| USA von der türkischen Offensive überrumpelt?

September 2016  Druckansicht
Von Axel Gehring

Die Recherche des Wall Street Journal im Kontext des syrischen Bürgerkrieges

Bei der jüngst von der Türkei angeführten Offensive gegen Jarablus und weitere Ortschaften im noch vom Islamischen Staat (IS) gehaltenen Korridor nahe der Grenze zur Türkei wurde schnell klar, dass sie sich primär gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten der YPG richtete. Es war auch offenkundig, dass die Türkei eine solche Offensive nicht ohne die Zustimmung bedeutender Akteure, wie Russland, dem Iran und allen voran ihrem wichtigsten Bündnispartner, den USA, durchführen würde. Rasch war daher von einem Verrat der USA an den zuverlässigsten Kämpfer*innen gegen den IS die Rede – oder zumindest von einer sehr weitgehenden Interessensgleichheit zwischen der Türkei und den USA. Am 30. August erschien im Wall Street Journal der Artikel „Turkish Offensive on Islamic State in Syria Caught U.S. Off Guard“. Er stellt diese verbreitete Lesart in Frage.

So schildert der Artikel detailliert, wie die US-Regierung von der jüngsten Offensive, die die türkischen Streitkräfte gemeinsam mit einem Konglomerat verschiedenster islamistischer Milizen der Freien Syrischen Armee sowie dschihadistischen Gruppierungen durchführten, förmlich überrumpelt wurde. Die Offensive war anfangs als eine der internationalen Anti-IS-Koalition angekündigt worden. Glauben wir dem Artikel, so stellt sie sich jedoch bei weitem nicht als eine gemeinsame militärische Aktion der mutinationalen Anti-IS-Koalition dar. Stattdessen sei die Koordination der militärischrischen Handlungen auf höchster Führungsebene zusammengebrochen. Dies liege an tiefen politischen Differenzen der türkischen und der US-amerikanischen Regierung.

Differenzen im Verhältnis USA und Türkei

So hatten sich die USA und die Türkei zunächst darauf verständigt, eine gemeinsame Operation unter Beteiligung von US-Spezialkräften durchzuführen. Stattdessen kam es zu einem für die USA überraschenden unilateralen Vorgehen der türkischen Streitkräfte unter Beteiligung islamischtischer und dschihadistischer Milizen, die zu Zeiten der gemeinsamen Operationsplanung von den USA als zu radikal eingestuft worden waren. Weitere Streitpunkte waren die Tiefe des türkischen Vordringens in den syrischen Raum, sowie Kampfhandlungen gegen die kurdische YPG. Sie veranlassten die USA dazu gegenüber der Türkei die Grenzen US-amerikanischer Luftunterstützung klarzumachen. Von der YPG verlangten sie einmal mehr den Abzug ihrer Kräfte aus dem mehrheitlich arabischen Manbij zurück auf ihre Ausgangsstellungen jenseits des Euprhat. Tatsächlich kam es auf Basis dessen wenig später auch zu einer Waffenruhe zwischen der YPG und den an der türkischen Offensive beteiligten Kräfte.

Ob die besagten US-amerikanischen Stellen wirklich nichts von der unmittelbar bevorstehenden türkischen Offensive und vor allem von deren unilateralem Charakter wussten, kann aus der Distanz nicht beurteilt werden. Vieles spricht jedoch für die Glaubwürdigkeit der Informationen. Die Tatsache, dass das Wall Street Journal den Artikel ohne Dementi aus dem Weißen Haus verbreiten konnte, ist von eigener Qualität. Es verweist auf eine deutliche Distanzierung der USA von der türkischen Operation, und zwar nicht offiziell, sondern semioffiziell über die Medien. Der Konflikt zwischen der türkischen und der US-Regierung liegt damit offen.

Komplexe Interessenkonstellation im syrischen Bürgerkrieg

Wie fügt sich dieser Konfikt in die Konstellation der Ereignisse und Interessen des syrischen Bürgerkrieges ein? Noch immer werden Behauptungen kolportiert, die USA verfolgten in Syrien die Strategie eines Sturzes des Baath-Regimes mittels islamistischer Rebellengruppen, oder aber sie hätten die „syrische Revolution“ durch Nicht-Unterstützung sogenannter moderater Rebellen verraten. Beide Erzählungen können das Handeln der USA gerade auch angesichts der jüngsten türkischen Offensive nicht erklären – denn der Bürgerkrieg und die Interessen seiner Pratagonist*innen sind komplexer:

Sowohl Russland als auch die USA haben sich längst damit abgefunden, dass ein vollständiger militärischer Sieg der einen oder anderen Rebellen- oder der Regierungsfraktion im syrischen Bürgerkrieg vollkommen ausgeschlossen ist. Trotz Differenzen geht es für sie weder um den Sturz des Baath-Regimes noch um die vollständige Vernichtung der Rebellen. Wäre dies der Fall, wäre das militärische Handeln auf beiden Seiten in den letzten Jahren weitaus entschiedener ausgefallen. Fast allen maßgeblichen Akteuer_innen dürfte bewusst sein, dass die territoriale Integrität Syriens wenn überhaupt, nur unter großen Konzessionen an die jeweiligen lokalen Kräfte zu erhalten sein wird. Noch dazu ist der Kampf gegen den IS von hoher Bedeutung. Dies sollten wir im Auge behalten, wenn wir die jüngsten Differenzen zwischen den USA und der Türkei verstehen wollen.

Für beide Seiten, die USA wie Russland, überraschend hatten in den letzten Jahren im Norden Syriens nach dem Rückzug des Baath-Regimes lokale kurdische Kräfte unter Führung der kurdischen Partei der Demokratischen Union, PYD, die administrative Verwaltung und militärische Kontrolle übernehmen können. Nach schweren Niederlagen im Verlauf des Jahres 2014 avancierten ihre YPG Milizen schließlich in den Augen der US-Regierung zur entscheidenden Kraft im Kampft gegen den IS. Während sie in den Jahren zuvor von zahlreichen arabischen Rebellengruppen politisch und militärisch fortwährend enttäuscht worden waren, verlagerten sie nun ihre Unterstützung sukzessive auf die Syrischen Demokratischen Kräfte, SDF. Unter Führung der PYD umfasst dieses Bündnis größtenteils Einheiten der YPG und einige arabische Milizen. Der SDF gelang es, dem IS weite Teile Nordsyriens abzunehmen und unter dem kurdischen Namen Rojava zu vereinen.

Obwohl weder die USA noch Russland die gesellschaftlspolitische Ausrichtung der PYD teilen und Rojava eher als kurdische Bezeichnung für den Norden Syriens wahrnehmen, denn als ein Projekt zur Überwindung kapitalistischer Verhältnisse, hat die PYD mit beiden Mächten in den zurückliegenden Jahren relativ vielfältige Kooperationen eingehen können. Ihre Performance im Kampf gegen die Dschihadisten hat dies zu einer Frage der realpolitischen Vernunft gemacht. Gleiches gilt für die PYD. Sie weiß, dass sie mit beiden Mächten ein Arrangment finden muss, so sie denn dem IS standhalten will.

Zwar mögen sie nicht den gesellschaftspolitischen Impetus des Förderalisierungsprojektes a la PYD – doch Föderalisierung als solche eröffnet die Möglichkeit den Krieg in den einzelnen Regionen Syriens stufenweise zu beenden. Da es die große Friedenslösung ohnehin nicht geben wird, haben also Teile der Programmatik der PYD bei den USA wie auch Russland einen gewissen Grad an Akzeptanz. Eine nachhaltige Schwächung der PYD und der YPG-Milizen, die den Kampf gegen den IS gefährden könnte oder das Kräftegleichgewicht des Bürgerkrieges zu anderen dschihadistischen Gruppen verschieben könnte, ist folglich nicht in ihrem Interesse. Zugleich aber haben sie beide kein Interesse an einer zu starken und zu unabhängig agierenden PYD und YPG – auch weil gute Beziehungen zur Türkei für beide mittel- bis langsfristig zu wichtig sind. Daraus ergibt sich der Wunsch gewisse Einflussmöglichkeiten über die YPG zu behalten. Die USA verfügen durch ihre konstante militärische (Luft-) Unterstützung der kämpfenden YPG/SDF-Einheiten über solche Möglichkeiten; Russland durch seinen diplomatischen Einfluss auf das Baath-Regime, sowie seine Fähigkeit türkische Luftschläge gegen die YPG im Zweifel zu unterbinden. Die zurückliegenden militärischen Erfolge der YPG fußen nicht allein darauf, wären aber ohne diese Faktoren nicht denkbar gewesen.

Pragmatische Allianzen

Im Lichte dieser Fakten wird es leichter, die türkische Offensive von Jarablus und die türkisch-amerikanischen Differenzen, sowie die Grenzen der türkisch-russischen Annäherung zu verstehen: Der Türkei eine begrenzte Offensive zu erlauben, stellt sowohl einen Versuch Washingtons als auch Moskaus dar, ihre in der Vergangheit angespannten Beziehungen zu Ankara zu verbessern. Die Verbesserung der Beziehungen zu Ankara ist für die längerfristige Lösung des syrischen Bürgerkrieges von entscheidender Bedeutung, hatte die AKP-Regierung doch lange Zeit den Sturz des Baath-Regimes betrieben. Diese Ziel wurde spätestens mit der Ablösung des türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu schrittweise von einem pragmatischerem Ansatz abgelöst: Ankara ist hier mehr und mehr zu Konzessionen bereit, wenn sich Washington einer Contaiment-Strategie gegenüber der PYD/YPG verschreibt, oder zumindest begrenzend bis kontrollierend auf ihren weiteren Vormarsch einwirkt.

Ebenso galt es mit der Zustimmung zur Offensive der Türkei auch die PYD/YPG zu warnen: Stimmt Euer Vorgehen mit uns ab, wir unterstützen Euch nur in soweit nicht unsere Interessen im syrischen Bürgerkrieg negativ berührt sind. Warum nun die Differenzen zwischen Ankara und Washington? Die Antwort ist ziemlich einfach: Ein tiefes Eindringen der türkisch-geführten Offensive nach Manbij oder gar weiter nach al Bab hatte für Washington nie ernsthaft zur Debatte gestanden – erst recht kein umfassender Angriff auf die YPG. Obwohl der türkische Präsident die Offensive als einen solchen darstellt, erlauben die von der Türkei bereitgestellten überschaubaren militärischen Kapazitäten dies ohnehin nicht. Sie reichen für die Bildung kleiner Brückenköpfe oder die Besetzung des unmittelbaren grenznahen Raumes.

Jede darüber hinaus gehende Offensive würde US-amerikanische, wie russische Interessen empfindlich berühren: Die USA benötigen die PYD im Kampf gegen den IS, und Russland sähe im Falle der Schließung des vom IS gehaltenen Korridors (zwischen den Kantonen Afrin und Kobane) durch Kräfte der Freien Syrischen Armee und dschihadistische Gruppen die Positionen der syrischen Regierungstruppen im Norden und Osten von Aleppo mittelbar bedroht.

Diplomatischer Druck auf die Türkei, ihre Offensive rasch einzustellen und einen Waffenstillstand zu schließen, war in dieser Konstellation zu erwarten – zumal einige der von ihr unterstützten Milizen gern weiter vorgestoßen wären. Wir können die Weitergabe der Informationen über die amerikanisch-türkischen Differenzen an das Wall Street Journal als Teil einer solchen diplomatischen Drohgebärde an Ankara werten.

Für die PYD und ihr Rojava-Projekt insgesamt stellte die jüngste türkische Offensive in rein militärischer Hinsicht zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte Bedrohung dar. Die politischen Implikationen wiegen weit schwerer: Sie weiß nun, dass die Schließung des Korridors diplomatisch weit schwieriger zu vermitteln sein wird, als sie militärisch wohlmöglich zu erreichen wäre: Will Washington von Ankara weitere Zugeständnisse für eine mögliche Friedenslösung im Syrienkrieg erwirken, so kann es einer Schließung des Korridors unter Führung der YPG-Milizen nicht zustimmen. Anderenfalls würde Ankara weiterhin Dschihadisten logistisch unterstützen. Die Schließung des Korridors durch ebenfalls innerhalb der SDF organisierte arabische Milizien dürfte sich derweil allein schon deshalb als schwierig erweisen, weil es diesen an Zahlenstärke fehlt.

Und schließlich wurde der PYD die politische Fragilität ihres Projektes vor Augen geführt: Föderalisierungs Syriens mag für die PYD mit einer umfassenden Reorganisation der gesellschaftlichen Beziehungen im Sinne der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse und konfessionalistischer Politiken verbunden sein – für ihre(temporären) russischen und US-amerikanischen Bündnispartner_innen meint Föderalisierung etwas ganz anderes: Die schrittweise Befriedung des syrischen Bürgerkrieges entlang sprachlich-ethnischer sowie religiös-konfessioneller Linien, die sich durch die Vielzahl von Massakern und Vertreibungen in ganz Syrien tief in die politische Geographie des Landes eingeschrieben haben. Am Ende könnten vorwiegende alawitisch-christliche, sunnistisch sowie kurdisch Regionen stehen. Föderalisierung wäre zu einer Frage der administrativen Gliederung Syriens domestiziert.