| Transformative Macht: politische Organisierung im Umbruch

April 2015  Druckansicht
Von Hilary Wainwright

Der Artikel erschien bereits 2012 in einer längeren englischen Fassung unter dem Titel „Transformative Power: Political Organization in Transition“ in Socialist Register Vol.49.  Seine strategischen Fragestellungen, die also noch vor dem Sieg von SYRIZA bei den griechischen Parlamentswahlen im Januar 2015 formuliert wurden sind aber nach wie vor aktuell.

SYRIZA und die Dynamik gesellschaftlichen Wandels

Was SYRIZA von traditionellen linken Parteien unterscheidet, ist ihr besonderes Selbstverständnis: Die Partei will soziale Bewegungen nicht nur politisch repräsentieren, sondern ganz praktisch zu ihrem Aufbau beitragen. Kämpfe für soziale Gerechtigkeit direkt zu unterstützen und zu stärken hat entsprechend eine hohe strategische Priorität. In den Wochen nach dem ersten größeren Wahlerfolg im Juni 2012, in dem SYRIZA 71 Parlamentssitze erringen konnte, haben Führungsleute der Partei dies immer wieder betont. Es sei entscheidend, „den Menschen eine andere Vorstellung davon zu vermitteln, was sie erreichen können, und mit ihnen zusammen ein Gefühl für ihre potenzielle Macht zu entwickeln“, wie es Andreas Karitzis, einer der Schlüsselpersonen der Partei im Bereich politische Organisierung, in einem Gespräch formuliert. Der Partei gehe es zwar darum, die Staatsmacht zu übernehmen, dennoch sei klar, „dass das, was man in den Bewegungen und in der Gesellschaft vor der Machtübernahme tut, genauso auschlaggebend ist. 80 Prozent des angestrebten sozialen Wandels kann nicht von der Regierung ausgehen.“

Dies ist mehr als bloße Rhetorik. Diese Vorstellungen wirken sich direkt darauf aus, wie SYRIZA die beträchtlichen staatlichen Mittel einsetzt und verteilt, die sie aufgrund ihrer starken Parlamentsfraktion erhält. Ein großer Teil dieser neuen Gelder geht an lokale Solidaritätsnetzwerke. Damit werden zum Beispiel Menschen bezahlt, die sich um den Ausbau der Strukturen von sozialen Gesundheitszentren kümmern oder die neuen Ansätze eines direkten Austausches zwischen VerbraucherInnen und AgrarproduzentInnen in der Nahrungsmittelversorgung unterstützt. Die Mittel werden zwar auch genutzt, um die Partei im Parlament zu stärken, ein wesentlicher Anteil ist jedoch für die außerparlamentarische Arbeit von SYRIZA, also vornehmlich für den Aufbau von Organisationen des gesellschaftlichen Wandels, vorgesehen. Von den fünf Angestellten, die den Abgeordneten zuarbeiten, sind nur zwei direkt für deren Unterstützung zuständig. Eine weitere koordiniert die Ausschussarbeit, in der ParlamentarierInnen und ExpertInnen aus der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Die anderen beiden sind direkt in den Bewegungen und lokalen Initiativen tätig. Hinter dieser Prioritätensetzung steht ein Lernprozess, der die Erfahrungen von linken Parteien in anderen europäischen Ländern widerspiegelt. Hier haben die parlamentarischen Institutionen mit all ihren Ressourcen und Privilegien die Parteien zunehmend von den sozialen Bewegungen entfernt, als deren politisches Sprachrohr sie ursprünglich angetreten waren.

Seit ihrer Gründung im Jahr 2004[i] – dem Höhepunkt der globalisierungskritischen Bewegungen, die in Griechenland besonders wirkmächtig waren – ist die Unterstützung von gesellschaftsverändernden Bewegungen für SYRIZA mindestens genauso wichtig wie der Wahlerfolg. Das europäische Sozialforum und später das griechische Sozialforum haben hier zentrale Lernprozesse angestoßen. Sie haben nicht nur dazu beigetragen, dass die Partei die Grenzen von staatlicher Macht in Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen strategisch klar erkennt. Sie haben auch zu einem bewussten Bezug auf pluralistische Werte, zur Betonung von gegenseitigem Respekt und zu einer Offenheit gegenüber neuen politischen Ausdrucksformen und Erfahrungen geführt.

Dies zeigt sich auch in der Reaktion SYRIZAs auf die Jugendrevolte im Dezember 2008, die durch die Erschießung Alexandros Grigoropoulas’ durch die Athener Polizei ausgelöst wurde. An keiner Stelle hat die Partei hier versucht, ihre Linie durchzusetzen oder die Kontrolle zu übernehmen. Ähnlich war es auch 2011, als sich Massenproteste auf dem Syntagma-Platz und an anderen Orten formierten.

Aktivistinnen und Aktivisten von SYRIZA, die zahlreich an diesen Protesten teilnahmen, brachten hier ihre eigenen Grundsätze ein – etwa das Prinzip, keine migrantenfeindlichen Parolen zu akzeptieren – und setzten sich zusammen mit anderen, etwa den AnarchistInnen, in öffentlichen Diskussionen für praktische Lösungen ein. Kurz vor Beginn der Syntagma-Proteste hielt die Jugendorganisation von Synaspismos einen Workshop ab, um diesen nicht instrumentellen, aber auf Prinzipien beruhenden Ansatz zu erläutern und zu diskutieren.

SYRIZA als Bündnis ist außerdem davon geprägt, dass hier verschiedene politische Kulturen, Generationen und Traditionen aufeinandertreffen. Die jüngere Generation, also diejenigen, die heute Ende Zwanzig, Anfang Dreißig sind, stieß zu einem Zeitpunkt zur Linken, als es keine „real existierende Alternative“ gab. Die ältere Führungsriege war Teil des Widerstands gegen die Diktatur (1967 bis 1974), viele von ihnen zählten zu den linken EurokommunistInnen in den 1980er Jahren. Beide Generationen waren in der globalisierungskritischen Bewegung aktiv und auf den Sozialforen präsent. Die kollektive Wissensproduktion und Kultur der – griechischen wie internationalen – globalisierungskritischen Bewegungen in den 1990er war prägend für die SYRIZA-AktivstInnen. Die Sphäre der Bewegungen ist für sie damit zunächst der Raum, in dem sie persönlich und politisch sozialisiert wurden – nicht der Raum, in den sie von außen „interveniert“ haben, um eine anderswo ausgearbeitete Alternative zu propagieren.

Es geht den Aktivistinnen und Aktivisten von SYRIZA auf allen Ebenen ausdrücklich darum, über den reinen Protest hinauszukommen und gemeinsam überzeugende Alternativen für all diejenigen Menschen zu entwickeln, die unzufrieden mit dem korrupten griechischen Staat und der Troika von EU, IWF und EZB sind. Entsprechend liegt ein Schwerpunkt auf der Unterstützung von Initiativen, die bereits hier und heute in der Lage sind, etwas zu verändern, anstatt nur auf den Wahlsieg von SYRIZA zu setzen. Auf die Zerstörung des öffentlichen Gesundheitssystems durch immer mehr Sparmaßnahmen reagierten die bei SYRIZA organisierten ÄrztInnen und Pflegekräfte so mit dem Aufbau einer alternativen medizinischen Notfallversorgung. Gleichzeitig kämpfen sie für eine kostenlose Versorgung in öffentlichen Krankenhäusern und um die Aufrechterhaltung bestehender Gesundheitsdienste. SYRIZA ist es zudem gelungen, wohlgesonnene MitarbeiterInnen der Schulbehörden mit LehrerInnen, ExpertInnen und Eltern-VertreterInnen an einen Tisch zu bringen, um gemeinsame Reformvorschläge zu erarbeiten. Hier geht es auch darum, das verschüttete Potenzial derjenigen StaatsbeamtInnen freizusetzen, die mit ihrer Arbeit tatsächlich einen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten wollen. SYRIZA befasst sich darüber hinaus intensiv mit den Ansätzen der sozialen und kooperativen Ökonomie im Land, um auszuloten, wie diese bereits heute politisch unterstützt werden kann. Hier geht es vor allem um die Frage, welche Förderung dieser Sektor nach einer Regierungsübernahme SYRIZAs erhalten soll. Die Art und Weise, wie SYRIZA auf die zunehmende Selbstorganisierung inmitten der Krise und auf die vielen neuen Projekte solidarischen Wirtschaftens reagiert, zeigt, dass sie deren Potenziale für eine alternative Gesellschaftsentwicklung wahrnimmt und anerkennt. Dies erinnert an das, was André Gorz mit seinem Konzept nicht-reformistischer Reformen schon in den frühen 1960er Jahren einforderte: Ansätze, die es „der arbeitenden Bevölkerung ermöglichen, Sozialismus nicht nur als etwas für das transzendentale Jenseits zu betrachten, sondern als ein heute bereits in der Praxis erreichbares Ziel“ (Gorz 1964, 7).

Als Alexis Tsipras öffentlich erklärte, die Partei sei auf der Grundlage einer eindeutigen Ablehnung des wirtschaftspolitischen Memorandums[ii] bereit, die Regierungsverantwortung zu übernehmen, führte dies bei den SYRIZA-AktivistInnn zu einer Fokussierung ihrer Anstrengungen und zu mehr organisatorischer Disziplin. Der vorherrschende Bewegungsstil und die damit verbundene Organisationskultur wurden immer mehr abgelöst von einer zielgerichteten politischen Kampagne, in der sich die Loyalitäten gegenüber einzelnen Gruppierungen oder Flügeln im SYRIZA-Bündnis abschwächten und eine neue Geschlossenheit entstand. Zugleich wuchs aber auch Kritik an einer Intransparenz von internen Entscheidungen und Machtverhältnissen. Es gibt Bedenken, dass sich diese durch einen Machtgewinn der große Gruppe von ParlamentarierInnen noch verstärken könnte. Auch die Gefahr einer zunehmenden Abhängigkeit der Partei vom Prominentenstatus Tsipras‘ und einer damit verbundenen Schwächung der innerparteilichen Demokratie und Debattenkultur (vergleichbar dem Beispiel Lulas in Brasilien oder Papandreous im Griechendland der frühen 1980er Jahre) wird hier klar erkannt. Obwohl Einigkeit darüber herrscht, den Anspruch auf die Regierungsmacht geltend zu machen, wird darüber nachgedacht und gestritten, wie die Führungsverantwortung geteilt werden kann, wie die Rechenschaftspflicht gegenüber der Basis erhalten und wie eine kritische Debattenkultur sowie eine strategische Radikalität bewahrt werden können. Kurz: Wie vermieden werden kann, dass SYRIZA als eine zweite Pasok endet.

Von atomistischer zu gesellschaftlicher Repräsentation

Die Erfahrungen von SYRIZA geben vielen aktuellen Diskussionen in der globalisierungskritischen Bewegung einen praktischen Fokus: Ist es möglich, sich in liberalen Demokratien im Rahmen des politischen Systems zu engagieren und es zugleich zu bekämpfen? Ist es sinnvoll, politische Repräsentation zu mehr als nur zu Propagandazwecken anzustreben und wenn ja, welche Form der politischen Organisation eignet sich dafür? SYRIZAs Antwort ist eine zweigleisige Strategie und Praxis: Das Bündnis strebt einerseits Regierungsmacht an, setzt sich andererseits aber zugleich dafür ein, unabhängig vom politischen System gesellschaftsverändernde Kräfte zu stärken. Dies wirft von Neuem die Frage auf, ob Wahlen eine Hoffnung auf soziale Transformation bieten können oder eine fortdauernde Quelle der Desillusionierung und Entfremdung bleiben. Es geht darum, ob die Repräsentation im existierenden Institutionengefüge mit den Anstrengungen, diese Institutionen zu verändern, zusammenwirken und so den weiter reichenden Kampf für ein wie auch immer geartetes Ende der kapitalistischen Herrschaft stärken kann – eine Herrschaft, die durch die Macht der Finanzmärkte und der privaten Banken und Konzerne auf Engste mit staatlichen Institutionen verflochten und durch diese abgesichert ist.

Meine Antwort fällt positiv aus, ist aber an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. Organisatorisch und kulturell ginge es im weitesten Sinne darum, von einem gesellschaftlichen und situierten Verständnis von Bürgerschaft (citizenship) auszugehen – in einer von zunehmender Ungleichheit durchzogenen Gesellschaft. Dies würde bedeuten, sich auf Wahlen und die damit verbundenen Auseinandersetzungen einzulassen, zugleich aber die Grenzen in der aktuellen Form des universellen Wahlrechts aufzugreifen und zu kritisieren: Es bietet eine abstrakte, rein formale politische Gleichheit in einer Gesellschaft, die durch grundsätzliche Ungleichheit gekennzeichnet ist.

Viele besitzlose Frauen und Männer und ihre Verbündeten, die in der Vergangenheit das Wahlrecht erstritten haben, sahen die zentrale Aufgabe parlamentarischer Politik darin, ungleiche und ausbeuterische Beziehungen aufzudecken, zu bekämpfen und zu überwinden. Für die Reformbewegung der ChartistInnen und für viele Sufragetten eröffnete das Wahlrecht eine neue Phase des politischen Kampfes, es war nichts, auf dem man sich ausruhen konnte. Für sie bedeutete politische Repräsentation ein Mittel, um Kämpfe gegen soziale und ökonomische Ungleichheit im politischen System sichtbar zu machen. Die Fähigkeit des britischen Establishments, diese potenzielle Dynamik einzuhegen – häufig in enger Zusammenarbeit mit der parlamentarischen Führungsriege der Labour Party und den Gewerkschaftsbossen – ist gut dokumentiert. Sie steht stellvertretend für ein gängiges Phänomen, das wir auch aus anderen liberalen Demokratien kennen: eine eingeschränkte Form der Repräsentation, bei der die BürgerInnen in einer völlig abstrakten Weise als Individuen adressiert werden und nicht als Teil von komplexen, zunehmend ungleichen gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen. In einem solchen politischen Prozess werden Ungleichheiten somit eher verschleiert als aufgedeckt und die ökonomische Macht privater Akteure wird eher geschützt als infrage gestellt.

Aus diesem Grund müssen wir anerkennen, dass die Abschaffung der Ungleichheiten von Klassenzugehörigkeit, ethnischer Herkunft, Geschlecht etc. weiter reichender Macht- und Wissensressourcen bedarf, die über die Möglichkeiten des Staates hinausgehen. Der Auftrag besteht dann darin, aus den (faulen) Kompromissen der Vergangenheit – auf nationaler wie lokaler Ebene – zu lernen und diese nicht zu wiederholen.

Politische Organisierung im Umbruch

Der Ansatz SYRIZAs lässt sich als Beispiel lesen für einen Übergang von staatszentrierten Vorstellungen von Sozialismus hin zu einem Verständnis von transformativer Macht, die in der Gesellschaft organisiert werden muss. Die Regierung, das heißt der nationale oder auch lokale Staat, bleibt dabei bedeutsam: Nicht als zentraler Motor des Wandels, aber als eine Instanz mit spezifischen Kompetenzen und Befugnissen. Regierungen können Land und finanzielle Ressourcen umverteilen und öffentliche Dienstleistungen sicherstellen. Damit können sie die widerständigen und gesellschaftsverändernden Aktivitäten von BürgerInnen unterstützen – auf eine Weise, die sich direkt gegen das Kapital richtet und zugleich die gesellschaftliche Selbstorganisierung voranbringt und damit die Voraussetzung für eine dezentrale und demokratische Verwaltung von öffentlichen Ressourcen im Sinne von „Commons“ schafft .

Über die letzten vier Jahrzehnte ist das Konzept des Politischen stark ausgeweitet worden und umfasst die Transformation von unterschiedlichen gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Viele der Initiativen, die in diesem Sinne politisch agieren, fokussieren auf ein spezifisches Terrain sozialer Beziehungen, verbinden damit jedoch weiter reichende Visionen und Wertvorstellungen. Ein zunehmend wichtiger Aspekt dieses breiten Politikverständnisses ist der Fokus auf konkrete Alternativen im Hier und Jetzt. Die politische Praxis soll damit nicht nur auf einen anderen Gesellschaftsentwurf in der Zukunft verweisen, sondern ganz unmittelbar eine Dynamik des gesellschaftlichen Wandels in Gang setzen.

Unter den aktuellen Bedingungen stellt sich die Frage der Organisation jedoch völlig neu. Die politischen Niederlagen der traditionellen Arbeiterorganisationen, die gesellschaftlich verheerenden Auswirkungen des Neoliberalismus und nicht zuletzt die radikalen Umbrüche in Technologie und Produktionsweisen haben zu extremer gesellschaftlicher Fragmentierung und Atomisierung geführt. Die Herausforderung, unter diesen Bedingungen konkrete und zugleich zukunftsweisende Veränderungen anzustoßen, stellt sich nicht nur staatlichen Akteuren, sondern uns allen, die wir neue Formen der Selbstorganisierung entwickeln müssen. Beispiele einer solchen Praxis finden sich in verschiedenen Anti-Privatisierungs-Kampagnen, die für alternative Eigentumsformen streiten. Ihr Ziel ist es, aktuelle gesellschaftliche Reformen mit weiter reichenden Perspektiven für eine andere Zukunft zu verknüpfen. Der Vermarktlichung von öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen wird hier die Verteidigung und Wiederentdeckung des Gemeinwesens entgegengesetzt. Dabei werden nicht nur andere Eigentumsverhältnisse, sondern auch andere, demokratischere Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen eingefordert.

Diese Kampagnen können sich nicht auf die alten Organisationen der Arbeiterbewegung stützen. Vielmehr sind sie Ergebnis beträchtlicher organisatorischer Innovationen und basieren auf einem komplexen Beziehungsgeflecht, in dem die Gewerkschaften nur ein Akteur unter vielen sind und die traditionellen Arbeiterparteien kaum eine Rolle spielen. Dies verdeutlicht einmal mehr die Notwendigkeit einer Neuausrichtung der Gewerkschaften: Von einem Instrument defensiver Lohnverhandlungen hin zu Organisationen, die das Wissen der ArbeiterInnen bündeln und für eine bedürfnisorientierte Re-Organisation von Produkten und Dienstleistungen streiten. Hybride Organisationsformen, die sich aus alten und neuen Elementen zusammensetzen und durch ein gemeinsames Ziel zusammengehalten werden, werden hier in der Zukunft von entscheidender Bedeutung sein.

Um den gegenwärtigen Wandel von Organisationsformen zu verstehen, sind zwei Merkmale besonders wichtig. Zum einen geht es um die Bedeutung von Kommunikation. Organisierung hat zum großen Teil mit Kommunikation und ebenso mit Entscheidungsfindung und Disziplin zu tun. Die neuen Kommunikationstechnologien bieten uns hier eine größere Vielfalt an Formen und Instrumenten der Zusammenarbeit. Sie erleichtern die Koordinierung von Netzwerken auf der Grundlage von gemeinsamen Zielen und geteilten Werten und lassen eine Vielzahl von Taktiken und organisatorischen Formen zu, die kein Zentrum im klassischen Sinne mehr benötigen. Solche Netzwerkansätze transformativer Politik gab es schon vor den neuen Technologien, ihnen stehen nun jedoch mehr und andere Möglichkeiten offen, die die Vorstellungen von politischer Organisierung beflügeln, aber auch neue Probleme mit sich bringen.

Das zweite damit eng verbundene Merkmal ist ein neues Verständnis von Wissen in diesen Prozessen. Die Ausbreitung von diversen miteinander vernetzten Formen der Organisation begünstigt Initiativen mit einem pluralistischen Konzept von Wissen. Dies geht unter anderem auf Kämpfe von sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren, insbesondere die der Frauenbewegung, aber auch der radikalen Gewerkschaftsorganisationen zurück. Es ist darüber hinaus in vielen Regionen des globalen Südens verbreitet, wo es mit der Tradition der „Volksbildung von unten“ verknüpft ist und von politischen Graswurzelorganisationen vertreten wird.

Diese radikal andere Auffassung von Wissen war zentral für die Verschiebung weg von einem staatszentrierten, hin zu einem gesamtgesellschaftlich orientierten Konzept von Transformation. In der Praxis der sozialen Bewegungen der 1970er Jahre waren es die kreativen Fähigkeiten und das Alltagswissen der sogenannten kleinen Leute, die der wissenschaftlichen Verwaltung und Rationalität der fordistischen Fabrik und dem zentralistischen, professionellen Wissen des fabianistischen sozialdemokratischen Staates entgegengesetzt wurden. In den rebellischen Jahrzehnten der „ausschweifenden Demokratie“ spielte die Erkenntnis, dass sowohl Erfahrungs- als auch theoretisches Wissen von Bedeutung sind, eine wichtige Rolle und führte zu Diskussionen über mehr Mitbestimmung und partizipatorische Demokratie. Damit änderte sich auch der Rahmen von politischen Programmen. In die Entwicklung von politischen Ideen und Forderungen waren von nun an viel mehr Menschen einbezogen. Damit wird nicht mehr allein über staatliche Reformen, sondern auch über alternative Praktiken diskutiert, die diesen häufig zugrunde liegen. In gewisser Weise werden viele Funktionen, die man üblicherweise mit einer politischen Partei verbindet, heute von einer Vielzahl von Akteuren ausgeübt, die bestimmte Werte teilen.

Um die Bedeutung dieser komplexen Anforderungen für heutige politische Organisationsformen zu begreifen, sollten wir zwischen verschiedenen Ebenen des politischen Handelns unterscheiden. Der Aufbau eines Netzwerkes von sozialen Zentren oder eines Aktionsbündnisses aus Community- und Gewerkschaftsorganisationen erfordert nicht das gleiche Maß an Entschlossenheit und Einigkeit wie etwa der Wahlkampf einer politischen Partei, sondern bedarf insbesondere eine Berücksichtigung von Diversität und lokalen Bedürfnissen. Die Frage der politischen Organisierung sollte also nicht losgelöst vom jeweiligen Zweck oder Ziel behandelt werden. Darüber hinaus gibt es keinen zwingenden Grund, warum verschiedene Akteure und Organisationen, die gemeinsame Werte teilen, Teil eines einzigen politischen Gefüges sein müssen. Es gibt eine Vielfalt von Möglichkeiten, wie gemeinsame Werte vermittelt und geteilt werden können.

Es bleiben aber eine Reihe von ungelösten Problemen und offenen Fragen. Eines davon habe ich bereits zu Beginn angesprochen: das Problem der Repräsentation innerhalb des politischen Systems und die Frage, wie diese für die Umverteilung von Ressourcen und Macht nutzbar gemacht werden kann. Hierfür bedarf es tatsächlich besonderer Formen der politischen Organisation. Kehren wir an dieser Stelle noch einmal kurz zu meinen theoretischen Überlegungen zurück, die den gängigen Repräsentationsansatz kritisieren und versuchen, die BürgerInnen nicht als atomisierte Individuen mit einer abstrakten politischen Gleichheit, sondern in ihrer Einbettung in konkrete und äußert ungleiche gesellschaftliche Beziehungen zu betrachten, das heißt als Arbeiterinnen und Arbeiter, als in mehrfacher Hinsicht Enteignete, als Frauen, als ethnische Minderheiten, Behinderte usw. Welche Strategien und organisatorischen Formen eignen sich am besten, um diese Formen der Ungleichheit sichtbar zu machen und die politischen Ressourcen zu ihrer Überwindung zu erlangen? Ich habe bereits darauf verwiesen, dass parlamentarische Demokratien dazu neigen, Ungleichheiten zu verschleiern oder gar zu verstärken, wenn sie nicht direkt angegriffen werden. Dies wird noch dadurch forciert, dass zentrale Entscheidungen immer häufiger undurchsichtigen nationalen und internationalen Gremien übertragen werden, die niemanden gegenüber rechenschaftspflichtig sind und so zentrale Auseinandersetzungen um die Zukunft der Gesellschaft gewissermaßen depolitisieren. Dieser Trend wird häufig mit der neoliberalen Globalisierung in Verbindung gebracht, ist aber typisch für liberale Demokratien: Man überlässt die wichtigsten Themen, die die Zukunft der Armen betreffen, dem kapitalistischen Markt.

Hier ist es interessant, Beispiele von Gegenstrategien zu betrachten, wie sie etwa 1981 in London von der lokalen Labour-Regierung oder im brasilianischen Porto Alegre Ende der 1980er Jahre entwickelt wurden. Dort wurde auf der kommunalen Ebene eine Zusammenarbeit mit denjenigen gesucht, die sich direkt gegen Ungleichheiten zur Wehr setzen: durch die Beteiligung von Armenorganisationen in den Favelas an sogenannten Bürgerhaushalten, durch die Einbindung der innerstädtischen Communities in London in die Formulierung und Umsetzung bezirklicher Planungsprozesse sowie dadurch, dass man ihre Interessen und Forderungen gegen HauseigentümerInnen und BauunternehmerInnen unterstützte. Dies war eine Form der politischen Repräsentation, die auf dem Auftrag der WählerInnen beruhte und daher mit einer klaren Rechenschaftspflicht verbunden war. Dennoch stießen diese Ansätze an Grenzen. Man verfügte zwar über spezifische Machtressourcen, über ein umfangreiches Wissen und über die notwendigen organisatorischen Strukturen. Es fehlte jedoch an ausreichender politischer Unterstützung, um die politischen Ziele tatsächlich durchzusetzen. Meiner Ansicht nach prallen in der politischen Repräsentation unter solchen Rahmenbedingungen vollkommen gegensätzliche Konzepte und Formen der Organisierung von politischer Macht aufeinander. So handelt es sich um organisatorische Formen, die im politischen System die verschiedenen gesellschaftlichen Konflikte und Kämpfe sichtbar machen und präsent halten können. Dies verleiht dem Auftrag der WählerInnen Nachdruck, indem die Einlösung versprochener Reformen eingefordert und der politische Prozess kritisch begleitet wird. Solche Formen der politischen Repräsentation treffen jedoch auf etablierte Institutionen, die die Ungleichheiten und Probleme und damit das Angriffsziel dieser Kämpfe als selbstverständlich erachten und jenseits ihrer Verantwortlichkeit verorten.

Politische Organisationen, die diese äußert konflikthafte Form der gesellschaftlichen Repräsentation  umsetzen und durchhalten wollen, müssen sich entsprechend vorbereiten und überlegen, wie sie den Forderungen und Ansprüchen von sozialen Bewegungen gerecht werden und sie politisch artikulieren können. Dies ist wesentlich schwieriger und komplexer, als einfach „die Stimme“ dieser Kämpfe zu sein. Was also macht eine solche Organisation aus, was sind ihre Voraussetzungen? Es handelt sich um eine politische Partei in dem Sinne, dass politische Repräsentation und Regierungsämter angestrebt werden. Aber die Partei oder die Parteien, um die es hier geht, wären von einem ganz bestimmten Typus, wie wir ihn in der Realität noch nicht wirklich kennengelernt haben. Wie bereits erläutert, bedarf es einer Vielfalt in der politischen Organisierung, um das Ziel eines radikalen gesellschaftlichen Wandels zu erreichen. Aus diesem Grund muss die Partei Teil eines Zusammenschlusses oder einer Konstellation von mehreren Organisationen sein, die außerhalb der politischen Institutionen agieren und mehr oder minder explizit dieselben Werte und Ziele teilen.

Diese neuartigen Parteien müssten sich zweitens tatsächlich dem Willen der WählerInnen und den im Rahmen dieser größeren Konstellation formulierten Zielen verpflichten. In organisatorischer Hinsicht wäre vor allem für ausreichend Transparenz zu sorgen und dafür, dass sich die Partei und ihre Abgeordneten tatsächlich verantwortlich für ihr Handeln zeigen. Drittens müsste die Parteiorganisation sicherstellen, dass ihre Mitglieder, auch diejenigen mit Repräsentationsfunktionen, am Aufbau von außerparlamentarischen Bewegungen als den potenziellen Trägern eines radikalen gesellschaftlichen Wandels beteiligt sind. Wie uns das Beispiel SYRIZAs gezeigt hat, müssen diese dort keine Führungspositionen übernehmen. Es reicht, wenn sie dort als gleichberechtigte AktivistInnen auftreten und ihre besonderen Macht- und Wissensressourcen beisteuern und mit den anderen teilen. Eine solch neuer Typus von Partei benötigt außerdem besondere organisatorische Formen, die verhindern, dass Abgeordnete vom politischen System eingesogen werden und sich zu einer separaten politischen Klasse entwickeln. Hier ist der Blick auf die bereits erwähnten historischen Beispiele aufschlussreich. Sowohl im Falle des von der Labour Party kontrollierten Greater London Council (GLC) wie auch im Fall der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) gelang es nicht, eine langfristige Präsenz der sozialen Bewegungen aufzubauen und ausreichend staatliche Ressourcen für soziale Kämpfe bereitzustellen. Im Fall der Labour Party hatte dies mit der Schwäche, im Fall der PT mit der Schwächung der organisierten Verbindungen zwischen Partei und Gesellschaft zu tun. Dies sind Lehren, die SYRIZA berücksichtigen sollte.

Viele linke politische Parteien waren vor allem in ihrer Gründungsphase stark von sozialen Bewegungen geprägt und sind es in Teilen immer noch. Bei der PT waren das die demokratischen Bewegungen, die gegen die Diktatur und die oligarchische Herrschaft in Brasilien kämpften. Die Labour Party der frühen 1980er Jahre stand unter dem Einfluss der späten und gewissermaßen gereiften sozialen Bewegungen aus den 1960er und 1970er Jahren. SYRIZA ist vielleicht eine der ersten politischen Parteien, die vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich von Bewegungen geformt worden ist, die sich gegen den neoliberalen Kapitalismus und gegen abgehobene politische Eliten richten. Die SYRIZA-Abgeordnete Theano Fotiou beschrieb den Zweck, den die Strukturen der neuen Partei erfüllen müssen, mir gegenüber folgendermaßen: „Es muss eine Struktur sein für die Bevölkerung, die sie immer mit der Partei in Verbindung hält, selbst wenn sie nicht Parteimitglied sind, die es ihnen erlaubt, die Partei zu kritisieren und neue Erfahrungen dort hineinzutragen.“

Es ist in den vergangenen Jahren gelungen, in Griechenland ein linkes Bündnis aufzubauen, dem sich fast zwei Millionen Menschen verbunden fühlen, trotz – oder zum Teil gerade wegen – der dezidierten Versuche, Angst vor diesem Bündnis zu schüren. SYRIZA hat all dies erreicht, weil aus Erfahrungen in Griechenland und in ganz Europa gelernt wurde. Offensichtlich können auch wir, die wir unsere Kräfte bündeln, um gegen die Austeritätspolitik und für nicht-reformistische Reformen eines demokratischen und gerechten Europas zu streiten, eine Menge von SYRIZA lernen.

 Aus dem Englischen von Britta Grell

 

Literatur

Gorz, André, 1964: Strategy for Labor: A Radical Proposal, Boston

 

Anmerkungen

[i]  SYRIZA wurde 2004 zunächst als Wahlbündnis aus der postkommunistischen Partei Synaspismos sowie kleineren politischen Gruppen gegründet und wandelte sich im Mai 2012 zu einer einzigen Partei [Anm. d. Red.].

[ii] Das Memorandum of Understanding ist die 2010 von der konservativen Regierung Griechenlands mit dem IWF, der EU-Kommission und der EZB geschlossene Vereinbarung, in der die Umsetzung austeritätspolitischer Maßnahmen als Bedingung für die Vergabe von Krediten festgeschrieben wurde [Anm. d. Red.].