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ÜBER DAS GEMEINSAME, UNIVERSALITÄT UND KOMMUNISMUS

Gespräch zwischen Antonio Negri und Étienne Balibar

In unterschiedlichen Traditionen linker Philosophie und Gesellschaftsanalyse wird in letzter Zeit um einen Begriff von Kommunismus im Sinne von commune-ism gerungen. Die Frage nach Kommunismus strukturiert auch dieses Gespräch: Wie lässt er sich denken, jenseits von essenzialistischen Konzepten und solchen, die historische Notwendigkeiten von Formationenabfolge postulieren? In der Tradition von Postoperaismus und Althusser etwa wird auf die selben Namen Bezug genommen: Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, Spinozas Ontologie und eine Kritik am hegelianischen Historizismus. Gleichwohl unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Vorstellungen von commune-ism. Wir wollen Gemeinsamkeiten und produktive Divergenzen beider Traditionen untersuchen.

In Toni Negris zusammen mit Michael Hardt verfassten Büchern (2000, 2004 u. 2009) wird Kommunismus von einer Ontologie des Gemeinsamen aus gedacht. Das Gemeinsame ist sowohl Voraussetzung als auch Resultat gesellschaftlicher Kooperation. Es ist ein Potenzial wachsender gesellschaftlicher Kooperation, das die paradigmatische Transformation der Produktivkräfte in Richtung »immaterieller« Produktion, damit verbundene neue Formen von Arbeit und die allgemein zunehmend vergesellschaftete Produktion von Wissen und Kommunikation begleitet. Das Gemeinsame verweist auf eine Form der Vergesellschaftung, die die früheren Trennungen zwischen Arbeit und Leben, zwischen Produktion und Reproduktion neu bestimmt und teilweise überschreitet.

Étienne Balibar und einige Post-Althusserianer denken Kommunismus und verwandte Konzepte gesellschaftlicher Emanzipation im Zusammenhang mit einer paradoxen Idee von Universalität, die nicht realisierbar und dennoch notwendig für Politik sei. Gegen die falschen Universalismen des Kommunitarismus und Warenfetischismus erkennt dieses paradoxe Universelle die inneren Grenzen jeder Formation an und politisiert sie gleichzeitig. Balibar bezeichnet dieses »ideale Universelle« als Gleichheit-Freiheit (engl. equaliberty, franz. égaliberté), indem Gleichheit und Freiheit als untrennbar betrachtet werden (vgl. Balibar 1994; 2002).

Wir wollen den theoretischen und politischen Konsequenzen dieser beiden Ansätze nachgehen und fragen, wie wir im Kontext der globalen Wirtschaftskrise Kommunismus verstehen und praktizieren können.

Einleitung von Anna Curcio und Ceren Özselçuk

FRAGE 1

In Multitude wird das Argument entwickelt – und in Commonwealth weiterentwickelt –, dass sich in der neoliberalen Finanzialisierung zeigt, wie der Wert (auch zukünftiger) gesellschaftlicher Kooperation und lebendiger Arbeit homogenisiert, der Abstraktion durch Geld unterworfen und vom Kapital enteignet wird. Die Finanzialisierung wird von den Subjekten gestützt: Sie sind aufgerufen – als Ersatz für den verschwindenden Wohlfahrtsstaat –, Manager ihres Konsum- und Rentenplans sowie Unternehmer ihres Humankapitals zu sein. Wie lassen sich die Affekte, Begierden und Kooperationsformen, die das Gemeinsame herstellen, von denen unterscheiden, die die kapitalistische Kooperation reproduzieren? Wächst der Ethik nicht in diesem Sinne – jenseits einer Ontologie des Gemeinsamen – eine Funktion in der Produktion des Gemeinsamen zu? Könnte Kommunismus die Bezeichnung für eine solche Ethik sein? Wie ermöglicht uns die Idee des Gemeinsamen, in Anbetracht der Ersetzung des Wohlfahrtsstaats durch den Prozess der Privatisierung und Individuation, das Verhältnis zwischen Staat und Öffentlichem neu zu denken oder vielleicht sogar darüber hinaus zu denken?

FRAGE 2

Als Antwort auf die gegenwärtige Krise werden wieder öffentliche Diskurse über Gleichheit in Gang gebracht (von konservativen Gegnern wie liberalen Befürwortern) und Forderungen nach einer Mäßigung des ungezügelten Strebens nach Privateigentum laut (von konservativen Moralisten wie liberalen Humanisten). Gesellschaftliche Hierarchien von Rasse, Geschlecht, Klasse, Ethnizität, Sexualität usw. scheinen durch die Verteilungs- und Stabilisierungsregime erneut reproduziert zu werden. Welche politischen Forderungen könnten unter diesen Bedingungen das emanzipatorische Potenzial von Gleichheit-Freiheit ausweiten und verstärken? Inwiefern könnten diese Forderungen an die sozialen Rechte anknüpfen, die das Öffentliche im Wohlfahrtsstaat konstituieren, oder müssten sie von diesen abweichen? Könnte Kommunismus eine Ergänzung zum Klassenkampf sein, die die Gleichheit-Freiheit über keynesianische Pragmatik, Ansprüche und Moral, d.h. über die liberale kapitalistische Demokratie, hinaustreibt?

Toni Negri: Im Konzept der Multitude treffen wir eine Unterscheidung zwischen dem singulären Subjekt als Arbeitskraft – lebendige Arbeit in gesellschaftlicher Produktion – und dem unterworfenen Individuum innerhalb der staatsbürgerlichen Ordnung. Obwohl es diese Unterscheidung in der Realität nicht gibt, erlaubt sie im gegenwärtigen Stadium der Krise der Finanzialisierung und der daraus resultierenden Kämpfe die Fragen anzugehen. […]

Staatsbürger und Arbeiter sind beide dem Maß eines »notwendigen Lohns« unterworfen,dem geschichtlichen Stand der Produktion und zum Überleben notwendigen Bedürfnisbefriedigung. Die Bestimmung dieses Maßes führt direkt zum Kern des Problems. Wie stellen wir die Frage nach Aufrechterhaltung, Steigerung, politischer Bestimmung oder Veränderung dieser Bedürfnismenge, die nur durch ein gegebenes Niveau des »notwendigen Einkommens« befriedigt werden kann?

Die gegenwärtige Transformation der Arbeitskraft und ihrer Vergesellschaftung verändert die Rahmenbedingungen dieser Frage. Wenn Arbeit intellektuell wird, benötigt sie Freiheit; wenn sie kooperativ wird, zeichnet Gleichheit sie aus. Ohne Freiheit und/oder Gleichheit kann es heute keine produktive Arbeit geben. Das Problem wird von der Analyse der Länge des Arbeitstags wegverlagert und den Gesetzen der Finanzwirtschaft unterworfen. Folglich wird der ökonomische Kampf um den relativen Lohn zu einem soziopolitischen Kampf um die finanzielle Verteilung des Einkommens im Wohlfahrtsstaat.

Insofern existiert heute nicht mehr das Problem des Unterscheidens zwischen dem »Gemeinsamen«, dem durch Singularität konstituierten und durch die entstehende Multitude produzierten, ethisch-politischen Ganzen, und dem »Kommunismus des Kapitals«, der Form der Kapitalakkumulation und der symmetrischen Repräsentation neuer Prozesse gesellschaftlicher und kognitiver Wertproduktion. In diesem Zusammenhang haben alle Aktivitäten zur Sicherung eines hö- heren notwendigen Einkommens und jegliche Bezugnahme aufs Finanzkapital ausschließlich mit Tauschwert und Waren zu tun. Eine Alternative zum gegenwärtigen Charakter der Welt des Kapitals kann nicht mehr auf der üblichen Ebene von Löhnen und Wohlfahrt bestimmt werden. Sich der Frage der Finanzwirtschaft vom Standpunkt einer Theorie der Gleichheit-Freiheit zu nähern, muss vom Tauschwert ausgehen, vom Kern des Problems der Ware.

Wenn wir jedoch die Frage so stellen, dass wir den jeweiligen Charakter der Arbeitskraft – d.h. die spezifische technische und politische Zusammensetzung der Arbeitskraft – einbeziehen, können wir vom Arbeiter als aktivem Teil der Multitude sprechen. Dann kann die neue Gestalt des produktiven Subjekts in den Blick kommen, das eine relative Autonomie in der Produktion erlangt und komplexe Kooperationsformen herausgebildet hat, die die Trennung von Arbeit und Leben verwischen. Auf diesem Terrain entsteht ein spezifischer Überschuss, der mit dem Gemeinschaftlich-Werden von Arbeit und menschlicher Reproduktion verbunden ist, ein »Mehrwert« hinsichtlich der Schwierigkeiten der Entfremdung der Subjektivität, die autonomer Produktion innewohnt, oder der Enteignung des objektiven Überschusses einer solchen Produktion.

Kapital ist immer ein Verhältnis zwischen konstanten und variablen, toten und lebendigen Elementen, und dieses Verhältnis ist dialektisch. Unsere Frage ist, ob dieses Kapitalverhältnis aufgebrochen werden kann. Jede Krise macht das Aufbrechen und Trennen der Elemente des Kapitalverhältnisses sichtbar, aber das Kapital setzt anschließend alles wieder neu zusammen. Kann nun die neue Struktur der lebendigen Arbeit, die neue technische Zusammensetzung der Arbeitskraft, die entstehende politische Zusammensetzung der Multitude, die technologisch-politische Struktur des Kapitals weiter offenhalten? Kann sie das Kapitalverhältnis aufbrechen?

Was ist der Unterschied zwischen dem »Gemeinschaftlich-Werden« der Multitude und dem »Kommunismus des Kapitals« (globale Herrschaft in Gestalt des Finanzkapitals)? Vom Standpunkt des »Kommunismus des Kapitals« können wir uns nur im Reich des Tauschwerts bewegen: der Kämpfe für ein notwendiges Einkommen. Wenn wir Einkommen oder Wohlfahrt fordern, können Waren und Geld neu verteilt werden, aber ihr Charakter bleibt unverändert. Dieser Kampf ist vollständig eingelassen in die Dynamik des Austauschs von Wert, d.h. von Tauschwert.

Ein Aufbrechen in diesem Bereich ist nur ontologisch von Bedeutung, wenn es mit den neuen Gestalten der Arbeitskraft in Verbindung gebracht wird: wenn es nach der Arbeitskraft verlangt, die auf der Ebene der Beziehungen, Affekte, Sprache und Kommunikation, die den neuen kooperativen Charakter der Arbeit weiter steigern, einen Überschuss erzielt. Hieraus entsteht das Gemeinsame und hier wird das Aufbrechen weitergetrieben in Richtung der Konversion von Werten (ausgehend von Tauschwerten) und der Einrichtung einer Produktionsweise, die auch auf Wohlfahrtsebene auf die Produktion des Menschen für den Menschen orientiert: Sozialer Lohn und Bürgereinkommen sind nicht länger eine bloße Maßgröße, sondern verweisen auf eine progressive Bruchstelle im Kapitalverhältnis und die Macht (potentia) der Autonomie der Arbeit. Die Schwierigkeit besteht darin, eine Vorstellung der Produktion des Menschen für den Menschen und der radikalen Veränderung der Struktur der Produktion zu bekommen.

Étienne Balibar: Die gegenwärtige Krise, falls sie wirklich das ist, was sie scheint – nämlich eine tiefe Krise, eine globale Krise, eine Krise nicht nur bestimmter ökonomischer Mechanismen, sondern eine Zivilisationskrise einschließlich unserer Weltordnung –, zwingt dazu, die politischen und theoretischen Kategorien, mit denen wir in der letzten Periode gearbeitet haben, mehr oder weniger neu zu denken, zu bearbeiten und zu dimensionieren. Das war immer so in ähnlichen historischen Konjunkturen und insbesondere in der dramatischen Geschichte des Marxismus als theoretischem und politischem Projekt aufgegriffen worden. Jedes Mal bedeutete es, wie Althusser es ausdrückte, nicht nur über die Konjunktur nachzudenken – mittels möglichst intelligenter Anwendung und Umsetzung bereits existierender Kategorien –, sondern auch innerhalb der Konjunktur, unter den Zwangsbedingungen der Konjunktur zu denken. Wir müssen insbesondere die strategischen Dimensionen der Krise bestimmen. Selbstverständlich hat jeder von uns Vermutungen und Hypothesen dazu, aber sicher ist nichts. Folglich wird alles, was wir über Alternativen, selbst alternative Sprechweisen, sagen können – sei es basierend auf der Ontologie des Gemeinsamen und der politischen Philosophie der Multitude als globalem revolutionärem Subjekt oder auf einer bestimmten Konzeption von nicht-ausschließender Staatsbürgerschaft und »Demokratisierung der Demokratie«, die ich an die Kategorie der Gleichheit-Freiheit zu knüpfen versuche –, überprüft werden müssen.

Es gibt – und damit kehre ich zu Tonis Positionen zurück – mindestens zwei bedeutende Ideen, die aus meiner Sicht nicht nur hilfreiche Beiträge, sondern entscheidende Elemente unseres Versuchs darstellen, im gegenwärtigen spätkapitalistischen Moment Alternativen zu denken. Ich nenne sie nur, ohne ins Detail zu gehen. Die erste ist seine Idee der »konstituierenden Macht«. Hier verwenden wir wohl leicht unterschiedliche Terminologien, aber im Grunde konvergiert das, was ich mit »Gleichheit-Freiheit« auszudrücken versuche, mit dem, was Toni mit »konstituierender Macht« zu sagen versucht – dies ist auf ein historisches Erbe, eine revolutionäre Tradition zurückzuführen, die wir in groben Zügen teilen. Es hat selbstverständlich mit der Idee zu tun, dass nur Kämpfe zur Transformation ökonomischer oder politischer Institutionen führen können und somit der Motor historischer Veränderungen sind. Wichtig ist hier nicht nur das Primat des Aufrührerischen bzw. Konstituierenden über das Konstituierte, wodurch jedoch nicht die Notwendigkeit von Institutionen und konstituierter Macht bestritten wird. Sondern auch, dass die Materialität des Kampfs immer wieder genau an den Orten auftaucht, wo ein bestimmter etablierter, offizieller Diskurs, der Diskurs des Staates und der herrschenden Klasse, der hegemoniale Diskurs die Existenz dieses Kampfs leugnet und auch uns davon zu überzeugen versucht – entweder weil er eliminiert wurde oder weil er zwangsläufig marginal bleibt. Ausmaß und Grenzen solcher Räume in Geschichte, Kultur und Gesellschaft, wo die konstituierende Macht, die Revolte als treibende Kraft der Geschichte immer wieder auftaucht, sind in der Tat faszinierend. Zumindest auf den ersten Blick sehe ich keine Schwierigkeit darin, dies unter dem Dach der Multitude zusammenzufassen – allerdings nur, wenn die Multitude nicht als existierendes Subjekt angesehen wird, sondern eher als regulative Idee einer möglichen Konvergenz dieser aufständischen Elemente.

Das zweite Element, das ich bei Toni für zentral halte, betrifft seine Überlegungen zu Arbeit und Produktivkraft. Der große Unterschied zwischen uns besteht darin, dass ich mich schon lange von Tonis ontologischer Vorbedingung des absoluten Primats bzw. der Einzigartigkeit der Produktivkraft als anthropologischer Grundlage für Politik und historische Veränderung verabschiedet habe. Es gibt etliche Dimensionen von Kultur und Gesellschaft, die nicht auf eine Analyse hinsichtlich der Produktivkraft reduziert werden können und die wir einbeziehen müssen, wenn wir etwas von den Kämpfen in unseren Gesellschaften verstehen wollen. Aber Toni hat eine bestimmte enge, vielleicht utilitaristische Auffassung von Arbeit, an der Marx festhielt, geradezu revolutioniert, indem er auf die Bedeutung der Dialektik von materieller und intellektueller Arbeit hingewiesen hat – was sich bei Marx nur am Rande findet – und auf die Rolle, die diese Dialektik beim permanenten Widerspruch zwischen dem individualistischen und dem kooperativen Aspekt von Arbeit spielt; und vor allem, indem er uns daran erinnert hat, dass Arbeit nicht nur intellektuell oder manuell ist, sondern auch eine affektive Dimension hat und deshalb untrennbar mit allen gesellschaftlichen Leidenschaften verknüpft ist, die das Gemeinsame schaffen oder zerstören. Diese zwei Dinge sind absolut unhintergehbar.

Mein Problem liegt in Tonis ontologischem Verständnis all dieser Probleme. So hat er die ontologische Dimension bzw. Einseitigkeit bei der Bestimmung der Menschen als produktive Tiere sogar weiter getrieben, so dass er die eingängige Erzählung fortsetzen kann, wonach der Kommunismus als Endpunkt, als Telos der fortschreitenden Vergesellschaftung der Arbeit erscheint. Er hat dies zu einem Extrem getrieben, das meiner Auffassung nach metaphysisch ist. Ich vermisse hier – das ist die alte althusserianische Position – Raum für Politik. Es kann keine Politik geben, wenn alles immer schon im Vorhinein durch eine ontologische Grundstruktur determiniert ist. Es fehlen die Unsicherheiten der Politik. Es fehlen die Überraschungen der politischen Konflikte oder Krisen, die entweder in den ökonomischen Phänomenen oder in den ideologischen Dimensionen gegenwärtiger Politik ihren Ursprung haben. Wo ist Religion, wo ist Nationalismus, wo sind all die ideologischen Diskurse und Praktiken, die jeder Wendung in diesem historischen Moment auflasten und die ihn überhaupt nicht auf eine einfache Alternative zwischen dem mehr oder weniger unaufhaltsamen Aufstieg des Gemeinsamen als der zukünftigen Dimension von Arbeit und dem »Kommunismus des Kapitals« reduzieren lassen? Eine wunderbar widersprüchliche Formel, die aber nichts über die gegenwärtige Konjunktur aussagt.

Toni Negri Mein Eindruck ist: Wenn wir über Arbeit reden, wie in Empire mit Michael und vielen anderen Genossen, wird die politische Dimension eher gestärkt als reduziert. Sofern Arbeit biopolitisch wird, tauchen Freiheit und Gleichheit im Innern der menschlichen produktiven Tätigkeit auf, sei diese ökonomisch oder politisch. Das Politische ist nicht einfach Superstruktur/Überabau gesellschaftlicher Kooperation. Deshalb wird es durch Werte erneuert, die von denen des Marktes abweichen, sie überschreiten, über ihre Ordnung und ihr Maß hinausgehen.

Um die Frage der Politik zu erweitern, will ich auf die Krise der Souveränität und der Regierung im Besonderen zurückkommen. In dieser Krise wird es möglich, »konstituierende Macht« auszudrücken. Das verlangt, dass wir die Probleme der kapitalistischen Kultur (ob liberal oder sozialistisch) und globalen Organisation mit Vorschlägen konfrontieren, wie Michael und ich es seit über einem Jahrzehnt getan haben. Wenn das bisher Gesagte irgendeine Bedeutung hat für einen Begriff des Gemeinsamen (common) als eines neuen Gebrauchswerts, der sich der kapitalistischen Herrschaft des Profits und dem kapitalistischen Kommando widersetzt, können wir die gegenwärtige politische Krise als eine verstehen, die im strengen Sinn politisch ist, als eine Krise der Regierung und der Souveränität, der modernen Politik par excellence.

Dann wird klar, dass sich die Regierung radikal verändert hat. Sie geht weniger von der Anordnung einer einheitlichen und gegliederten Entscheidung aus, die vom Gesetz herabsteigt, und mehr von einem dynamischen, pluralistischen und disartikulierten System von Entscheidungen, Verträgen und Konventionen, die zwischen verschiedenen Subjekten zustande kommen. Steuerung (governance) ersetzt mehr und mehr Regierung (government). Nicht nur entledigt sich die Regierung der juridischen Merkmale von Souveränität, sondern Steuerung und Administration entfernen sich auch vom konstitutionellen und/ oder administrativen Recht. Um das klarer zu machen: Es kommt zu diesem Formwandel, weil es überall Überschüsse (surpluses) gibt, die widerständig sind gegen die juridische oder administrative Ordnung, oder in einem Wechselspiel mit ihr stehen. Regierung ist immer diesem Spiel unterworfen. Man kann die Wahlen mit großer Mehrheit gegen seinen Widersacher gewonnen haben, aber man wird in gleicher Weise den Alternativen der Steuerung unterworfen sein. Die Beispiele dafür sind zahlreich, sie könnten die heutigen Erfahrungen mit Regierung und Rechtsetzung einschließen (wie Obama zeigt). Kann dieser Überschuss, diese alternative Anordnung zurückgeholt werden in neue Formen der Subsumption innerhalb erneuerter Strukturen von Souveränität und kapitalistischer Regierung – oder können diese Widersprüche Grundlage sein, einen Raum für konstituierende Macht auszugestalten?

Fürs Erste müssen wir verstehen, ob es dem kapitalistischen Kommando gelingen wird, sein inneres Gleichgewicht unter den neuen Bedingungen von Entwicklung und Krise wieder aufzubauen, und ob die Subjekte, die eine neue Vorstellung des Gemeinsamen und neue Gestalten von Freiheit und Gleichheit suchen, es schaffen werden, Institutionen zu bilden, die geeignet sind, sich den Strukturen der Regierung des Kapitals über das Gemeinsame zu widersetzen. Klar erkennbar ist eine Art institutioneller Dualismus, der die Steuerung ebenso wie andere Räume erfasst, die mit der Schwächung der Souveränitätspraxen auf der Stufe des Empire geöffnet worden sind. Vermutlich müssen wir diesen Dualismus verschärfen und den Überschuss gerade auf der einen Seite dieses Krisenverhältnisses akkumulieren: den Forderungen des Gemeinsamen.

Étienne Balibar: Ich will mit einer epistemologischen Reflexion der Gebrauchsweisen der Kategorie des »Gemeinsamen« beginnen. Das Erste – und ich denke nicht, dass Toni und ich hier verschiedener Ansicht sind, – ist, dass wir berücksichtigen müssen, dass das »Gemeinsame« eine Kategorie ist, die umfasst, was ich »Äquivokation« oder äquivoke Bedeutungen nenne: nicht nur eine Unterschiedlichkeit von Bedeutungen und Verwendungen, sondern eine dauerhafte Spannung zwischen entgegengesetzten Bedeutungen.

Ich sehe wenigstens drei Richtungen, in die eine Reflexion des Gemeinsamen gehen kann, die nach meiner Ansicht nie völlig aufeinander reduzierbar sind. Eine hat mit dem Problem der »Universalität« und des »Universellen« zu tun. Ich habe in der Vergangenheit argumentiert, der Begriff des Universellen sei in sich gespalten und konfliktgeladen. Besonders im Westen sei er hin- und hergerissen zwischen philosophischen und politischen Traditionen: auf der einen Seite zentriert auf die Idee verallgemeinerbarer Rechte der in dividuellen Person, verbunden mit einer gewissen Homogenität des Marktes oder einem gewissen System von Äquivalenzen, die den Markt beherrschen. Auf der anderen Seite verknüpft mit Ansprüchen und Versuchen, das Universelle in einer differenzierteren und daher dialektischen Weise zu denken. Das ist das Problem des Allgemeinen von Singularitäten, die letztlich in bestimmten Differenzen und Zuschreibungen wurzeln: Geschlechter, Rassen und Kulturen, die Entgegensetzungen von Gesundheit/Krankheit, das ganze Problem von Normalität und Abnormalität, wie immer es definiert wird. Ich sehe hier eine wesentliche Dimension, in die jede Reflexion des Gemeinsamen vorstoßen muss; sie muss, grob gesagt, versuchen, das Universelle als solches in Begriffen von Differenzen neu zu denken.

Das Universelle in diesem Sinn, das wesentlich eine regulative Idee bleibt, oder eine permanente Aporie, hat geringe Chancen, unmittelbar mit dem Projekt der Bildung eines Staates oder eines Systems von öffentlichen Institutionen zusammenzufallen. Oder es ist mit dem Problem konfrontiert, eine kommunitäre Dimension gesellschaftlicher Verhältnisse zu befördern, die viele Formen annehmen kann: nationale, religiöse und auch revolutionäre. Diese zwei Probleme betreffen das Öffentliche, den Bürger, ob mit dem Staat identifiziert oder kritisch in Bezug auf eine staatliche Dimension und die kommunitäre Dimension. Wiederum kann ich schwer erkennen, wie Menschen außerhalb von Gemeinschaften leben können, aber das Problem besteht darin, dass die Gemeinschaften wechselseitig inkompatibel sind, dass keine dieser Dimensionen auf die andere zurückführbar ist.

Kommunismus ist die dritte und rätselhafteste Richtung, in die ich eine Reflexion des Gemeinsamen vorstoßen sehe. Kommunismus ist ein Begriff oder eine Bezeichnung, die ich nicht verleugnen oder aufgeben würde – sei es auf der Ebene der Ethik, die du angesprochen hast, oder, noch tiefer gehend, auf der Ebene der Logik. Das Problem mit dem Kommunismus ist, dass er nicht nur ständig abgewertet und verachtet wird, sondern tief erschüttert und innerlich zerstört wird durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts; deshalb ist jeder Kommunismus-Diskurs nicht nur in Begriffen einer Alternative zur Ausbeutung und zu verschiedenen Formen der Unterdrückung – schließlich zum Kapitalismus – zu formulieren, sondern einer Alternative zur Alternative, wie sie geschichtlich verwirklicht wurde. Wenn sie nicht versteht, warum das – wie immer verzerrt –, auf marxschen Konzepten aufbauende kommunistische Projekt in seinem absoluten Gegenteil endete, wird sie nichts hervorbringen oder noch einmal zum Schlechten führen. Es lag nicht daran, dass Lenin und Stalin schlechte Kerle waren oder Mao ein gerissener Herrscher, der die Leute hinters Licht führte. Das Problem ist: warum verstanden die Massen, die »Multituden«, Kommunismus in dieser Weise und fanden sich daher selbst gefangen in der Unfä- higkeit, dem eine neue Orientierung zu geben, was sie für eine emanzipatorische Bewegung hielten und was sich als Weg in den Abgrund erwies? Wir versuchen, von diesem Standpunkt aus den Kommunismus neu zu denken: Toni auf seine Art, in einer Rückkehr zur christlichen Tradition (genauer: zur franziskanischen, dem einen großen »Kommunismus« in der Geschichte, dem Kommunismus der Armut, der Liebe und der Brüderlichkeit); und ich, indem ich auf eine radikale bürgerliche oder zivile Form vormarxistischen Kommunismus zurückkomme, den Kommunismus der »Gleichheit-Freiheit« (equaliberty). Das ist natürlich nicht der Kommunismus des Marktes. Das ist der Kommunismus der Leveller, von Blanqui und Babeuf. Eine politische Idee von Kommunismus, die seiner marxschen Fusion mit Sozialismus vorausging. Das ist, was wir alle tun, wenn wir darauf hoffen, uns kritisch mit den Äquivokationen des Begriffs des Gemeinsamen in unserer gegenwärtigen Welt auseinanderzusetzen. Die drei Dimensionen, die jede Reflexion des Gemeinsamen also beachten muss, sind: 1 | das Problem der Universalität im Werden; 2 | das Problem einer öffentlichen Sphäre jenseits des Staates, aber nicht notwendiger Weise jenseits von Bürgerschaft und Rechten; 3 | das Problem, wie mit den Gemeinschaften und ihren wechselseitigen Unvereinbarkeiten umzugehen ist.

Toni Negri: Étienne beleuchtet ein in der Tat schwerwiegendes Problem. Vielleicht kann eine realistische Bestimmung von Steuerung und ihrer inneren Gliederung uns weiterhelfen. Ich denke aber nicht, dass die Ideen oder Utopien des vormarxistischen Sozialismus und/oder Kommunismus uns dabei helfen, leichter eine Lösung zu finden, als die Ereignisse der Konfrontation mit den vom revolutionären Marxismus inspirierten Bewegungen. Selbst wenn man einen demokratischen Radikalismus, in glücklicher Synthese mit dem Marxismus, für die Grundlage hält, auf der Institutionen des Gemeinsamen errichtet werden können, könnten Widerstand gegen Ausbeutung und die Ausübung von Gewalt beim Aufbau von Freiheit und Gleichheit immer noch notwendig sein. Wie Rosa Luxemburg sagte: Irenik [Friedensstiftung] und die Errichtung einer Demokratie der Unterdrückten sind nicht immer im Einklang.

Meine Schlussfolgerung ist: Die gegenwärtige Wirtschaftskrise zeigt an, dass die Überwindung der kapitalistischen Herrschaft leichter sein könnte, als wir hofften. Es könnte sein, dass das Gleichgewicht der Steuerung gebrochen oder untergraben ist und das »Gemeinsame der Multitude« die Oberhand über den »Kommunismus des Kapitals« hat. Diese Situation wäre nicht tragisch: Es wäre einfach eine demokratische Lösung der Krise. Nehmen wir an, die politische Wissenschaft hat ausführlich die kapitalistische Regierung diskutiert; dann schlage ich vor, auf der Linie von Étiennes drittem Thema eine Diskussion des Problems neuer Institutionen des Gemeinsamen zu entwickeln. Wir könnten mit einer Kritik von Hegels Rechtsphilosophie anfangen, in der Hegel die Institutionen des objektiven, bürgerlichen und öffentlichen Geistes in drei großen Kapiteln über Familie, bürgerliche Gesellschaft und den Staat entwickelt. Vom Standpunkt des Gemeinsamen wäre eine kritische Debatte zu eröffnen über die Zukunft der Familie und ihre mögliche Zerstörung als ein Mittel der Identität in den Bereichen Erziehung, Reproduktion und Erbe (was für ein Monstrum!) angesichts der wirtschaftlichen Situation, und es wären angemessenere und glücklichere Formen der ehelichen und der Eltern-Kind-Verhältnisse zu umreißen. Statt Märkte und Unternehmen schlage ich vor, gesellschaftliche Produktion und ihre demokratische Organisation zu diskutieren; statt über Berufsverbände, Gewerkschaften und die »Hauptklassen« will ich über die Entstrukturierung von Kommunikationsnetzwerken und Wohlfahrt reden; an Stelle von Besitzindividualismus, Banken und Finanzkommunismus lasst uns über neue Formen der Hervorbringung des Menschen durch den Menschen nachdenken. All das muss geleistet werden, bis wir zu Vorschlägen gelangen und uns vorstellen können, wie eine neue Form von Recht aussähe, das nicht mehr öffentlich oder privat, sondern gemein (common) ist. Das scheint mir ein großes Arbeitsprojekt, das von vielen diskutiert und entwickelt werden muss.

Étienne Balibar […] Ich habe kein Problem mit der Vorstellung, es gebe ein unmittelbar politisches Element in der Organisation der Produktion, das auch eines von Kampf und Gewalt ist. Im Gegenteil, ich halte das für eines der wertvollsten und unbestreitbarsten Erbstücke der operaistischen Tradition. Deshalb habe ich auch keinen Einwand gegen die Idee, dass es keine »Distanz« zwischen dem Arbeitsprozess und den politischen Interventionen des Staates gebe, sondern eine direkte Wechselwirkung (das ist wieder etwas, das bis zu marxschen Passagen zurückverfolgt werden kann, die von der architektonischen Metapher von Basis und Überbau ausgehen, oder zum Erbe der hegelschen Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat). Diese Vorstellung wird noch bedeutsamer, wenn man wie Toni auf der Tatsache besteht, dass der Produktionsprozess nicht länger in den Raum der »Fabrik« oder des »Arbeitsplatzes«eingeschlossen ist. Es findet gerade so etwas wie eine neue Ära des »Herauspumpens« statt, die eine beträchtliche Erweiterung der Kategorie der (lebendigen) Arbeit einschließt.

Wenn ich sage, »ich sehe keine Politik bei Negri«, habe ich einen anderen Aspekt im Sinn. Für mich repräsentiert Tonis Philosophie eine extreme Form der Reduktion von »Gesellschaft« auf einen produktiven Organismus; ein extreme Form, jedes anthropologische Verhältnis (und jede Differenz) als eine Funktion menschlicher Arbeit zu verstehen (die natürlich einschließt, dass »lebendige Arbeit« eine sehr komplexe Wirklichkeit wird – tatsächlich eine Totalisierung des Menschen). Infolgedessen ist Tonis Haltung gegenüber der alten Problematik Sozialismus vs. Kommunismus recht eigentümlich: Er kritisiert harsch – zu Recht aus meiner Sicht – die Vorstellung eines »sozialistischen Übergangs« zum Kommunismus (»Goodbye, Mister Sozialismus!«), aber er treibt die Vorstellung ins Extrem, dass der Kommunismus oder das Auftauchen des Gemeinsamen aus der »Vergesellschaftung der Produktivkräfte« resultiert, deren »letzte« Stufe durch den Primat der »immateriellen« über die »materielle« Arbeit und die Wiedereingliederung der affektiven Dimension in die produktive Tätigkeit erreicht wird. Ich erhebe dagegen mit Nachdruck Einspruch, und das ist die Grundlage meiner Bemerkungen zu seiner impliziten Teleologie. Es scheint mir sowohl empirisch falsch als auch theoretisch verheerend, anzunehmen, alle Differenzen (sex/gender, normal/pathologisch, Kultur/ Rasse etc.) seien auf Differenzen innerhalb der »Arbeit« (oder, in stärker ethischen Begriffen, der »Hervorbringung des Menschen durch den Menschen«) zurückzuführen. Obwohl ich zugebe, dass sie sich in der Praxis ständig überlagern, denke ich, dass die Differenzen solche verschiedener Art bleiben; es gibt hier eine wesentliche Pluralität von Handlungspotenzen oder, im althusserschen Jargon, Überdetermination: nicht so sehr die Überdetermination von Basis und Überbau, sondern die der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Aus diesem Grund beziehe ich »Politik« nicht nur auf das Element Konflikt, sondern auf die Vielfältigkeit von Kämpfen, emanzipatorischen Werten, kollektiven Handlungsfähigkeiten, von denen der »gesellschaftliche Produzent«, wie immer wichtig, nur eine ist. Das ist auch einer der Gründe, warum ich glaube, dass heutige Radikale (einschließlich Toni selbst) »zurück gehen« auf vormarxistische Kommunismusmodelle: Es ist auch ein Weg, die Frage des Gemeinsamen aus dem onto-theologischen Absolutismus der Arbeit herauszulösen.

Das würde uns zu einer anderen interessanten Auseinandersetzung mit dem Institutionenproblem und mit dessen Verhältnis zu dem von mir so genannten Verzweigungs-Modell führen. Ich begrüße die Vorstellung, dass Kommunisten nicht bloß »Vorschläge« machen, sondern als eine »schöpferische« Kraft auftreten; doch sollten sich diese Vorschläge mit alternativen Institutionen beschäftigen. Der Marxismus ist traditionell beinahe unfähig gewesen, mit den Zwickmühlen der Institution (z.B. Partizipation vs. Repräsentation) umzugehen, selbst wenn diese eine Schlüsselrolle für seine eigenen politischen Erfahrungen gespielt hat (die »Partei«, die »gesellschaftliche Bewegung«, die »Räte« usw.). All das bezieht sich auf das Problem, Kommunismus und Demokratie wieder zusammenzuführen, wofür wir beide eintreten (mit einigen anderen, Rancière z.B.). Wir brauchen sicher eine gründliche Diskussion der Steuerung und der gouvernementalité. Ich stimme zu, dass die Gestalten des Politischen sich gegenwärtig wandeln, dass die Rolle des Nationalstaates, wie sie durch den keynesianischen Wohlfahrtsstaat auf die Spitze getrieben wurde, in Frage gestellt wird durch andere Strukturen, die eher auf Netzwerken als auf dem Territorium basieren. Aber ich bin erstaunt über die von Toni vorgebrachte Idee, die Finanz- und die transnationale Steuerung sollten zwar nicht weniger gewaltsam als die imperialistische Staatsmacht agieren, doch wenigstens eine günstigere Voraussetzung für die Errichtung (institution) des Kommunismus schaffen, wie die Finanzkrise zeige. Hier ersetzt wieder die Metaphysik der virtuellen Autonomie der Multitude die konkrete Analyse. Nicht nur scheint mir, dass die Einführung dieser Formen von Steuerung und der sie begleitende, alles durchdringende technokratische Diskurs nicht restlos und einfach die politische Zentralstellung des Staates und seine »Territorialisierungsfunktion« (die Krise zeigt auch dies) aufgelöst haben, sondern ich glaube, dass die neoliberale Steuerung Formen »reeller Subsumption« der Individualität unter kapitalistischen Verhältnissen entwickelt, die auch psychologische Dimensionen haben, oder dass sie »freiwillige Knechtschaft« hervorruft. Deshalb meine ich wirklich nicht, dass eine kommunistische Politik einfacher oder spontaner geworden ist als je zuvor. Hoffentlich ist nicht das Gegenteil der Fall: dass kommunistische Politik schwerer geworden ist. In jedem Fall ist das ein innerer Widerspruch, der bearbeitet werden muss, wenn der Diskurs des Gemeinsamen nicht als Wunschdenken erscheinen soll.

Meine Schlussfrage – über die wir, hoffe ich, weiter nachdenken, wenn wir von demokratischen Kräften oder von antikapitalistischen Bewegungen in dieser »globalisierten Welt« sprechen, heißt nicht: »Was ist Kommunismus?« (Wie wird er bestimmt? Wie ontologisch begründet? Was sind seine Grundlagen?), sondern eher »Wer sind die Kommunisten?« (daher auch: Wo sind sie? Was tun sie?). Ich erinnere daran, dass der Schlussabschnitt des Kommunistischen Manifests sich nicht einer Definition des Kommunismus, sondern einer »pragmatischen« Antwort auf diese Frage widmet: Wer sind die Kommunisten – d.h. was unterscheidet sie von den verschiedenen oppositionellen Parteien, was unterstützen sie, wofür stehen sie? Das ist in vieler Hinsicht der politischste Moment von Marx, über den Kommunismus zu schreiben, selbst wenn er die theoretischen Fragen nicht erschöpfend stellt. Die Passage legt auch nahe, dass das »Gemeinsame« wesentlich das Ergebnis einer politischen Praxis ist, die in einer besonderen historischen Konjunktur oder in einer »Differenz der Zeiten« situiert ist, besonders weil Marx auf der Tatsache beharrt, dass die »kommunistische Partei« nicht ihre eigene Agenda einbringt, sondern die mögliche Einheit aller »Bewegungen« gegen die herrschende Ordnung sichtbar macht. Diese Haltung scheint es mir wert, in unseren gegenwärtigen Diskussionen über eine kommunistische Wiedererweckung jenseits der »Katastrophe« des »real existierenden Sozialismus« wieder eingenommen zu werden. Die Kommunisten, in praktischen Begriffen bestimmt, sind nicht notwendiger Weise da, wo der Name Kommunismus gerufen wird. Wir können auch versuchen, darüber nachzudenken, wie wir reformulieren würden, was Marx als die zwei entscheidenden Dimensionen dieser Politik bezeichnete: die Kritik der Armut und die internationalistische Haltung. Für Marx war ihre Einheit in der Situation des Proletariats begründet. Für uns ist das problematisch geworden, viel zu eng für eine Bestimmung der Formen der Ausbeutung und Unterdrü- ckung, gegen die zu revoltieren ist. Jenseits der Kritik der Armut gibt es ein Problem, Arten und Weisen zu erfinden, die Existenzmittel zu »teilen« (sharing) und die subjektiven Dimensionen des Lebens zwischen den individuellen und kollektiven Polen der Persönlichkeit zu verteilen, die gleich notwendig sind (hier bleibt m.E. die Gleichheit-Freiheit eine wichtige Idee). Und jenseits eines Internationalismus, der eine Wiederholung des alten kosmopolitischen Ideals ist, in dem die Wurzeln von Nationalismus, Tribalismus, Rassismus, religi- ösem Antagonismus nicht angepackt werden (weil Marx dachte, diese »Ideologien« würden fürs Proletariat keine Rolle mehr spielen), gibt es ein Problem, einen neuen Kosmopolitismus zu schaffen, der insbesondere den Kampf der Kulturen in die gegenseitige Fähigkeit zur Übersetzung verwandelt (vgl. Das Argument 282). Ich bin versucht zu sagen, die Kommunisten, wie immer sie sich selbst nennen, sind die, die praktisch zu diesen Zielen, welche vielleicht nicht ganz isoliert sind, beitragen.

Gekürzte und redaktionell leicht bearbeitete Fassung von Anna Curcio und Ceren Özselçuk, »On the Common, Universality, and Communism: A Conversation between Étienne Balibar and Antonio Negri«, in: Rethinking Marxism, 22. Jg., 2010, H. 3, 312–28. Aus dem Englischen von Oliver Walkenhorst und Christian Wille

 

LITERATUR

Balibar, Étienne, 1994: Masses, classes, ideas: Studies on politics and philosophy before and after Marx, New York
Ders., 2002: Politics and the other scene, New York Das Argument, 2009: Ringen um Weltbürgerrechte, 282, mit Beiträgen von Wolfgang Fritz Haug, Étienne Balibar, Nira Yuval-Davis u.a.
Hardt, Michael, und Antonio Negri, 2002: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M
Dies., 2004: Multitude: Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/M Dies., 2010: Commonwealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt/M

Anmerkungen

1 Anm. d. Red: Der Anteil der notwendigen Arbeit im Verhältnis zur Mehrarbeit bestimmt sich nach einem – historisch umkämpften – gesellschaftlichen Durchschnitt der für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Bedürfnisbefriedigung, vgl. MEW 23, Kap. 7