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»Um eine Alternative  aufzubauen«

Von Malte Daniljuk

Was als Auseinandersetzung um einen gesellschaftlichen Teilbereich – die Bildungsfrage – im chilenischen Herbst begonnen hatte, entwickelte sich schnell zu einer Debatte um das grundlegende Verständnis der Gesellschaft und zu einer Abrechnung mit der Fortsetzung neoliberaler Politik nach dem Ende der Diktatur. Nicht nur hat die erste Rechtsregierung seit dem Ende der Pinochet-Herrschaft in wenigen Monaten die große Mehrheit der Bevölkerung gegen sich aufgebracht; auch das politische Projekt des demokratischen Übergangs, die paktierte Demokratie in Form von Concertación, hat jede Legitimität verloren. Chile steht vor einer grundsätzlichen Veränderung seines politischen Systems und die Chancen stehen gut, dass soziale Bewegungen, Gewerkschaften und die Parteien links der Sozialdemokratie dabei eine zentrale Rolle spielen werden.

Krise der kooptierten Demokratie

Die Diktatur in Chile konnte auf legalem Wege nur dadurch beendet werden, dass sich Sozial- und Christdemokraten sowie verschiedene Linksparteien zum Bündnis Concertación de Partidos por la Democracia zusammenschlossen. Einen ersten Erfolg errang die Koalition bei dem nationalen Referendum über eine Verfassungsänderung im Jahr 1988, die verhindern sollte, dass Pinochet das Land bis 1997 weiterregieren konnte. Die Diktatur fand zu diesem Zeitpunkt noch bei 44 Prozent der Bevölkerung Unterstützung. Die transición schien nur möglich, indem verschiedene Teile der Eliten um das politische Zentrum einen turnusmäßigen Machtwechsel und die gegenseitige Anerkennung vereinbarten, um andere Kräfte vom Präsidentenamt fernzuhalten – eine »paktierte Demokratie«. Dieses System des Machterhalts zeigte in den letzten zehn Jahren deutliche Abnutzungserscheinungen, insbesondere in der breiten gesellschaftlichen Unzufriedenheit mit Klientelismus und Vetternwirtschaft und dem fehlenden Spielraum für gesellschaftliche Veränderungen. Die Concertación-Regierungen standen für eine moderate, aber konsequente Umsetzung neoliberaler Politik und eine stärkere soziale Polarisierung der Gesellschaft.

Die Krise der kooptierten Demokratie wurde erstmalig bei den Gemeindewahlen im Jahr 2008 deutlich, als die Rechte die Mehrheit der Bürgermeisterposten gewann. Im darauf folgenden Jahr gewann der Unternehmer Sebastián Piñera für das rechte Wahlbündnis Coalición por el Cambio erstmals seit 1958 die Präsidentschaftswahlen. Verschiedene linke Politiker waren nicht bereit gewesen, die im Rahmen des Paktes vereinbarte Kandidatenabfolge mitzutragen, nach der die Christdemokraten den Kandidaten stellen konnten, der auf Michelle Bachelet aus der Partido Socialista de Chile folgen sollte. Mit Marco Enríquez-Ominami als unabhängigem Kandidaten sowie Jorge Arrate für die Kommunisten gewannen in der ersten Runde zwei Bündnisse links von Concertación zusammen mehr als ein Viertel der Wählerstimmen. In der Stichwahl fehlten dem Kandidaten von Concertación, dem Christdemokraten Eduardo Frei, nur wenig mehr als 200000 Stimmen bzw. 2,3 Prozent gegenüber Piñera – ein Ergebnis, das mit konsequenter Unterstützung durch die Linke sicher anders ausgefallen wäre.

kurzfristig von gesellschaftlichen Krisen profitieren, ohne eine echte gesellschaftliche Mehrheit für ihre Politik zu haben. Mit Piñera regiert der Unternehmerverband und der konservative Teil der katholischen Kirche – das hat große Teile der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen mobilisiert, die bisher in verschiedener Form von Concertación-Regierungen kooptiert waren. Erstmals reichte die Drohung mit einer rechten Machtergreifung nicht mehr aus, die linken Kräfte der Sozialdemokratie zur Unterstützung des Elitenpaktes zu pressen. Diese Entscheidung zeigt auch, dass die Traumata der Diktatur in den Hintergrund treten und eine neue Generation in die Politik eingetreten ist.

Aus einer Welle von Protesten

Nach einem Jahr Rechtsregierung verschärften sich die gesellschaftlichen Konflikte. Im Süden des Landes wurde im Januar zum Bürgerstreik aufgerufen, nachdem die Regierung Piñera eine Erhöhung der Gaspreise angekündigt hatte. Über mehrere Tage war der Verkehr in den wichtigsten Städten der Region lahmgelegt. Alle Hauptverkehrsadern wurden blockiert, Demonstrationen und Autokorsos sowie brennende Barrikaden bestimmten tagelang das Bild, Geschäfte und öffentliche Einrichtungen blieben geschlossen.In den folgenden Monaten nahmen politische Auseinandersetzungen in Chile weiter zu. Auch Fragen wie die Energiepolitik oder die Kämpfe der indigenen Mapuche – die bisher nie größere Mobilisierungen erreicht hatten – gerieten in den Fokus der öffentlichen Debatten. Der geplante Ausbau der Atomkraft, insbesondere aber der Bau von fünf Wasserkraftwerken in Patagonien mobilisierte die Bevölkerung in bisher ungekanntem Maße und brachte die rechte Regierung in eine gesellschaftliche Minderheitenposition.2

Mitte Mai wurde fast täglich demonstriert. Landesweit protestierten jeweils tausende Menschen in verschiedenen Städten gegen den Staudamm Hidroaysén.Gleichzeitig traten die Arbeiter der Subunternehmen in den Kupferminen in einen unbefristeten Streik, um eine Angleichung an die Tariflöhne durchzusetzen. Alleine der private Sektor musste im vergangenen Jahr einen Ausfall von mehr als 300000 Streiktagen verzeichnen, was gegenüber dem Jahr 2000 eine Verdreifachung darstellt.Gewerkschaften und Frauenverbände sahen sich außerdem mit dem Gesetzesvorschlag der Regierung Piñera konfrontiert, den Kündigungsschutz für Schwangere und Eltern von Neugeborenen radikal zu kürzen.In diesem Klima mobilisierten ab April die Schüler der Gymnasien, um Reformen im hochgradig marktwirtschaftlich bestimmten chilenischen Bildungssystem durchzusetzen. Bereits die ersten Demonstrationen wurden von Confech, der Confederación de Estudiantes de Chile, unterstützt. Ebenso beteiligten sich Eltern- und Lehrerverbände sofort an den Protesten. Die Forderungen der Schüler zielten zunächst allgemein auf Verbesserungen im bestehenden administrativen Rahmen: So sollten die finanzielle Ausstattung der Schulen verbessert, Stipendien pünktlich gezahlt und Probleme mit dem Transport-Ticket für Schüler und Studierende gelöst werden.Zu diesem Zeitpunkt wurde außerdem bereits die Universidad Central de Chile (ucen) bestreikt, um eine Veränderung der Hochschulstatuten in Richtung Kommerzialisierung der Universität zu verhindern. In der Kritik stand dabei insbesondere ein vor allem von Christdemokraten besetzter Immobilienfonds, mit dessen Hilfe öffentliche Gelder aus dem Hochschulbereich in private Gewinne verwandelt werden.

Für ein Grundrecht auf Bildung

Präsident Piñera kündigte am 21. Mai vor dem Kongress eine bevorstehende Reform des Hochschulsystems an: »Den Kampf um Qualität und Gleichheit im Bildungssystem gewinnt man nicht mit Diskursen und Versprechungen. Auch nicht auf der Straße. Diesen Kampf gewinnt man in den Unterrichtsräumen und in den Haushalten.«7  Die Schüler und Studierenden interpretierten dies als Einladung, sich sofort und nachdrücklich mit eigenen Forderungen an der Debatte zu beteiligen. Zum 1. Juni wurde der nationale Hochschulstreik ausgerufen. In Santiago demonstrierten zunächst nur 20000 Schüler und Studierende. Allerdings breitete sich die Bewegung schnell aus und im Laufe des Monats besetzten Schüler und Studenten landesweit etwa 600 Schulen und Hochschulen.

Damit war die logistische Grundlage für ein riesiges Mobilisierungspotenzial geschaffen, denn trotz prekärer Bedingungen garantierten die Besetzungen dauerhafte Orte für Organisations- und Abstimmungsprozesse, zur Vorbereitung von vielfältigsten Aktionen und Rückzugsräume für die AktivistInnen, die zu Tausenden ihren Lebensmittelpunkt in die besetzten Schulen und Universitäten verlegten. Auf der nächsten zentralen Demonstration Mitte Juni erschienen bereits 80000 Demonstranten – eine der größten Demonstrationen seit dem Ende der Diktatur im Jahr 1990. Das Ministerium für Bildung versuchte die Ausbreitung der Proteste einzudämmen, indem es für alle Schulen und Hochschulen in Raum Santiago vorgezogene Winterferien erließ. Die Mehrheit der Mitarbeiter in Schulen und Universitäten blieb jedoch in den besetzten Einrichtungen.

Zur nächsten Demonstration mobilisierten die Proteste zwischen 100000 und 200000 Menschen in Santiago, landesweit waren etwa eine halbe Million Menschen auf der Straße. Dieses Niveau der Mobilisierung konnte in den folgenden Monaten bis Oktober etwa gehalten werden. Die Studierenden legten einen Forderungskatalog vor, der bereits deutlich über die Verbesserungen in der Umsetzung bestehender Maßnahmen hinausging: Sie forderten eine umfassende Reform der Organisation und Finanzierung öffentlicher Bildungseinrichtungen, einen vereinfachten Hochschulzugang und die Erweiterung der studentischen Mitbestimmung. Die Hochschulrektorenkonferenz positionierte sich auf der Seite der Studierenden und wies eine erste Verhandlungslösung des Ministeriums zurück.

Pluralität und Inklusion

Die folgenden andauernden Mobilisierungen waren möglich, weil Chile mit der Confederación de Estudiantes de Chile (Confech) über nur einen landesweiten Studierendenverband verfügt, der die studentische Selbstorganisation fast aller Universitäten Chiles repräsentiert. Sein politisches Gremium wird jährlich in einer Generalversammlung gewählt. Zwar dominieren an den großen Hochschulen traditionell linke Organisationen die politische Arbeit, kennzeichnend ist aber ein hohes Maß an politischer Pluralität, das während der Mobilisierungen durch die verschiedenen Sprecherinnen und Sprecher auch nach außen dargestellt wurde. Die Struktur konnte interne Auseinandersetzungen überbrücken.8

Von Anfang an bezog die Mobilisierung alle Akteure aus dem Bildungsbereich ein und stellte sich weder als rein universitäre noch als studentische Auseinandersetzung dar. Mit der Asamblea Coordinadora de Estudiantes Secundarios waren die Schulen und Gymnasien beteiligt; die Berufsverbände der Hochschullehrer, Elternorganisationen und selbst der Rat der Rektoren positionierten sich frühzeitig für die Proteste. Außerhalb dieser breit angelegten Unterstützung im Bildungsbereich gelang es den Studierenden, Solidarität durch einzelne Gewerkschaften zu mobilisieren. Schon im Juni beteiligten sich die streikenden Arbeiter der Kupfermine El Teniente, ab Juli unterstützte der große linke Gewerkschaftsdachverband cut (Central Unitaria de Trabajadores de Chile) die Forderungen der Studierenden. Zwar ist die cut schon aus historischen Gründen eng mit Concertación verbunden – beide Projekte entstanden ab 1988 in Opposition zur Militärdiktatur – und stark korporatistisch geprägt, jedoch ist im Gewerkschaftsdachverband inzwischen vor allem der linke Flügel von Concertación repräsentiert, nachdem sich 1995 die christdemokratische Gewerkschaftsfraktion abgespalten hatte. Auch auf Seiten der Studierenden hat sich in den letzten Jahren eine stärkere Bereitschaft zur Kooperation mit anderen sozialen Bewegungen ergeben: »Ich glaube, dadurch dass sich festere Beziehungen zu den sozialen Bewegungen entwickelt haben, zu den Arbeitern, verändert sich der Charakter der Kämpfe [der Studierenden] allmählich. Schon im Jahr 2010 solidarisierten sich die Studenten mit den Mapuche – was in den Jahrzehnten zuvor nie geschehen war. Das stellt einen Meilenstein gegen das Gremiendenken und den Korporatismus der Universitäten dar«, bewertete Eduardo Salazar, einer der Sprecher von Confech, diese Situation. Gleichzeitig akzeptierten die Organisatoren bereits frühzeitig partikulare Interessen innerhalb des breiten Bündnisses, etwa dass die Oppositionsparteien von Conertación und die dazugehörigen Organisationen ein parteipolitisches Interesse hatten, die Regierung Piñera zu anzugreifen.9

Ausweitung der Forderungen und Mobilisierung von Legitimität

Die Regierung ging mit verschiedenen Angeboten in kleinen Schritten auf einzelne Forderungen ein und zielte damit auf eine Spaltung der Bewegung. Weil die Studierenden jedoch ein breites Spektrum an sozialen Organisationen in ihre Entscheidungsfindung einbezogen und die eigenen Vorschläge zur öffentlichen Abstimmung stellten, gelang es, den Konflikt zu »vergesellschaften« und trotz deutlicher Radikalisierung die Legitimität der eigenen Forderungen öffentlich zu untermauern.

So legte die Regierung Piñera Anfang Juli einen neuen Plan zur Hochschulreform vor. In einer Kettenschaltung in Radio und Fernsehen kündigte der Präsident das Projekt Gran Acuerdo Nacional de la Educación (gane) an, in dessen Rahmen etwa vier Milliarden Dollar in den Bildungsbereich investiert werden sollen. Camila Vallejo, Sprecherin der Conrech, bewertete die Angebote als »eine Enttäuschung und einen Rückschritt«. Die Pläne würden nichts an den grundsätzlichen Problemen ändern: der offenen und verdeckten Gewinnorientierung sowie der Zuständigkeit der finanziell unterausgestatteten Gemeinden für das Bildungssystem. Die Protestbewegung reagierte auf das Konzept der Regierung mit einem eigenen Projekt Gran Acuerdo Social por la Educación. Zu einer entsprechenden Arbeitsgruppe luden die Schüler- und Studierendenverbände auch die Gewerkschaften, die Verbände der Kleinunternehmer, der Mapuche und viele andere ein. Zumindest indirekt waren nun alle relevanten sozialen Bewegungen des Landes an der Meinungsbildung beteiligt.

Den Aufruf zu den Demonstrationen im August unterzeichneten bereits 44 Organisationen, darunter die größten Gewerkschaften des Landes. Teile der Bewegung forderten ein generelles Verbot, mit der Hochschulbildung Gewinne zu machen. Die Protestbewegung diskutierte ein Grundrecht auf Bildung und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zur Umsetzung einer entsprechenden Reform, welche die grundlegende Ausrichtung des Landes »auf der Basis der Mehrheitsentscheidungen« realisieren solle. Finanziert werden sollte diese Grundversorgung aus einer Wiederverstaatlichung privatisierter Kupfer-Unternehmen und einer Steuerreform.

Im August kam es zu weiteren Großdemonstrationen, an denen trotz strömendem Regen erneut 150000 Menschen teilnahmen. Zu einer zentralen Kundgebung am 21. August versammelten sich schließlich eine halbe Million Demonstranten im Parque OʼHiggins in Santiago. Gleichzeitig verschärften die Besetzer der Universitäten und Schulen ihre Aktionsformen, größere Gruppen befanden sich seit fast einem Monat im Hungerstreik und die ersten Aktivisten mussten bewusstlos in Krankenhäuser eingeliefert werden. Am Rande von Kundgebungen und Demonstrationen kam es regelmäßig zu Plünderungen und brennenden Barrikaden. In dieser Situation rief der Gewerkschaftsverband CUT zum landesweiten Streik auf und wurde darin auch von den Concertación-Parteien unterstützt. Auch wenn die Zahlen über die Beteiligung weit auseinandergehen – die Regierung sprach von etwa 14 Prozent und die CUT gab an, dass 50 Prozent aller Beschäftigten gestreikt hätten –, gelangen auch an den Streiktagen Massenmobilisierungen der Studierenden. In einer repräsentativen Umfrage unterstützten 55 Prozent der Bevölkerung10 die in der politischen Klasse umstrittene Solidaritätsmaßnahme der Gewerkschaften.

Im September stellte Confech Minimalforderungen für den Beginn von Verhandlungen mit der Regierung auf. Zunächst sollte das geplante Bildungsgesetz gestoppt und die Beschränkung für Stipendien aufgehoben werden. Außerdem seien alle Verhandlungen öffentlich zu übertragen und keine weiteren öffentlichen Mittel an Hochschulen mit wirtschaftlichen Zielen zu übertragen. Diese Bedingungen wies der Bildungsminister zurück. Stattdessen gab die Regierung bekannt, dass 70000 Schülern der Oberstufe das laufende Schuljahr nicht anerkannt werde. Daraufhin erklärten die Sprecher von Confech, Camila Vallejo und Giorgio Jackson, die Verhandlungen erneut für gescheitert. Zur folgenden 35. Demonstration nahmen trotz enormen medialen Drucks gegen die Protestbewegung 180000 Menschen teil.

Die Confech rief Mitte Oktober zu einem Nationalen Referendum auf, das die Studierenden und ihre Unterstützer organisierten. An der Volksbefragung zu den wichtigsten Forderungen der Protestbewegung nahmen mehr als 1,5 Millionen Chilenen teil, was etwa zehn Prozent der Bevölkerung entspricht. Das Ergebnis bestätigte die überwältigende Anerkennung ihrer Forderungen. Mehr als 93 Prozent der Befragten unterstützten die wichtigsten Forderungen der Protestbewegung. Vertreter der rechten Regierungspartei Unión Demócrata Independiente (udi) erklärten zu dem Ergebnis: »Ein ernstzunehmendes Land reagiert man nicht mit Plebisziten im kubanischen und chavistischen Stil.«11

Wachsende Bewegung

Die ProtagonistInnen der Studierendenbewegung agierten in den Organisierungsfragen klug und wandten sich hartnäckig gegen Kompromissangebote der Regierung. Dies geht auf Erfahrungen aus den Bildungsprotesten des Jahres 2006 zurück. Damals wurde unter der Regierung Bachelet der Schulbetrieb bestreikt und ähnliche Forderungen erhoben. Die Bewegung benannte sich nach den schwarz-weißen Schuluniformen als Revolution der Pinguine. Die »Schüler haben das Gefühl, dass die Bewegung der Pinguine ein Vermächtnis der vorherigen Generationen ist, weshalb so viele bereit waren, sich schnell und mit sehr viel Verantwortung an dieser sozialen Bewegung zu beteiligen« (Vallejo).12

Die Pinguin-Proteste waren schneller abgeklungen. Es bestand eine Vielzahl von Divergenzen, etwa zwischen der Hauptstadt Santiago und den Provinzen, und auch die damalige Schülerbewegung war politisch äußerst heterogen, jedoch entstand im Jahr 2006 erstmalig eine auf Vollversammlungen basierende Komitee-Bewegung, welche die Schülerinteressen politisch übergreifend artikulierte. Ein weiterer wichtiger Nachlass aus der Mobilisierung 2006 ist die Erfahrung, dass die damalige Concertación-Regierung die selbst angekündigten Zugeständnisse nicht umsetzte. Nach zwei Monaten intensiver Proteste hatten sich Schüler und Regierung damals auf eine umfangreiche Bildungsreform geeinigt, die einen Großteil der auch aktuell kritisierten und parteiübergreifend als Missstände anerkannten Probleme beseitigen sollte. Präsidentin Bachelet gründete einen Beirat für die Bildungsreform, an dem auch Studierendenvertreter beteiligt waren, und der eine Verfassungsreform zur Neustrukturierung des Bildungssystems einleiten sollte. Noch drei Monate später erklärte Bachelet: »Wir sind dabei einzulösen, was wir versprochen haben.« Weitere drei Monate später zogen sich die Schülervertreter aus der Kommission zurück, eine entsprechende Verfassungsänderung, geschweige denn weitere Gesetzesänderungen, kam nie zustande.

Nach dem Ende des Wintersemesters besteht nun erneut ein technisches Patt zwischen Regierung und Studierenden. Obwohl es nach dem selbstorganisierten Referendum im Oktober noch einmal zu großen Mobilisierungen kam, stehen tausende Schüler und Studierende nun vor der Entscheidung, ob sie ein weiteres der extrem teuren Studiensemester verlieren können. Gegenwärtig scheint sich abzuzeichnen, dass der Lehrbetrieb wieder aufgenommen wird und die Studierenden sich mit ihren Forderungen nicht durchsetzen können. In welcher Form der Kampf für ein neues Bildungssystem wieder aufgenommen wird, hängt auch von den Wahlen der Studierendenvertretungen und von der Neuzusammensetzung der Confech ab.

Politisch geht die Regierung Piñera als Verlierer aus den Auseinandersetzungen hervor, sie hat nur noch die Zustimmung von einem Viertel der Bevölkerung. Die Hoffnung der Oppositionsparteien der Concertación, von der Unterstützung der Proteste profitieren zu können, hat sich auch nach einem halben Jahr der Massenmobilisierung nicht erfüllt. Nach aktuellen Umfragen liegen Sozial- und Christdemokraten in einem historischen Tief: Nur noch 17 Prozent der Bevölkerung bewerten ihr politisches Handeln als positiv.13

Die Erfahrungen des chilenischen Winters stellen eine neue Dimension im politischen Handeln der sozialen Bewegungen und der verschiedenen linken Parteien und Gruppen dar. Sie setzten eine breite gesellschaftliche Debatte über den Charakter öffentlicher Aufgaben und sozialer Grundrechte auf die Tagesordnung und machten das breite Bedürfnis nach einer Gesellschaft jenseits der Marktlogik sichtbar. Neue Formen der Beteiligung und der Beschlussfassung sind entwickelt worden. Viele sehen die Protestwelle in der Tradition der lateinamerikanischen Mobilisierungen, die den neuen Linksregierungen des Kontinents vorausgingen – die Aufstände während der Krise in Argentinien, der Wasserkrieg von Cochabamba – und orientieren auf einen verfassungsgebenden Prozess für Chile.14 Camila Vallejo macht den Unterschied zu den Protestbewegungen in Europa und Nordafrika deutlich: »Die chilenische Studentenbewegung ist kein Teil der Bewegung der Indignados. Sie ist keine spontane Bewegung, sondern Folge eines lang andauernden Prozesses, in dem die aktuelle Situation Chiles und die darin vorkommenden Ungerechtigkeiten untersucht wurden. Wir verstehen den Kampf der Indignados, aber in Chile haben wir die Schwelle der Unzufriedenheit bereits überschritten. Jetzt müssen wir nach vorne schauen, um eine Alternative für das Land aufzubauen.«15

 

Anmerkungen

1 Vgl. amerika21.de, Streik wegen Gaspreisen im Süden Chiles, (13.1.2011).
2 Vgl. La Tercera (online), Encuesta revela alto rechazo a construcción de Hidroaysén, (22.11.2010).
3 Vgl. amerika21.de, Proteste gegen Staudamm HidroAysén Chile, (12.5.2011).
4 Vgl. lmd (online), Chilenische Lösungen, (13.5.2011).
5 Vgl. Alainet.org [1], Andrés Figueroa Cornejo: A fines de mayo, Chile es un bote frágil, (26.5.2011).
6 Vgl. Biobio (online): Universitarios anuncian movilizaciones, (19.4.2011).
7 Universia (online), Presidente Piñera: »Llegó la hora de hacer una gran reforma a la educación superior«, (21.5.2011).
8 Vgl. La Tercera (online), Giorgio Jackson: »Si se levanta un movimiento posterior, pueden ser piqueteros«, (30.10.2011).
9 Vgl. alai (online), Estamos en condiciones de producir un gran paro nacional, (3.6.2011).
10 Vgl. Radio Cooperativa (online), Imaginacción y Universidad Técnica Federico Santamaría: Resultados Encuesta Flash: Paro cut, (29.8.2011).
11 amerika21.de, Große Beteiligung am Plebiszit über Bildungsforderungen in Chile, (14.10.2011).
12 La Onda Digital (online), Camila Vallejo: El gobierno de Piñera está aislado.
13 Vgl. Adimark (online): Evaluación de las Instituciones y Coaliciones Políticas.
14 Vgl. Rebelion (online), La revolución en el Chile del 2011 y el movimiento social por la educación, (28.9.2011).
15 amerika21.de, Widerstand gegen das Privatisierungsmodell, (2.11.2011)