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Unterm Himmel des »Interregnums«

von Beppe Caccia und Sandro Mezzadra

Anmerkungen zur politischen Methode der Veränderung heute

Vorbemerkung

«Unterm Himmel des Interregnum spannt sich ein offener Horizont», schreiben wir am Ende unseres Beitrags zur laufenden Debatte, am 1. September. Weniger als eine Woche später belegen die unerwarteten, als «Flüchtlingskrise in Europa» betitelten Entwicklungen diese Offenheit auf beeindruckende Weise.

Die migrantische Subjektivität betritt nachdrücklich die Bühne des Kontinents, zunächst auf der so genannten Balkanroute, sie bricht durch die in Mazedonien und Ungarn errichteten Sperren und Zäune, um sodann auf ihrem weiteren Weg mit den Marches of Hope praktisch alle Grenzen zu überwinden; diese Subjektivität gibt dem öffentlichen Diskurs um Geflüchtete und MigrantInnen eine dramatisch andere Richtung und stellt zugleich die bis dato geltende, gleichermaßen empathie- wie geistlose europäische Migrations- und Asylpolitik radikal in Frage.
Der starke Druck – aus dem Süden und von unten – (re-)aktiviert ein weitgespanntes gesellschaftliches Geflecht (vor allem in Mittel- und Nordeuropa), das sich neben aktiver Solidarität auch durch die Fähigkeit auszeichnet, den gängigen Narrativen und Praktiken des Hasses und des Rassismus, ob institutionell oder sozial, zu begegnen.

Es ist zweifellos ein viel versprechender Aufbruch: Für die konstituierende Macht in der Krise, als Prozess, der einen Gegenentwurf zum jetzigen Zustand schafft, bleibt es eine unumgängliche Aufgabe, die Stärke der egalitären Kämpfe gegen die Austerität mit dem Druck der ganz ähnlich gelagerten Kämpfe gegen Grenzen zu verbinden. Dies kennzeichnet eine materialistische Methode: ausgehend von der wirklichen gesellschaftlichen Dynamik und den wirklichen sozialen Subjekten. Vorwärts!

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Hinter uns liegt der griechische Juli, mit dem furiosen Sieg des Όχι beim Referendum am 5. Juli und der berüchtigten «Vereinbarung» eine Woche später. Doch Griechenland bleibt auch weiterhin im Zentrum der Aufmerksamkeit, nicht nur der Debatte, die unter Linken in aller Welt geführt wird, sondern auch aufgrund der offenen Situation, die sich durch den Rücktritt Tsipras’, die Spaltung von Syriza und die angekündigten Neuwahlen Ende September ergibt. Die Szenarien sind kompliziert, es geht dabei unter anderem um den Charakter von Syriza und um die innerparteiliche Demokratie nach der Gründung der Laiki Enotita, der «Volkseinheit», um die politischen Perspektiven und die Wahlaussichten Letzterer und nicht zuletzt um das in der aktuellen Konjunktur sich herausbildende Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und Institutionen. Keine selbstgewisse Patentlösung, keine aus den Kategorien und Modellen vergangener Zeiten abgeleitete ideologische Rezeptur funktioniert angesichts der realen Widersprüche, die hier mit ungekannter Heftigkeit zutage treten. Im Folgenden werden wir uns indes nicht unmittelbar mit diesen Themen und Widersprüchen auseinandersetzen. Stattdessen wollen wir versuchen, einige methodische Überlegungen zu formulieren, die in dieser Phase womöglich Orientierung bieten, und zwar aus einem politischen Blickwinkel heraus, der auf die radikale Veränderung des Bestehenden zielt, Orientierung, um eine Situation wie die griechische – und zwangsläufig die darin sich widerspiegelnde europäische – einzuschätzen.

Wenn wir «in dieser Phase» sagen, so meinen wir damit eine Lage, die weiterhin durch die Krise gekennzeichnet ist, eine Übergangsphase mit unsicherem Ausgang, sowohl in Europa als auch im Weltmaßstab. Gramscis Begriff des «Interregnums» scheint in diesen Zeiten vielen bestimmte Züge unserer Gegenwart besonders treffend zu beschreiben. Die «unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen», so heißt es an einer bekannten Stelle bei Gramsci, zeigten sich «in diesem Interregnum», unter den Bedingungen jener «organischen Krise», in der «das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann». Viele Aspekte der Gramsci’schen Definition, formuliert unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929, lassen sich tatsächlich übertragen: Die organische Krise war für Gramsci eine «Hegemoniekrise», dadurch charakterisiert, dass «die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben», sowie durch das Unvermögen der «herrschenden Klasse», eine «führende» Funktion auszuüben; an deren Stelle trete «bloße Gewaltausübung», also pure «Herrschaft». Zeigt sich hier nicht eine Parallele zur eklatanten Legitimitätskrise des sogenannten Neoliberalismus, ob in Europa oder anderswo, und zur Arroganz, mit der dessen angebliche Vernünftigkeit von den «herrschenden Klassen» immer wieder behauptet wird? Gramsci schloss freilich nicht aus, dass das Interregnum «zugunsten einer Restauration des Alten gelöst» werde – und doch unterstrich er, aus der Einsamkeit des Gefängnisses von Turi heraus, vor allem die Unvorhersehbarkeit, den offenen Ausgang und den schwebenden Charakter der «organischen Krise».

So deutlich in mancher Hinsicht die düsteren 1930er Jahre in der europäischen Situation heute nachhallen mögen (denken wir nur an die sogenannte Flüchtlingskrise), so offenkundig und groß sind andererseits die Unterschiede. Es ist zuallererst der globale Zusammenhang, in dem sich Verwertung und Akkumulation des Kapitals abspielen, der sich grundlegend verändert hat – mit dem Ergebnis, dass sich die Unvorhersehbarkeit, der offene Ausgang und der schwebende Charakter vervielfacht und verstärkt haben. Erinnern wir uns noch, wie im Gefolge der Krise von 2008 viele die Ansicht vertraten, das letzte große «sozialistische» Land, China nämlich, werde den Kapitalismus (und namentlich den US-amerikanischen) vor dem Zusammenbruch retten? Das Erbeben der Finanzmärkte, wie es erst vor wenigen Tagen der Börsencrash in Shanghai auslöste, und mehr noch die – wenn auch in ihrer Zeitlichkeit und ihrer Art zutiefst vielgestaltige – weltweite Zirkulation der Krise, die vom Platzen der Hypotheken-Blase ihren Ausgang nahm, verweisen jedenfalls auf eine ganz andere Realität. Zum einen fällt so einmal mehr Licht auf die strukturellen wechselseitigen Abhängigkeiten und die daraus folgende Fragilität und Verwundbarkeit selbst der immer wieder als stark apostrophierten Länder: die US-amerikanische «Lokomotive», der «Exportweltmeister» Deutschland, die BRIC-Staaten in ihrem «unaufhaltsamen Aufstieg» etc. Zum anderen zeigen sich, angesichts einer Krise, die die führenden «Schwellenländer» einbezieht, die tiefgreifenden Veränderungen, die sich in diesen Jahren in den Beziehungen zwischen den früher einmal als «Zentrum» und «Peripherie» des kapitalistischen Weltsystems Identifizierten entwickelt haben.

Im skizzierten Kontext einer anhaltenden Krise der Formen und Formationen kapitalistischer Herrschaft im Weltmaßstab müssen sich auch die Analyse und die politische Initiative innerhalb des europäischen Raumes situieren. Die entscheidende Frage der Migration ebenso wie die Krisen- und Kriegsherde an den Grenzen Europas erinnern uns nachdrücklich daran. Und auch die dauernde, und dauernd zurückgenommene, illusorische Verheißung eines «Wirtschaftsaufschwungs» für den Kontinent. Die Krise ist offenkundig, auch dort, wo sich in gewissem Umfang «Wachstum» und «Entwicklung» einstellen, und sie ist vielleicht auch einfach als Form par excellence der Kapitalakkumulation in Zeiten der Finanzialisierung zu interpretieren. Ein hoher Grad von Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit, sowohl was die ökonomischen und sozialen Dynamiken als auch ihre Verbindung mit institutionellen Formen anbelangt, erscheint als ein Erkennungszeichen unserer Zeit. Tatsächlich sind überkommene Wegmarken früherer Epochen in diesem Interregnum von geringem Nutzen; doch auch Marx’ ironische Absage daran, «Rezepte für die Garküche der Zukunft zu verschreiben», klingt aktueller denn je. Gehen wir daher von der Gegenwart aus, von der Notwendigkeit, (Gegen-)Macht in der Krise aufzubauen, eine Gegenmacht der Ausgebeuteten, die in der Lage ist, unter Vorzeichen der Freiheit und Gleichheit unser Leben tatsächlich zu verändern. Nicht zuletzt weil die Wendungen, die die Krise in Europa in diesen Sommermonaten nahm, erbarmungslos klar gemacht haben, dass die Ungleichgewichte in den sozialen Kräfteverhältnissen, die Klassenperspektive, die sich aus ihrer Dialektik ergibt, und die daraus folgenden großen Fragen der Ungleichheit und Unfreiheit eindeutig im Mittelpunkt stehen.

Angesichts dieser Schieflagen und der Gewalttätigkeit der gegenwärtigen Klassenauseinandersetzungen gilt es also kollektiv eine Methode zu bestimmen – und wir erinnern uns des griechischen Ursprungs des Wortes, metá odós, «der Weg hindurch» –, was notwendigerweise damit einhergeht, einen Weg zu finden (und im Zweifelsfall auch mit Entschlossenheit zu gehen), wo noch keiner existiert – oder wo auf den alten Landkarten bislang keiner zu sehen war. «Lose Erde und Sand wegzuräumen, um Felsen oder Ton zu finden», schrieb Descartes auf dem Höhepunkt eines anderen Interregnums: Was zählt, ist der Weg, der vom einen zum anderen führt. Eine Methode, die dies erlaubt, ist heute eine in jeder Hinsicht revolutionäre Methode.

Ein solcher Weg wird alles andere als gerade sein, wie eine auch nur grobe Skizze der zeitlichen und räumlichen Koordinaten politischen Handelns heute verdeutlicht. Was die Zeitlichkeit anbelangt, verstärken sich die langfristigen Tendenzen kapitalistischer Transformation und Restrukturierung in ihren globalen Dimensionen, sie realisieren sich jedoch zugleich in zutiefst heterogenen Kontexten, nehmen eine ein ums andere Mal verschiedene Gestalt an und reagieren so auf «globale» Turbulenzen wie auch auf «lokale» Erschütterungen. Die Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeitskraft und im Inhalt der Arbeit, die Reife der gesellschaftlichen Kooperation, der alles durchdringende Charakter der Finanzialisierung, die Ausbreitung vielfältiger Arten individueller und kollektiver Verschuldung, die neuen Formen, in denen sich die Verschränkung von kapitalistischem Kommando und politischer Herrschaft artikuliert, die politische Funktion des Geldes: All dies sind Tendenzen, und zwar nur einige, die in den zurückliegenden Krisenjahren intensiv und verstärkt hervorgetreten sind. Insgesamt genommen allerdings ergibt sich aus ihnen keine geradlinige «Entwicklung» – nicht zuletzt aufgrund der strukturellen Beziehung zwischen Entwicklung und Krise, die wir oben skizziert haben. Es wäre daher auch vergeblich, auf die vollständige «Entfaltung» jener Tendenzen zu warten, oder auch darauf, dass aus ihnen von selbst, einer neuen Minerva gleich, eine Subjektivität und eine Klassenzusammensetzung hervorgehen, die in der Lage wären, die Verhältnisse in revolutionärer Weise umzuwälzen. Auch auf das messianische Register des «Ereignisses» sollten wir nicht allzu sehr vertrauen: Das Kapital hat oft genug gezeigt, dass es eine außerordentlich gut funktionierende Maschine ist, wenn es darum geht, sich «Ereignisse» anzuverwandeln, um sie zum Treibstoff weiterer Verwertung zu machen. Eher – und so lässt sich das Problem des Aufbaus von (Gegen‑)Macht inmitten der Krise unter dem Blickwinkel der Methode bestimmen – ist es darum zu tun, im Innern einer grundlegenden zeitlichen Diskontinuität zu wirken, das heißt zum einen Kräfte zu sammeln und zu entwickeln und zum anderen für das Unvorhergesehene, das «Unzeitgemäße» offen zu sein. In der Sprache der «Politik des Ereignisses» bedeutet dies eine Haltung, die bereit ist, «die Gelegenheit beim Schopfe zu packen», in jene temporären Öffnungen einzugreifen: die, im Konflikt und im Bruch, den Sprung nach vorn und das Erzwingen eines günstigeren Kräfteverhältnisses erlaubt.

Entsprechendes lässt sich auch im Hinblick auf Räumlichkeit sagen. Die «variable Geometrie» eines auf die radikale Transformation des Bestehenden zielenden politischen Handelns sieht sich heute durch die Formen bedrängt, in denen sich der Kapitalismus neu organisiert – und das nicht zuletzt in Europa, wo wir in den zurückliegenden Krisenjahren eine tiefgreifende Umwälzung der räumlichen Dimensionen des Ökonomischen und des Politischen erlebt haben. Die Kombination von Elementen der «Homogenität» und der «Heterogenität» auf globaler, kontinentaler, nationaler und lokaler Stufenleiter ist ein Aspekt, den wir an anderer Stelle bereits grundlegend analysiert haben – hervorzuheben ist dabei insbesondere die Dialektik und das Spannungsverhältnis zwischen zum einen bestimmten Standardisierungs- und Angleichungsprozessen und zum andern dem Aufbieten ökonomischer und politischer, sozialer, kultureller, bisweilen gar «anthropologischer» Differenzen unterschiedlicher Orte und Regionen. Die Verhältnisse auf jeder der genannten Stufen sind dabei alles andere als stabil oder unveränderlich, sondern die Krise erfasst sie auf je spezifische Weise: Diese Umstände, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Stufen und die Verbindungen zwischen ihnen zu identifizieren und zum Gegenstand eines politischen Handelns zu machen, das auf Bruch und Veränderung zielt, beansprucht im Interregnum methodisch grundlegende Priorität. In diesem Zusammenhang wird es kein Zurück zu den scheinbar größere Sicherheit gewährenden Verhältnissen nationaler oder «territorialer» Souveränität geben; hier kann weder der Mythos vom Wiedererlangen angeblich verlorener «Währungshoheit» einen Weg weisen, noch die Überhöhung vermeintlicher «mikrogemeinschaftlicher» Alternativen: Die eine wie die andere «Lösung» haben offenkundig der Gewalt der Prozesse nichts entgegenzusetzen, die jedwede räumliche Dimension oder «Stufe» durchziehen, zerreißen und neu zusammensetzen. Mit Blick auf Europa – es ist ein wenig bedauerlich, es immer wieder hervorheben zu müssen: Dieses Europa fällt für uns weder in eins mit den institutionellen Grenzen der EU, noch ist die Perspektive in irgendeiner Art «eurozentrisch» –, mit Blick auf Europa also heißt dies, den Versuch zu unternehmen, einen politischen Raum zu schaffen, in dem jenen Prozessen effektiv begegnet werden kann. Dies ist die Bedingung, um die Erfahrungen der Kämpfe und die in «lokalen» Dimensionen entwickelten Alternativen expandieren und dauerhaft werden zu lassen. Wir wissen (und haben es in den zurückliegenden Monaten immer wieder schmerzlich erfahren müssen), dass die Kräfteverhältnisse dafür nicht gerade günstig sind. Es gilt daran zu arbeiten, dies zu ändern.

Innerhalb der skizzierten zeitlichen und räumlichen Koordinaten geht es nun darum, den tatsächlichen gesellschaftlichen Dynamiken und Kämpfen gegenüber einen neuen realistischen, materialistischen Ansatz zu entwickeln, ohne jegliche identitären Fetischismen. In dieser Perspektive rückt nicht zuletzt das – niemals widerspruchsfreie – Verhältnis zu politischen und institutionellen Prozessen in den Blick, die durch jene gesellschaftlichen Dynamiken und Kämpfe bestimmt und orientiert werden (und sie zugleich bedingen). Griechenland wie auch Spanien sind so besehen gesellschaftliche Laboratorien von eminenter Bedeutung. Gerade eine realistische Beurteilung der Kräfteverhältnisse in Europa sollte im Übrigen, wenn es darum geht, eine Erfahrung wie die griechische der vergangenen Monate zu erörtern, äußerst vorsichtig mit Ausdrücken wie «Sieg» und «Niederlage» umgehen, oder auch mit der (damit zusammenhängenden) Rhetorik von «Kapitulation» und «Verrat». Das entscheidende Kriterium scheint uns vielmehr – ausgehend von dem, was wir oben politisch-methodisch über die zeitlichen und räumlichen Koordinaten im Interregnum festgestellt haben –, die Frage nach der Akkumulation der Kräfte, um Prozesse «gegen-hegemonialer» Regierung im «real-existierenden Neoliberalismus» und gegen ihn zu schaffen; sich von ihm zu befreien, wird sicherlich nicht per Dekret gelingen, und es geht auch nicht darum, als Farce wiederaufleben zu lassen, was einmal «Sozialismus in einem Lande» hieß. Der bloß ideologische (und häufig unerträglich sektiererische) Charakter einer Position, die in der mehr oder weniger «radikalen» und vorgeblich «marxistischen» Linken zirkuliert und im sogenannten Grexit die Lösung aller Probleme erblickt, offenbart sich hier in all seiner Deutlichkeit: Einer solchen Position fehlt das Verständnis für grundlegende Züge des Kapitalismus heute (für die «Wahrheit der Sache, wie sie sich in der Wirklichkeit findet», um es mit Machiavelli zu sagen), und zugleich kommt sie nicht von der «Vorstellung» los, ein Nationalstaat könne – einmal «erobert» – Grundlage und wesentliches Subjekt seiner eigenen Transformation werden. Noch einmal: Einzig das Primat der Kämpfe bietet einer politisch radikalen Position einen Ausgangspunkt – dazu eine realistische Einschätzung der Schranken, an die das Handeln einer jeden Regierung stößt, und der Versuch, die Dialektik von sozialen Kämpfen und Regierungshandeln immer wieder neu und anders zu denken und zu praktizieren.

Der Neoliberalismus ist weder bloß eine «Ideologie», noch beschränkt er sich auf ein wirtschaftspolitisches «Paket»: Vielmehr findet sich in ihm eine Rationalität, die die Formen und die Subjekte ökonomischen und sozialen Handelns ebenso von Grund auf verändert hat wie die Institutionen des «öffentlichen Lebens», und die so verschiedene entscheidende Züge des zeitgenössischen Kapitalismus prägt. Gegen den Neoliberalismus zu kämpfen – ob «reformistisch» oder «revolutionär», Kategorien, die im Übrigen ihre Geltung innerhalb der oben beschriebenen Koordinaten erst noch und immer wieder aufs Neue beweisen müssen – bedeutet, eine zumindest mittelfristige Perspektive einzunehmen. Und es bedeutet, auf eine Weise politisch zu denken und zu handeln, die die erschöpften traditionellen Formen repräsentativer Politik hinter sich lässt. Gewiss können in bestimmten Situationen Wahlen eine äußerst wichtige Rolle spielen: Doch das mit der Repräsentation verbundene zeitliche Muster ist definitiv überholt, jenes Delegieren an die Regierung, das die Zeit zwischen zwei Wahlen politisch entleert. Genau dies lässt sich gut am Beispiel Griechenlands belegen, wo das Regierungshandeln in dem Moment dynamisch und «mächtig» wurde, da es gelang, an die soziale Selbstorganisation und an Formen mutualistischer Solidarität anzuknüpfen, und die Regierung den Bruch vorantrieb, den das Referendum markierte, ohne in der Lage zu sein, als dessen Repräsentant aufzutreten. Es ist dies ein wesentlicher Punkt, an den sich auch zukünftig zu erinnern sein wird.

In diesem Zusammenhang geht es zweifelsohne um die Frage, wie der Begriff der Regierung grundlegend neu zu füllen ist – und insbesondere, wie bereits erwähnt, um das Problem des Verhältnisses zwischen Regierung und sozialen Kämpfen, Bewegungen, Mobilisierungsprozessen, autonomen Institutionen und Gegenmacht. Es geht also darum, auf welcher Ebene der Machtausübung anzusetzen wäre, wenn es gelingen soll, der neoliberalen Politik und dem Austeritätsdiktat zu begegnen, jenem Paradigma, das durchgängig das Krisenmanagement in Europa bestimmt. Die binäre Logik von «Partei» und «Bewegung», «institutioneller» und «anti-institutioneller» Politik, die, je nach Situation, «Bündnisse» schmieden oder «Gegensätze» bilden, funktioniert tatsächlich nicht länger – weder theoretisch noch praktisch. Der globale und nicht fixierbare, fließende und alles durchdringende Charakter des Finanzkapitalismus, die dramatischen Disproportionen in den bestehenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, die durch eine Vielzahl von Faktoren determinierte Komplexität politischer Entscheidungsprozesse, umso mehr sobald es um radikale Veränderungen geht, stellen die Bedingungen sowohl der Politik der Bewegungen wie auch des institutionellen Handelns grundsätzlich in Frage. Notwendig und unmittelbar drängend ist daher insbesondere das Nachdenken über die «Ineffizienz» der sozialen Bewegungen, solange sie selbstbezogen bleiben, und über die «Schranken» des Regierungshandelns, solange es sich ausschließlich innerhalb der vorgegebenen institutionellen Grenzen bewegt. Diese akuten Fragen gilt es entschieden und ohne jedes Taktieren anzugehen.

Bei all dem bleibt, auch was die großartigen und wichtigen Erfahrungen gesellschaftlicher Solidarität und Selbstorganisation anbelangt, wie sie in Griechenland und anderswo vielfältig anzutreffen sind, für uns die Perspektive gesellschaftlicher Mehrheit zentral, anders gesagt: die Reformulierung der klassischen Problematik des Verhältnisses von Konflikt und Konsens. Wesentlich ist dabei nicht so sehr das Ausmaß, in dem die sozialen Konflikte die «öffentliche Meinung» beeinflussen (was durch Befragungen oder statistische Erhebungen in Erfahrung zu bringen wäre), denn die Öffentlichkeit ist immer schon ein Feld ständiger Auseinandersetzung, als vielmehr die politische Fähigkeit, gesellschaftliche Mehrheiten zu schaffen, die eine Alternative zum Bestehenden realistisch erscheinen lassen.

Das ist nicht zuletzt eine Lehre, die wir aus der Reformulierung des «Populismus» durch Podemos ziehen: Auch wenn wir fortfahren, daran bestimmte theoretische Voraussetzungen zu kritisieren, auch wenn wir daran festhalten, dass eine allzu rigide Haltung an diesem Punkt leicht in ein nationales «Souveränitätsdenken» münden kann, und auch wenn wir überzeugt sind, dass die Schließung rund um die Parteiform, vom Populismus begünstigt, nicht wenige Probleme schafft, nicht zuletzt auch, was die Wahlaussichten anbelangt, erkennen wir an, dass sich damit die Perspektive einer dezidierten Mehrheitsorientierung eröffnete. Eine politisch subversive Methodologie in Zeiten des Interregnums muss sich notwendigerweise dem Feld politischer Subjektivität zuwenden, den Voraussetzungen ihres Entstehens und ihrer Macht. Sicher ist dabei, dass unsere «populare» Menge nur eine «kommende», «künftige» sein kann, zuallererst weil dieses politische Subjekt der Veränderung noch nicht existiert. In ihrem Entstehen, im unvermeidlichen Kampf gegen die Korporatisierung, die soziale Fragmentierung und die extreme Individualisierung, die der real-existierende Neoliberalismus in Gang gesetzt hat und nicht aufhört voranzutreiben, können wir die Merkmale der Öffnung und Innovation erkennen und neu bestimmen, die wir in den Debatten der vergangenen Jahre als «Multitude» angesprochen haben, ausgehend von der außerordentlichen und zugleich ambivalenten Beziehung, die sich zwischen Singularitäten und Kollektivität entwickelt (oder zumindest entwickeln kann). Eine politische Subjektivität zu schaffen, die in diesem Sinn in der Lage ist, gleichermaßen radikal und mehrheitsfähig zu sein, bleibt die vordringliche Aufgabe heute – daran ist mit allen Mitteln wirksam zu arbeiten, kulturell, sozial, in der öffentlichen Auseinandersetzung und durch Wahlen.

Ein solcher Prozess wird sich, methodisch betrachtet, komplex und auf einer Vielzahl von Ebenen artikulieren. Er wird notwendigerweise heterogene Akteure in den unterschiedlichsten Positionen involvieren, wenn es darum geht, die verschiedenen Zeitlichkeiten, Sprachen, Verhaltensmuster, «Kulturen» und Formen des politischen und sozialen Handelns zu «synchronisieren», die selbst wiederum vielfältig und heterogen sind. Die Frage von Koalitionen stellt sich hier als strategische, weit jenseits des politischen Tagesgeschehens und der Perspektiven dieser oder jener zeitweisen «Allianz». Der Einsatz ist dabei nicht die Neuauflage einer «Volksfront» oder «Bündnispolitik»; vielmehr gilt es eine politische Form zu entdecken und zu entwickeln, ein politisches und organisatorisches Instrumentarium, um in den zeitlichen und räumlichen Koordinaten, die wir oben zu umreißen versucht haben, den Bruch herbeizuführen und die Alternative zu schaffen. «Koalition» steht in diesem Sinn selbst für eine Praxis, ein ständiges Überprüfen und Neuerfinden, jenseits jener überkommenen binären Logiken (von Partei und Gewerkschaft, von Bewegung und Institutionen etc.), die heute der politischen Innovation im Wege steht – einer Innovation, die notwendig ist, um eine Politik radikaler Veränderungen voranzubringen. Eine derartige Koalition ist ihrer Natur nach immer schon hybrid, und ihr Einsatz sind die Grenzen zwischen dem Sozialen und dem Politischen, zwischen Kämpfen und institutionellen Experimenten, zwischen gesellschaftlicher Solidarität und umfassenden föderativen Ansätzen sind. In dieser Perspektive bildet sie den Horizont, um das Handeln der linken Parteien in Europa in den kommenden Monaten zu beurteilen – in Griechenland und in Spanien, aber auch in Italien, in Deutschland oder Großbritannien.

Der Einsatz ist klar: In den Monaten, die vor uns liegen, wird es nicht darum gehen, sich solipsistisch und selbstzufrieden in einer rein ideologischen, weitestgehend außerhalb unserer Reichweite liegenden Auseinandersetzung zu positionieren, einer Auseinandersetzung, die sich im «Ja/Nein zum Euro» oder in der Rede vom «linken Austritt aus der EU» erschöpft – auch wenn selbstverständlich die Frage der Währung fundamental ist und bleibt, ebenso wie das Problem des transnationalen Kampfes gegen die autoritären Dispositive der europäischen Governance. Doch der Einsatz ist ein anderer: Es geht um die Entscheidung, ob wir, gemeinsam mit vielen anderen in den sozialen Kämpfen, Teil eines Prozesses wirklicher Veränderung sein werden. Eine solche Veränderung ist heute möglich, und wenn sie eintritt, würden nicht zuletzt auch die Fragen der Währung und der europäischen Governance politisch neu gestellt. Fangen wir daher an, uns zu wappnen und die Mittel zu schaffen, die notwendig sind, diese Kämpfe zu führen: Unterm Himmel des Interregnums spannt sich ein offener Horizont.

Dieser Artikel erschien auf euronomade.info [1]. Aus dem Italienischen von Thomas Atzert.