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Verbindende Partei oder zurück zum »Bewegungskrieg«?

von Jan Rehmann

Eine Antwort auf Mimmo Porcaro: Occupy Lenin [1] (Heft 1/2013)

Das von Mimmo Porcaro entwickelte Projekt einer »verbindenden Partei« reagierte zum einen auf das Scheitern des traditionellen Modells einer Avantgardepartei, zum anderen auf die Grenzen »horizontaler« Bewegungs-Vernetzungen vom Typus Weltsozialforum. Gegenüber beiden hat der Vorschlag wichtige Stärken: Die angestrebte Verbindung erscheint nicht mehr als nahezu automatische Konsequenz einer ohnehin bereits vernetzten Multitude (Hardt/Negri), sondern als eine komplexe politische Aufgabe, die mit sozialen Spaltungen z.B. zwischen qualifizierten und weniger qualifizierten Arbeitskräften konfrontiert ist (Porcaro in LuXemburg 4/2011, 30ff); darüber hinaus geht Porcaro dem Problem politischer Führung nicht aus dem Weg: Sie muss demokratisiert werden, ist aber nach wie vor notwendig, um den Korporatismus der sozialen Bewegungen zu überwinden. Die Ergebnisse pluralistischer Debatten müssen durch intellektuelle und politische Gruppen weiterverarbeitet werden, die zu jedem Zeitpunkt die Klassenkonstellationen und möglichen Alternativen konkret analysieren (ebd. 34). Schließlich verweist Porcaro darauf, dass es nicht nur darum geht, bestehende soziale Bewegungen zu verbinden, da diese selbst nur von einer »popularen Elite« getragen werden, die Zeit und Energie für solche zivilgesellschaftlichen Aktivitäten aufbringen kann. Um die Spaltung zwischen Gebildeten und Ungebildeten zu überwinden, bedarf es zudem einer »sozialen Partei« mit »mutualistischen« Assoziationen wechselseitiger Unterstützung, Sozialzentren, Kooperativen etc., die den subalternen Massen unmittelbar zugutekommen (ebd. 30, 33).

Das hier umrissene Konzept enthält sowohl länderspezifische als auch verallgemeinerbare Züge. Dass verschiedene »Bewegungsinstitutionen« die Führung im Rotationsverfahren ausüben sollen (ebd. 29, 34), ist m. E. der besonderen Fragmentierung der italienischen Linken geschuldet und kann nicht als allgemeine Bestimmung einer verbindenden Partei gelten – auch deshalb, weil dies leicht dazu führen kann, den Korporatismus, den es bei den sozialen Bewegungen zu überwinden gilt, im Inneren der Partei zu reproduzieren. Effektive Verknüpfungsarbeit kann in unterschiedlichen institutionellen Formen geleistet werden, nicht zuletzt auch von einer Parteiführung, die Kompetenzen aus unterschiedlichen Bewegungen versammelt, ihre Widersprüche transparent ausarbeitet und von der Basis kontrolliert werden kann.

Von einer verbindenden Partei kann man sprechen, wenn die sozialen und kulturellen Spaltungen zwischen und innerhalb der subalternen Klassen sowie ihre Überwindung zum expliziten Gegenstand der politischen Analyse und Strategiebildung gemacht werden. In diesem Sinne kann man sagen, dass die meisten der gegenwärtig relativ erfolgreichen Linksparteien – z.B. Die Linke, Izquierda Unida, die Front de Gauche und Syriza – nicht nur als Partei-Koalitionen oder Koalitionsparteien entstanden sind, sondern Elemente einer verbindenden Partei aufweisen. Die neuen Führungsqualitäten, die man beispielsweise bei der neuen Führung der Linkspartei um Katja Kipping und Bernd Riexinger beobachten kann, liegen vor allem darin begründet, dass sie das Verbindungsproblem verschiedener sozialer Komponenten ins Zentrum ihrer Arbeit stellt und umsichtig bearbeitet – und dies innerparteilich wie auf der Ebene sozialer Bewegungen und hinsichtlich verschiedener Sozialmilieus in der Gesellschaft. Der Ende 2012 entwickelte Plan B für einen sozialökologischen Umbau (vgl. LuXemburg 4/2012) kann als Versuch gesehen werden, die elitenseitig betriebene Spaltung von ökologischer und sozialer Frage zu durchkreuzen und ihr das Modell einer organischen Verknüpfung von ökologischem Umbau, Energiedemokratie und sozialer Gerechtigkeit entgegenzusetzen. Der spektakuläre Erfolg von Syriza ist im Wesentlichen der Entwicklung spezifischer Verknüpfungsfähigkeiten geschuldet: Jahrelang gab es riesige Massendemonstrationen, z.T. mit äußerster Militanz, die aber relativ unwirksam blieben, bis es dem Linksbündnis allmählich gelang, die verschiedenen Bewegungen zu einer politischen Alternative zusammenzuführen, die im Juni 2012 nahezu 27 Prozent der Stimmen erhielt.

Umgekehrt kann man am Beispiel von Occupy Wall Street sehen, dass die (vorübergehende) Niederlage der Bewegung auch mit dem Fehlen einer verbindenden Linkspartei in den USA zusammenhing: Die Bewegung war zunächst sehr erfolgreich, die öffentliche Meinung zu mobilisieren und die Kräfteverhältnisse im popularen Alltagsverstand zu verändern. Sie hat es aber dann nicht vermocht, eine netzwerkartige linke Formation neuen Typs zu konstituieren, die diese Erfolge hätte stabilisieren können. Trotz des anspruchsvollen Slogans »We are the 99%« blieb sie in der Praxis auf einer korporatistischen Stufe stecken: Die vielversprechenden Vernetzungen blieben vorpolitisch und zerfielen daher immer wieder in Fragmente (vgl. Rehmann 2012).

Deshalb liegt derzeit die strategische Hauptaufgabe in der Entwicklung einer verbindenden Partei neuen Typs, die wiederum spezifische Aufgaben im Rahmen einer pluralen Mosaiklinken (Urban) aus Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Partei(en) wahrnehmen kann (vgl. LuXemburg 1/2010).  Aber wie verhält sich dies zu Porcaros jüngster These in Occupy Lenin, wir seien wieder vom »Stellungskrieg« zu einem »Bewegungskrieg« übergegangen (in diesem Heft, 137) und müssten entsprechend den Aufbau engverbundener, oligarchischer und halb-autoritärer Führungsgruppen in Angriff nehmen? (ebd. 138)

Dass die neoliberale Krisen- und Verschuldungspolitik die sozialen und politischen Verhältnisse in Südeuropa in Bewegung gebracht hat, ist unübersehbar; dass daraus neue strategische Schlussfolgerungen zu ziehen sind, ist unbestreitbar. Zu Recht verweist Porcaro auf die Wandlung von einem inklusiven zu einem »Nullsummen-Kapitalismus« (ebd. 135), der zunehmend auf die ›hard power‹ (ebd. 138) wirtschaftlicher Erpressung und politischer Gewalt rekurriert und dessen Fähigkeit, Massenkonsens herzustellen, brüchiger wird (ebd. 136). Nachvollziehbar ist zudem seine Frontstellung gegen eine »gradualistische« Gramsci-Interpretation (ebd. 138), die unter dem Vorwand, »zuerst« die Zivilgesellschaft und dann die Hauptquartiere des Kapitals und des Staats zu besetzen, letztere überhaupt aus dem Auge verloren hat (ebd. 137). Im Hintergrund steht offenbar immer noch die traumatische Erfahrung einer sich u.a. auf Gramsci berufenden reformistischen Wende, die in der Umwandlung des PCI zum sozialdemokratisch-sozialliberalen Partito Democratico ihren traurigen Höhepunkt gefunden hat.

Porcaros Diagnose einer Rückkehr zum Bewegungskrieg halte ich jedoch für falsch. Für Gramsci war es gerade Lenin, der mit seiner ›Einheitsfront‹-Politik die Notwendigkeit einer Wende vom Bewegungskrieg zum Stellungskrieg formuliert hat. Möglich war der Frontalangriff auf die Machtzentren in Ländern wie Russland, wo die Zivilgesellschaft »in ihren Anfängen und gallertenhaft« war, nicht aber in den kapitalistischen Zentren, wo hinter dem »vorgeschobenen Schützengraben« staatlicher Repression eine »robuste Kette von Festungen und Kasematten« zum Vorschein kam (H. 7, §16, 874). Als Bewegungskrieg kennzeichnete Gramsci auch das »ökonomistische Vorurteil«, eine Wirtschaftskrise könne in die feindliche Verteidigung eine Bresche schlagen, sodass man die eigenen Truppen »blitzartig« konzentrieren und die Festung erobern könne (H. 13, §24, 1587f). Auch dies gelang zuletzt in den Ereignissen von 1917 und scheiterte später an der »widerstandsfähigen Struktur« der Zivilgesellschaft (1589f). Im Gegensatz zu den im Marxismus verbreiteten Zusammenbruchstheorien hielt Gramsci es für »ausgeschlossen«, dass unmittelbare Wirtschaftskrisen »von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen«, sie können nur einen »günstigeren Boden« für die Verbreitung bestimmter Sichtweisen und Lösungsvorschläge bereiten (H. 13, §17, 1563).

Die bisherigen Erfahrungen mit der jüngsten Wirtschaftskrise haben Gramscis vorsichtig-nüchterne Einschätzung bislang bestätigt. Porcaros eigene Beobachtung zum Verlust des Massenkonsenses lässt sich mit Gramscis Bemerkung zum »Interregnum« verbinden, in dem die herrschende Klasse nicht mehr aktiv »führend«, sondern »herrschend« ist, aber das Neue nicht zur Welt kommen kann (H. 3, §34, 354). Wenn sich der neoliberale Kapitalismus nur noch auf einen passiven Konsens stützen kann (Candeias 2010, 9 u. 20), dann in erster Linie, weil eine attraktive demokratisch-sozialistische Alternative noch nicht in Sicht ist. Den durch eine Hegemoniekrise entstehenden günstigen Boden zu nutzen, ist für Gramsci gerade Aufgabe eines Stellungskriegs. Dieser ist auf den Auf- und Ausbau einer Gegenhegemonie gerichtet und hat mit »Evolutionismus« und reformistischer Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft nichts zu tun. Die zu erobernde Zivilgesellschaft war für Gramsci im Übrigen nicht »jenseits des Staates«, wie Porcaro meint (in diesem Heft, 137), sondern Bestandteil eines erweiterten Verständnisses vom »integralen Staat«. Porcaros Behauptung, die »intermediären Institutionen« seien in den 1970ern »bereits infiltriert und zuweilen sogar erobert worden« (ebd.), ist eine Übertreibung, die zudem darüber hinwegtäuscht, dass der Verlust der »roten Kommunen« und anderer zivilgesellschaftlicher Stützpunkte eine schwere Niederlage bedeutete, von der die gesamte italienische Linke sich bis heute noch nicht erholt hat. Das Argument, die Zivilgesellschaft sei heute durch ihre neoliberale Privatisierung und Zerstücklung so sehr ausgehöhlt, dass man keine Energien mehr auf sie verschwenden sollte, ist voreilig: Auch im Fordismus wurde die Zivilgesellschaft von oben manipuliert, und auch heute spielen linke LehrerInnen, GewerkschafterInnen, KulturproduzentInnen, JournalistInnen, RechtsanwältInnen usw. eine wichtige Rolle im hegemonialen Kräfteverhältnis – weshalb würde man sonst soviele Anstrengungen darauf verwenden, sie von den hegemonialen Apparaten fernzuhalten? Problematisch erscheint mir die undialektische Retourkutsche auf den Reformismus, einzunehmen seien nicht die Apparate der Zivilgesellschaft, sondern stattdessen die Hauptquartiere des Kapitals und des Staates (ebd. 138). Es ist schon schwer genug, sich eine unmittelbare Besetzung der immer wieder verschobenen und von der Macht evakuierten »Hauptquartiere« konkret vorzustellen. Noch illusionärer ist jedoch die Vorstellung, eine solche Besetzung könnte ohne entsprechende zivilgesellschaftliche Verankerung, Gegenhegemonie und Massenmobilisierung erfolgen.

Ansonsten hat Porcaro absolut recht, wenn er sich bei seiner Lektüre Lenins nicht auf dessen spezifische inhaltliche Antworten, sondern auf seine politische Produktionsweise konzentriert: Ein bewegliches Denken von Brüchen, die Fähigkeit, in wechselnden Konstellationen den richtigen Augenblick zu erfassen und schnell zu intervenieren, werden auch heute dringend gebraucht. Wir können nur hoffen, dass z.B. Syriza bei einem möglichen Wahlsieg auf die nächsten Schritte gut vorbereitet ist und die Kraft zu entschiedenen, machtpolitisch wirksamen sowie zivilgesellschaftlich gestützten Interventionen aufbringt. Dabei kommt es auf die koordinierten Fähigkeiten einer verbindenden Partei neuen Typs an, Strategien des Bruchs, der Gegenmacht und des wirksamen Eingreifens zu entwickeln, und zwar solche, die die Lebensbedingungen der Menschen tatsächlich verbessern.

Literatur
Candeias, Mario, 2010: Passive Revolution vs. sozialistische Transformation, Berlin, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/rls-paper-Candeias_2010.pdf
Gramsci, Antonio, 1991–2002: Gefängnishefte, 10 Bde., hgg. v. K. Bochmann, Wolfgang Fritz Haug und Peter Jehle, Berlin-Hamburg
Grasberger, Lukas, 2012: Bewaffnet mit Würsten, in: ver.di Publik 5/2012, publik.verdi.de/2012/ausgabe-05/spezial/jugend/seiten-20-21/A0 [2]
Juberías, Luis, Edgar Manjarín, Quim Cornelles, Ayoze Alfageme und Celestino Sánchez, 2012: Zwei Jahre Mobilisierungen. Perspektiven eines demokratischen Bruchs in Spanien, in: LuXemburg 3/2012, 126–31
Porcaro, Mimmo, 2011: Linke Parteien in der fragmentierten Gesellschaft, in: LuXemburg 4/2011, 28–34
Rehmann, Jan, 2012: Occupy Wall Street – eine gramscianische Analyse, in: Das Argument 300, 54. Jg., 897–909
Wainwright, Hilary, 2012: Griechenland: Syriza weckt Hoffnungen, in: LuXemburg 3/2012, 118–25