapital, was Eigentum und Verschuldung betrifft. Mit anderen Worten: der „nationale“ Kapitalismus hat praktisch nichts Nationales an sich.

Die zweite Zahl ist hingegen für die Politik dieses kleinen Landes relevant. Wenn wir feststellen, dass die privaten Krankenversicherungen 16% der Bevölkerung versorgen, dann ist diese Angabe äußerst bedeutsam. Es handelt sich um jene Familien, die diese Krankenversicherung bezahlen können. Das sind mittlere Unternehmer, aber vor allem die hohen Funktionäre, die sowohl aus Staat wie aus Privatwirtschaft ihren Nutzen ziehen können. Sie tun dies mittels ihrer „Expertise“, mittels ihres an eigenen Interessen ausgerichteten Form des Managements, wodurch sie nicht nur öffentliche Mittel manipulieren, die in Wirklichkeit das wichtigste „nationale Unternehmen“ darstellen, sondern auch die privaten Mittel, die ihnen von kleinen und mittleren Aktionären anvertraut werden. Der Fall des Unternehmens Ripley ist in dieser Hinsicht bezeichnend: Seine eigenen Geschäftsführer haben die kleinen Aktionäre betrogen, die sie trotzdem auf ihren Posten in der Aktionärsversammlung bestätigten. Diese Situation wiederholt sich überall auf der Welt.

Gegen diese Privilegierten stehen die restlichen 90%, die realen Reichtum produzieren. Von kleinen Unternehmern, die vom Finanz- und Handelskapital ausgenommen werden, über die kleinen und mittleren Staatsbediensteten und die Vertreter freier Berufe, bis schließlich zu den Arbeitenden, die handfeste Güter produzieren, welche letztendlich die Quelle des Mehrwerts sind, mit dem alle anderen unterhalten werden.

Für diese 90% sieht die Wirklichkeit prekäre Beschäftigung vor und Verschuldung wegen der hohen Kosten von Gesundheitsleistungen, Bildung sowie Altersfürsorge für die Familien und auch wegen des maßlosen Kreditwuchers im Einzelhandel.

Die Prekarisierung der Lebensverhältnisse hat jedoch sehr komplexe Folgen für die Entwicklung von Politik, für das Entstehen von Empörung und für die Perspektiven von sozialen Bewegungen. Die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen ist für jedermann offensichtlich und jeder erlebt sie am eignen Leib. Aber eben dieser prekäre Charakter fesselt die Menschen an die wenige und schlechte Arbeit, die sie bekommen können. Gewerkschaftsmitgliedschaft, Tarifverhandlungen oder auch nur passive Proteste am Arbeitsplatz gelten als existenzgefährdende Verhaltensweisen. Die Unternehmen wiederum sind ständig damit beschäftigt, neue Maßnahmen zu entwickeln, um diese Unsicherheit aufrecht zu erhalten, daran zu erinnern und von Zeit zu Zeit ihre willkürliche Macht als disziplinierende Maßnahme unter Beweis zu stellen. Die Präpotenz chilenischer Unternehmer ist in Lateinamerika sprichwörtlich. Ihre Arroganz stützt sich auf eine Übermacht, der keine Grenzen gesetzt werden. Die mittleren und kleinen Unternehmer tragen eine ähnliche Haltung zur Schau sei es als kulturell hochtrabende oder ordinäre Widerspiegelung. Ihr doppelter Charakter macht es noch schmachvoller: Überheblichkeit gegenüber den Werktätigen, maßlose Unterwürfigkeit gegenüber größeren und mächtigeren Unternehmern, von denen sie oft auf ebenso doppelte Art und Weise geschröpft werden.

Die Verschuldung verlängert und verschlimmert diese Knechtschaft. Einerseits ist sie eine mächtige Droge und ermöglicht die Flucht in den eitlen und exhibitionistischen Konsumismus, den die millionenschwere Werbung als Status- und „Erfolgs“-Symbol anpreist. Andererseits lastet sie auf den Ängsten der Menschen, erzwingt weitere Unterwürfigkeiten, und fördert ein Verlangen nach Sinnstiftung, nach etwas, ganz gleich was und auf Kosten von wem auch immer.

Verschuldung, Unterdrückung und Wucher prägen das Leben des Einzelnen in Chile. Die großen Handelshäuser, aufgestellt wie Banken, erhalten von der Zentralbank Geldmittel zu 5% Jahreszins und können diese Mittel als Konsumkredite für Jahreszinsen von 50% oder 60% vergeben. Chilenische Bürger, die kaum mehr als den Mindestlohn verdienen, können ohne jegliche öffentliche Kontrolle drei oder vier Kreditkarten besitzen. So entstehen millionenschwere Gewinne auf der einen Seite, Ängste und der Zwang, die schlechten Beschäftigungsverhältnisse ohne jeglichen Protest beizubehalten, auf der anderen.

Vieles ist über die Auswirkungen dieser alltäglichen Unterdrückung auf die Subjektivität veröffentlich worden. Chile weist Rekordzahlen bezüglich Kindesmisshandlung, Gewalt in der Familie, Aggressivität im öffentlichen Raum auf. Und auch die individuellen Folgen sind erschreckend. Wachsende Depressionsraten, die Zunahme an psychosomatischen Erkrankungen, Dysfunktionen in der Kommunikationsfähigkeit und emotionale Beziehungsstörungen kennzeichnen die psychische Lage.

Geradezu unheimlich ist die Wendung, die diese Entwicklung der Subjektivität genommen hat. Denn auch sie ist zu einem riesigen Geschäft geworden. Chile ist wahrscheinlich eines der wenigen Länder auf dieser Erde, wo man zwei oder drei Apotheken an ein und derselben Straßenecke finden kann. Angstlösende Mittel, Antidepressiva, Muskelrelaxanzien, Tabletten gegen Allergien, gegen Magenleiden, Schlaftabletten, Tabletten um sich wach zu halten – all das geht hier über den Ladentisch. Apotheken und Arztpraxen ersetzen den sozialen Protest mit Arzneimitteln. Die Empörung, die sich ohne schwerwiegende Anstellungs- und Lohnrisiken nicht äußern lässt, kommt schließlich als Somatisierung des Unbehagens zum Ausdruck. Das endet in einem dumpfen Raunen von Medizinern, die das ganze in pharmazeutischen Fachzeitschriften noch ideologisch verbrämen. Sie tun nichts anderes, als das Leiden noch zu verlängern und zu vertiefen. Chile ist das Land des depressiven Zusammenbruchs. Von der einfachsten Arbeiterin bis zum faschistoiden Präsidentschaftskandidaten – alle stehen unter einem gemeinsamen Zeichen: Jede plötzliche Steigerung des ständigen Stressniveaus führt zum Kollaps.

Unter solchen Umständen kann es nicht verwundern, dass die Schüler und Studenten oder die absolut Armen in den Randzonen der Städte oder die Fußballfans die mit allen Mitteln unterdrückte soziale Gewalt öffentlich machen. Die Schüler und Studenten bringen das Unbehagen ihrer Familien und ihr eigenes Angesicht einer solchen Zukunft ans Tageslicht. Die absolut Armen entladen ihren verhaltenen Zorn bei jeder öffentlichen Massenveranstaltung.

Und so ist Chile eine zutiefst gewalttätige Gesellschaft. Jene, die nicht sehen, die ergriffen von einem blinden Gefühl von Allmächtigkeit und Straflosigkeit andere missbrauchen, können nicht grenzenlos dunkle Winde säen und weiter säen. Sie werden früher oder später die von ihnen entfachten Stürme ernten müssen. Sie werden Stürme ernten. Erst dann wird endlich Chiles Stunde schlagen.

Aus dem Spanischen von Ralph Apel und Katja Maurer
 
Wir danken medico international für die freundliche Veröffentlichungsgenehmigung.
 

[1]Siehe beispielsweise María Olivia Monckeberg: El Saqueo de los Grupos Económicos al Estado Chileno (2001), Ediciones B, Santiago, 2001; Naomi Klein: La doctrina del shock: el auge del capitalismo del desastre (2007), Paidos, Barcelona, 2007.

[2]In Chile gab es den Skandal, dass ein ausländisches Unternehmen dem chilenischen Staat einen Teil eines großen gemeinsam betriebenen Kupferbergwerks zum sechzigfachen des von ihm ursprünglich gezahlten Preises verkauft hat. Und das in einem Land, in dem das 1971 von 100% des Parlaments angenommene Gesetz zur Nationalisierung des Kupfers weiterhin Gültigkeit besitzt, wo also alle Kupfererzvorkommen uneingeschränkt und unveräußerbar dem Staat gehören! Im Jahr 1978 verkaufte der chilenische Staat die Konzession des Kupferbergwerks „La Disputada de las Condes“ für 98 Millionen Dollar an Exxon. Letzteres Unternehmen erklärte, in 23 Jahren gar keine Gewinne aus diesem Bergwerk gezogen zu haben, aber es gelang ihm trotzdem, die Lagerstätte im Jahr 2001 für 1,3 Milliarden Dollar an Anglo American weiter zu verkaufen. Bei diesem Verkauf, verfügte Exxon, mit stillschweigender Zustimmung der Regierung von Ricardo Lagos, über eine Konzession als Privateigentum, für die sie in jenen 23 Jahren nicht einen einzigen Peso an Steuern bezahlt hatte. Im Jahr 2012 kaufte der chilenische Staat 24,5% dieser Lagerstätte für 1,7 Milliarden Dollar, das heißt, über sechzig Mal mehr als das, was er beim ursprünglichen Verkauf seiner Konzession erhalten hatte! Dabei muss bemerkt werden, dass unter Berücksichtigung aller Abschläge und Winkelzüge im Verlauf dieser „Verhandlungen“ der wirkliche Gesamtwert der Lagerstätte auf über 10 Milliarden Dollar geschätzt wird – ein Bergwerksbetrieb, der über dreißig Jahre lang erklärt hatte, nicht den geringsten Gewinn aus ihrer Ausbeutung zu ziehen.

[3]Siehe hierzu die vielfachen, vom Zentrum für nationale Studien zur alternativen Entwicklung (Centro de Estudios Nacionales de Desarrollo Alternativo (CENDA)) durchgeführten Studien über die AFP, bei www.cendachile.cl/.

[4]Siehe hierzu die Beiträge von Francisco Saffie Gatica, bei www.ciperchile.cl.

[5]Es muss daran erinnert werden, dass es inmitten der Verzweiflung, angesichts des offensichtlichen Mangels an Ressourcen, um das bereits in Betrieb befindliche System funktionsfähig zu machen, sogar auf den in der Verfassung festgelegten Fond von 2% des Jahreshaushalts zurückgegriffen wurde, der von der chilenischen Gesetzgebung für Katastrophenfälle vorgesehen ist.

[6] Ein dermaßen offensichtliches Absurdum, das selbst von Eduardo Frei Ruiz-Tagle erkannt werden konnte. Am 12. Mai 2007 veöffentlichten alle Medien in Chile nicht ohne eine gewisse Überraschung folgende Erklärung, die von ihm als Senatsmitglied herausgegeben wurde: “Beenden wir endlich diesen Aderlass, der uns verbluten lässt. Wir sollten ein für alle Mal anerkennen, dass es sich um einen schlecht entworfenen Plan handelt, der somit nur schwer in korrekter Weise implementiert werden kann. Sagen wir die Wahrheit. Mein Vorschlag ist, dass wir ohne Umwege ein staatliches System für den Personennahverkehr einrichten, wie in allen großen Städten auf der Erde”. Natürlich hielt sich dieser unglaubliche staatsverrannte Vorschlag nicht eine Woche in den Medien. Er wurde einfach unterdrückt und für immer vergessen.

[7]Für eine kritische Analyse der Gesundheitspolitik und als Quelle der hier genannten Zahlen kann auf die Artikel von Matías Goyenechea und Danae Sinclaire bei CIPER Chile zurückgegriffen werden:

ciperchile.cl/2013/05/22/las-rentables-heridas-de-la-salud-chilena/

ciperchile.cl/2013/05/27/como-se-ha-desmantelado-la-salud-publica/

ciperchile.cl/2013/06/03/propuesta-para-una-salud-publica-gratuita-y-de-calidad/

[8]Zur doktrinären, grundlegenden Annäherung an dieses Problem, auf das ich hier nicht näher eingehen werde, verweise ich auf die Argumentation, die ich in der zweiten Ausgabe des Vorschlag eines hegelschen Marxismus veröffentlicht habe, die sehr bald im Internet unter der Creative-Commons-Lizenz verfügbar sein wird.

[9]Zum Unterschied zwischen „Klassenanalyse“ und „Schichtenanalyse“, siehe auch den in der vorigen Fußnote angegebenen Text: Vorschlag eines hegelschen Marxismus.