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Unvollständige Emanzipation. Frauen in der neoliberalen Krisenbearbeitung in Griechenland

von Haris Triandafilidou

Knapp drei Jahre nach der Verabschiedung des ersten Memorandums im griechischen Parlament hat der damals eingeleitete radikal-neoliberale Umbau der griechischen Gesellschaftsformation das Land tiefgreifend verändert. Von Maßnahmen wie der Lockerung des Kündigungsschutzes, der praktischen Abschaffung des Tarifrechts und den Kürzungen sozialstaatlicher Fürsorgeleistungen werden Frauen – Migrantinnen wie einheimische – in besonderer Härte getroffen. Anhand der spezifischen Auswirkungen der neoliberalen Agenda auf die Situation von Frauen in Griechenland wird deutlich, dass durch die aktuelle Politik nicht nur Errungenschaften aus langjährigen Auseinandersetzungen um Arbeitsverhältnisse, sondern auch Erfolge feministischer Kämpfe aufgehoben werden.

Arbeitsmarkt

Rund 80 Prozent der berufstätigen Frauen in Griechenland waren vor der Krise im Dienstleistungssektor beschäftigt. In diesem besonders von der Krise betroffenen Bereich trafen Entlassungen also überwiegend Frauen (Doudoumi 2012). Als im Juli 2012 die Arbeitslosigkeit in Griechenland 25,1 Prozent erreichte, lag die von Frauen bei 29 Prozent und war damit deutlich höher als die von Männern (22,3 Prozent). Jungen Frauen wird ihre finanzielle Unabhängigkeit dadurch verwehrt, dass es ihnen quasi unmöglich ist, einen Arbeitsplatz zu finden. Laut Angaben der griechischen Statistikbehörde ELSTAT waren im zweiten Quartal 2012 62 Prozent der Frauen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren von Arbeitslosigkeit betroffen. Nur 14,7 Prozent der mehr als eine Million Arbeitslosen erhält das für maximal zwölf Monate ausgezahlte Arbeitslosengeld in Höhe von 360 Euro. Nachdem die Bindung an Flächentarifverträge im Namen der Arbeitsmarktflexibilisierung gesetzlich aufgehoben worden war, wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2012 49 Prozent der Arbeitsverträge in befristete Verträge bzw. Teilzeitverträge umgewandelt. Dies führte zu Lohneinbußen in Höhe von 50 Prozent. Da Frauen bereits vor der Krise schlechter entlohnt wurden als Männer, bewirken Lohnkürzungen für sie ein deutlich schnelleres Abdriften in die Armut als für Männer. Insgesamt ist die Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt seit Ausbruch der Krise um 14 Prozent zurückgegangen (Karamessini 2012). Durch die seit 2010 unnachgiebig verfolgte neoliberale Politik ist die seit den 1980er Jahren voranschreitende Lohnangleichung von Männern und Frauen nun rückläufig – gleiches gilt für die Verbesserung der Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt (ebd.).

Auch die Erhöhung des Renteneintrittsalters und der für den Erhalt von Rente zu erbringende Nachweis der Arbeitsjahre haben für Frauen tiefer greifende Konsequenzen als für die Betroffenen männlichen Geschlechts. Denn Frauen können, da sie zur Kindererziehung und/oder Pflege älterer Familienmitglieder häufiger ihre Berufstätigkeit unterbrechen müssen, zumeist deutlich kürzer einer versicherungspflichtigen Arbeit nachgehen als Männer.

Seit Ende der Militärdiktatur 1974 war das institutionelle Gefüge in Griechenland dank erfolgreich organisierter Kämpfe soweit reformiert worden, dass eine weitgehende Gleichstellung von Frauen sicher gestellt war. Neben der 1975 gesetzlich verankerten Gleichstellung von Mann und Frau zählen die 1983 durchgesetzte grundlegende Änderung des Familienrechts und die Legalisierung von Abtreibungen im Jahr 1986 zu den zentralen Errungenschaften feministischer Kämpfe in Griechenland. In den Jahren danach blieb eine darüber hinaus gehende Politisierung und Radikalisierung der Kämpfe um Gleichheit jedoch aus. Dazu hat die Spaltung der Bewegung in verschiedene Frauenorganisationen entlang von Parteizugehörigkeiten nicht unwesentlich beigetragen.

War es Frauen bis in die 1980er Jahre hinein verboten, ohne die Zustimmung ihres Ehemannes berufstätig zu sein, und hatten Männer das gesetzlich verbriefte Recht, über Modi des familiären Zusammenlebens allein zu entscheiden, so sorgen im Griechenland des 21. Jahrhunderts Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne und Sozialabbau für die de facto Wiedereinführung einer Konstellation, die vor mehr als zwanzig Jahren gesetzlich aufgehoben wurde.

Laut ELSTAT sind 43,2 Prozent der Alleinerziehenden (überwiegend Mütter mit Kindern) und 25 Prozent aller alleinstehenden Frauen von Armut bedroht. Ferner hatte die Streichung des Haushaltstitels für die Unterstützung von Projekten gegen häusliche Gewalt eine Schließung der ohnehin zu wenigen Frauenhäuser in Griechenland zur Folge. So sehen sich im Griechenland des neoliberalen Komplettumbaus Frauen, die häusliche Gewalt erleben, faktisch dem Dilemma ausgesetzt, sich zwischen der Erduldung dieser Tortur und wahrscheinlicher Armut – oder sogar Obdachlosigkeit – entscheiden zu müssen. Zu guter letzt führen die Kürzungen im Bereich der Kinderbetreuung und häuslicher Pflege von Familienangehörigen dazu, dass Frauen zurück ›an den Herd‹ geschickt werden – und damit in eine Zeit, die längst überwunden schien.

Migrantinnen

Betrachtet man die Entwicklung der Erwerbsbeteiligung von Frauen in Griechenland von den 1990er Jahren bis zum Ausbruch der Krise, so wird deutlich, dass Migrantinnen hier eine ganz besondere Rolle spielen. Die Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt nimmt in dem Moment zu, als Griechenland zum Ziel für MigrantInnen aus dem ehemaligen Ostblock wird. Vor allem Frauen zwischen 25 und 45 traten seit 1991 verstärkt in den Arbeitsmarkt ein (Lyberaki 2008, 18). Für Frauen dieser Altersgruppe war es bis dahin noch üblich gewesen, ein bestehendes Arbeitsverhältnis nach der Familiengründung zu beenden und sich dem Haushalt, der Betreuung ihrer Kinder oder älterer Familienmitglieder zu widmen – alternativ auch unbezahlt im Familienunternehmen zu arbeiten. Durch die Beschäftigung von Migrantinnen im Haushalt konnten sie nun auch nach Heirat und Geburt von Kindern weiterhin erwerbstätig sein (ebd.). Infolge von Migrationsgesetzen, die der Mehrheit der in Griechenland lebenden Nicht-EU-Bürger keinen dauerhaft geregelten Aufenthaltsstatus zugestehen, waren diese Migrantinnen zu Schwarzarbeit verdammt und erhielten Löhne am Rande des Existenzminimums.

Die zunehmende Berufstätigkeit griechischer Frauen fand somit im wesentlichen ohne eine grundsätzliche Veränderung der traditionellen Rollenverteilung in griechischen Haushalten statt und ging nicht mit einer Umverteilung der häuslichen Arbeit zwischen Männern und Frauen einher. So entstand eine Situation, in der »griechische Frauen nicht mehr sich selbst, sondern ihre Geldbörse opfern und Migrantinnen für die Haus- und Kinderarbeit einstellen« (Charalampopoulou 2004).

Infolge der Lohn- und Rentenkürzungen und der europaweit höchsten Arbeitslosigkeit mussten die Haushalte in Griechenland zwischen 2010 und 2012 einen Kaufkraftverlust von mehr als 37 Prozent verkraften. Opfer sind, neben den im Haushalt lebenden Frauen, auch die Migrantinnen, deren prekäre Arbeit ihnen in den vergangenen Jahrzehnten den Einstieg und Verbleib im Berufsleben möglich gemacht hatte.

Hegemoniekrise und Chauvinismus

Der Neoliberalismus erreichte Griechenland nicht erst im Jahr 2010. Bereits Anfang der 1990er war er zum Glaubensbekenntnis wechselnder Regierungen des Landes geworden. Diese vergleichsweise sanfte Phase neoliberaler Anpassung war gekennzeichnet von einer gesellschaftlichen Konsensbildung, die im Wesentlichen auf drei Formen materieller Zugeständnisse basierte. Zum einen auf der Möglichkeit zur einfachen Kreditaufnahme, die es auch Lohnabhängigen möglich machte, einen gewissen Lebensstandard zu erreichen. Mangelhafte sozialstaatliche Fürsorgeleistungen konnten so individuell kreditfinanziert ausgeglichen werden. Darüber hinaus führten klientelistische Netzwerke der beiden ehemals großen Parteien PASOK und Nea Dimokratia sowie ein enormer Personalabbau in den Steuerbehörden de facto zum Zustandekommen eines Steuerhinterziehungskompromisses zwischen Kapital und Mittelschicht. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit der privaten Haushalte, Summen vor dem Fiskus zu verstecken, sorgte dafür, dass die massiven Steuerleichterungen gegenüber Unternehmen und Wohlhabenden nicht allzu skandalös erschienen. Schließlich drückte man doch auch bei den mittleren Einkommen ein Auge zu. Die skizzierte Ausbeutung von MigrantInnen bildete das dritte zentrale Element der Hegemoniebildung. Über die Rolle von Migrantinnen als Sozialstaatsersatz hinaus sorgte ihre prekäre Arbeit in kleinen und mittleren Familienunternehmen dafür, das diese relativ lange ökonomisch einigermaßen über die Runden kamen. Ein Gesetz, dass den Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung an den Kauf von Sozialversicherungsmarken der griechischen Rentenkassen knüpfte, sorgen außerdem für die relative Stabilität der Sozialversicherungskassen vor der Krise.

Das Jahr 2010 läutete das Ende dieser Form gesellschaftlicher Konsensbildung ein und führte – nicht zuletzt aufgrund massiver Kämpfe gegen die Politik der Memoranden – zu einer Hegemoniekrise. Diese Situation, in der »das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann« (Gramsci 1991, 354), wird von Seiten der Herrschenden durch den Rückgriff auf Repression und einen chauvinistisch-reaktionären, rassistischen Werte- und Law-and-Order-Diskurs beantwortet. Dieser Versuch der Bearbeitung der Hegemoniekrise wird u.a. auf dem Rücken von Frauen als gesellschaftlicher Gruppe – auch hier wieder insbesondere von Migrantinnen – ausgetragen.

Charakteristisch dafür ist die regelrechte Hexenjagd auf Prostituierte im Vorfeld der Parlamentswahlen im Frühjahr 2012. Die Frauen hatten in Athen zum Teil gegen ihren Willen in illegalen Bordellen gearbeitet und waren bei dort durchgeführten Razzien aufgegriffen worden. Die mehr als 90 Prostituierten wurden nach ihrer Festnahme von ÄrztInnen des Gesundheitsamtes untersucht. Zwölf von ihnen wurden positiv auf HIV getestet und unter dem Verdacht auf vorsätzliche schwere Körperverletzung inhaftiert und vor Gericht gestellt. Der damalige Gesundheitsminister Loverdos nahm in einem Radiointerview zu dem Fall folgendermaßen Stellung:

»Die gesundheitsschädigende Bombe AIDS beschränkt sich nicht mehr, wie dies noch bis vor kurzem der Fall war, auf Ausländerghettos. Ich selbst, ebenso wie alle anderen zuständigen Behörden, waren sehr darum bemüht, die Ausbreitung zu verhindern. Deshalb habe ich in den letzten Monaten immer wieder dazu aufgerufen, nicht mit sich illegal prostituierenden Ausländerinnen ins Bett zu gehen.« (in: Net Radio am 1.5.2012)

Dieses Statement eines sich als Sozialdemokrat verstehenden damaligen Ministers,der bereits ein Jahr zuvor erklärt hatte, Migrantinnen würden griechische Familien verunreinigen und mit ansteckenden Krankheiten infizieren, stellt nicht etwa einen ›Ausrutscher‹ dar. Es ist typisch für den Umgang mit Frauen, insbesondere Migrantinnen in Griechenland. Die als Täterinnen präsentierten Prostituierten wurden von Medien und Behörden öffentlich zur Schau gestellt. Nachdem ihre Gesichter und Namen auf der Internetseite der griechischen Polizei öffentlich gemacht worden waren, wurden die zum Teil schwer drogenabhängigen Frauen unter großem Medienspektakel dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Die Inszenierung wurde abgerundet von PolizeibeamtInnen, welche die mit Handschellen gefesselten Frauen ins Gerichtsgebäude führten und zum Schutz vor der »gesundheitsschädigenden Bombe AIDS« Masken und Handschuhe trugen.

Der Rückgriff auf rassistische und sexistische Stereotype ist weder zufällig noch auf die Einstellung einzelner politischer Akteure zurückzuführen. Vielmehr ist es ein sehr genau kalkulierter Versuch, auf in der griechischen Gesellschaft weit verbreitete Denkmuster zurückzugreifen, um Zustimmung zu gewinnen. Dies ist Teil einer Strategie, mit der versucht wird, die im Zuge der Politik der letzten Jahre verlorene Deutungshoheit über Krisenursachen und -lösungen durch einen rassistisch aufgeladenen Chauvinismus wiederzuerringen. Dass dies so möglich ist, muss als Folge unvollständig gebliebener feministischer wie antirassistischer Kämpfe verstanden werden – lange vor der Krise. Subalterne Kämpfe setzen Grenzen, stecken das Feld des politisch Sagbaren, des politisch Machbaren ab. Das Abflauen feministischer Kämpfe nach der rechtlichen Gleichstellung, die ausgebliebene Thematisierung der Beziehung zwischen der Berufstätigkeit griechischer Frauen und der Arbeit von Migrantinnen haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass im Griechenland der Krise Frauen in diesem Ausmaß von Armut, Gewalt und sozialer Ausgrenzung bedroht sind.

Die hier skizzierten Auswirkungen von Austerität, Privatisierung und Prekarisierung von Arbeit zeigen, dass Kämpfe – auch und vor allem in scharfen Krisenzeiten – nie allein auf Umverteilung zielen dürfen. Sie müssen immer auch feministisch, antisexistisch und antirassistisch motiviert sein. Dass der Neoliberalismus im über die ökonomische Krise geführten Diskurs in Griechenland heute nicht mehr hegemonial ist, ist den unzähligen Protesten der vergangenen Jahre geschuldet und nicht zuletzt Verdienst einer Linken, die organischer Teil der sozialen Bewegungen in Griechenland ist. Ihre Aufgabe ist es nun, die Kämpfe um die hier skizzierten Dimensionen zu erweitern. Denn in Anlehnung an Poulantzas lässt sich eines sicher sagen: Der Sozialismus wird demokratisch, feministisch, antirassistisch und antisexistisch sein oder gar nicht!

 

Literatur

Charalampopoulou, Dimitra, 2004: Gender and Migration in Greece: The Position and Status of Albanian Women Migrants in Patras, in: Finisterra 77, 2004, 77–104
Doudoumi, Litsa, 2012: Die Zerrüttung des Arbeitsmarktes, in: I Avgi, 8.11
Karamessini, Maria, 2012: Die griechische Krise aus europäischer Perspektive. Eine feministische Kritik, in: I Avgi, 11.10.
Lyberaki, Antigone, 2008: »Deae ex Machina«: Migrant women, care work and women’s employment in Greece, in: GreeSE Paper 20, Hellenic Observatory Papers on Greece and Southeast Europe, LSE, London, November

Anmerkungen

1 Die in diesem Abschnitt verwendeten Daten entstammen der in Athen erscheinenden und der politischen Linken nahe stehenden Tageszeitung I Avgi (Die Morgenröte) vom 8.11.2012, 13.1.2013 und 6.2.2013.
2 Andreas Loverdos gehörte bis vor einigen Monaten zu den zentralen politischen Köpfen der Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (PASOK), war Minister der Regierungen von Georgios Papandreou sowie Loukas Papadimos. Inzwischen hat er sich von PASOK distanziert und die Radikale Bewegung Sozialdemokratischer Zusammenarbeit gegründet.