| Alle Artikel von Tadzio Müller

| Trumpiness

Januar 2017
von Tadzio Müller

»Postfaktisch« ist das Wort des Jahres und ein mythomanischer Protofaschist wurde ins Weiße Haus gewählt. (Fast) die Mehrheit der US-Wähler*innen unterstützte Donald Trump, obwohl er ständig der Halbwahrheiten und eklatanten Lügen überführt wird. Warum ist das so?

Eine Erklärung ist, dass es sich um eine Reaktion auf die Ungleichheit in den USA, den Legitimitätsverlust des Systems und die Arroganz der Elite handelt. Das trifft sicher zu, ist jedoch bestenfalls eine Teilerklärung. Woher käme sonst der frenetische Jubel bei den Wahlveranstaltungen von Trump? Wäre er lediglich der Kandidat des Anti-Establishments, hätten die Leute auch die Grüne Jill Stein oder den libertären Gary Johnson unterstützen können.

Eine weitere Interpretation wäre, dass Politiker*innen immer lügen, Leute diesen Lügen auf den Leim gehen und Trumps Lügen die reaktionären Ansichten seiner Unterstützer*innen bedienen. Das mag auf einen Teil seiner Basis zutreffen, gilt aber sicher nicht für alle Trump-Wähler*innen. Und es ignoriert eine häufig beschriebene Tatsache: »Viele seiner Unterstützer glauben die wilden Behauptungen von Trump nicht – aber es ist ihnen egal«, wie die Washington Post schreibt (Johnson 2016). Sie unterstützen ihn nicht wegen, sondern trotz seiner Positionen. Ihnen geht es nicht um ›Inhalte‹, was wiederum erklärt, warum es Trump nicht schadet, wenn er der Lüge überführt wird.

post-truth-politics

Es geht um viel mehr als einen lügenden Politiker. Trumps politischer Diskurs ist ein ideales Beispiel dessen, was in Deutschland postfaktische Politik genannt wird. Der englische Begriff post-truth politics, also Postwahrheitspolitik, geht aber darüber hinaus – denn Wahrheiten sind mehr als Tatsachen. Während der deutsche Begriff den Eindruck vermittelt, dass hier lediglich bestimmte Fakten infrage gestellt werden, der bürgerlich-aufklärerische Kontext, in dem diese existieren, aber weiter besteht, so verweist der englische Begriff darauf, dass der ganze konzeptionelle Rahmen, in dem Fakten erst Sinn machen, ins Wanken gerät. Trumps politische Statements artikulieren keine klassischen Wahrheitsansprüche mehr. Deshalb können sie auch nicht mit den traditionellen Waffen der Ideologiekritik bekämpft werden. Für eine Konstellation, in der Trump inhaltlich sagen kann, was er will, um im nächsten Atemzug das Gegenteil zu behaupten – und in der ihm dies nicht schadet –, hat der Comedian Stephen Colbert in seiner Satiresendung »Late Show« den Begriff »Trumpiness« geprägt (Colbert 2016).

Dieser neuerliche Strukturwandel der Öffentlichkeit bedarf mehr als einer bloß technischen Erklärung à la ›Filterblasen in sozialen Medien‹. Er ist eminent politisch: Das Establishment hat die politische und mediale Wahrheitsproduktion wissenschaftlich und durch unzählige ›Expertenrunden‹ untermauert, um über Jahrzehnte eine Politik gegen die Interessen der gesellschaftlichen Mehrheiten durchzusetzen. Wahrheiten wurden so für viele gefährlich, wurden zu einer abzulehnenden Ideologie. So konnte der Tory Michael Gove im Brexit-Wahlkampf behaupten: »Die Leute haben genug von Experten!«

Die Unterstützer*innen Trumps folgen keinem Kandidaten, der sein politisches Programm rational begründet, der an ihre ökonomischen Interessen appelliert. Sie folgen einem, der fühlt, was sie fühlen, die Wut und die Enttäuschung, aber vor allem und vielmehr: das Begehren nach Anerkennung, danach, wieder dazuzugehören, etwas zu sein – über Handlungsmacht zu verfügen. »Make America(ns) feel great again.« Für Colbert ist Donald Trump deshalb der Politiker der Zeit: »ein emotionales Megafon für Wähler voller Wut« (ebd.). Sein Agieren stellt affektive Resonanzen her. Seine Unterstützer*innen bejubeln nicht den Inhalt seiner Sätze, sondern die Tatsache, dass dort jemand steht, der ihnen ein Gefühl von Stärke und Relevanz gibt, das sie seit Jahrzehnten nicht mehr gespürt haben. Owen Jones erinnert uns daran, dass Wähler*innen vor allem durch »moralische Identitäten und Werte« motiviert würden, auch wenn dies bedeutet, gegen ihre ökonomischen Interessen zu stimmen. Die Linke, so Jones jüngst im Guardian, lebte dagegen oft im Irrglauben, »dass es ausreichen würde, den Leuten die Fakten ins Gesicht zu schreien«, um sie zu überzeugen (Jones 2016).

Trotz alledem im Lebensrausch

Natürlich ist das alles nicht neu. Schon Spinoza argumentierte im »Tractatus politicus«, dass Menschen »mehr von Leidenschaft als Vernunft geleitet sind«. Es stellt aber die Linke vor enorme Herausforderungen. Wir können die rationale Begründung unserer Politik nicht preisgeben und müssen sie doch verbinden mit einer Politik, die es mit dem Gefühl der Ermächtigung aufnehmen kann, welches die Trump-Kampagne und andere Rechtspopulist*innen offensichtlich produzieren. Die Bernie-Sanders-Kampagne hat die Bedeutung von Emotionen und Leidenschaften erkannt. Entsprechend hieß es nicht »I agree with the Bern«, sondern »I FEEL the Bern«.

Eine attraktive linke Politik auf der Höhe der Zeit muss ihre spätaufklärerische Vorsicht und Skepsis gegenüber Körpern und ihren Affekten abschütteln. Sie muss, mit Rosa Luxemburg, trotz alledem im Lebensrausch stehen.

Literatur

Colbert, Stephen, 2016: The Word: Trumpiness, The Late Show, 18.7.2016, www.youtube.com/watch?v=NqOTxl3Bsbw

Johnson, Jenna, 2016: Many Trump supporters don’t believe his wildest promises – and they don’t care, in: The Washington Post, 7.6.2016

Jones, Owen, 2016: The left needs a new populism fast. It’s clear what happens if we fail, in: The Guardian, 10.11.2016

| Ende Gelände im Gerechtigkeitsdilemma

September 2016
Von Hannes Lindenberg und Tadzio Müller

Warum der Kohleausstieg nicht bis 2040 warten kann

14. Mai 2016, Lausitz. Das Aktionswochenende, an dem das klimaaktivistische Bündnis »Ende Gelände« den Anti-Kohle-Protest in die Braunkohle-Region Lausitz tragen wollte, übertrifft alle Erwartungen. Ungefähr 4 000 Menschen aus 20 Ländern blockieren die Kohlebagger, Transportzüge und das Kraftwerk Schwarze Pumpe.
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| »We always have Paris«

November 2015
Von Tadzio Müller

Was vom Klimagipfel zu erwarten ist und was wirklich notwendig wäre

Der UN-Klimagipfel in Paris ist wichtig. Dennoch ist absehbar, dass das Pariser Abkommen weit hinter dem klimapolitisch Notwendigen zurückbleiben beziehungsweise stellenweise in eine fatale Richtung gehen wird. Was haben wir von Paris zu erwarten und was bräuchten wir wirklich?


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| Politische Religion als neue Avantgarde?

September 2014
Von Tadzio Müller

Die Religion gewinnt in den letzten Jahren gesellschaftspolitisch wieder an Bedeutung. Da wäre beispielsweise die Tea-Party-Bewegung in den USA: Angesichts eines entschlossenen Gegenangriffs des Wall Street nahen republikanischen Establishments schien sie eine Zeit lang im Niedergang begriffen. Mit der überraschenden Niederlage des republikanischen Mehrheitsführers im Repräsentantenhaus, Eric Cantor, gegenüber Dave Brat, einem Kandidaten aus dem Tea-Party-Spektrum, hat sie ihre Handlungsfähigkeit jedoch erneut unter Beweis gestellt. Dass kurz darauf die von wichtigen Kapitalfraktionen gestützte Reform der Einwanderungsgesetze gekippt wurde, unterstreicht dies.
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| Of Energy Struggles, Energy Transitions and Energy Democracy[1]

April 2013
von Tadzio Müller

Foto: tjschloss/flickr

Abstract: Germany’s Energiewende, its comparatively rapid and multi-scalar move towards a more renewable energy system, is the subject of much international scrutiny and discussion. Within Germany, it has become clear that there are two paths that can be taken in this expansion of renewable energies: one that leads to large-scale installations (Desertec, off-shore windparks) under the continued control of the big energy companies; one that leads to an increasingly decentralised, increasingly democratic and socially responsive energy sector. In this paper, I try to analyse the contribution that social struggles ‘from below’ can make in this process, to what extent they can coalesce into a broader struggle for ‘energy democracy’.
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| Plan B? Ökologie für Alle!

Dezember 2012
Von Tadzio Müller

Zukunft Nr. 1: »Berlin im Winter 2050. Erkältungswellen und Grippeepidemien als Folgen der durch die Energie- und Wärmerationierungen verursachten unzureichenden Heizmöglichkeiten […] bei gleichzeitig eisigen Außentemperaturen sowie der für die Mehrheit der Bevölkerung kaum mehr erschwingliche Kraftfahrzeugverkehr haben zu massiver Unzufriedenheit in weiten Teilen Deutschlands geführt. Folge sind gewalttätige Ausschreitungen und Demonstrationen. [Die Regierung ist] gewarnt durch die ›ProMobilitätsbewegung‹ aus dem Jahre 2048, in der es einer breit organisierten Bürgerinitiative gelungen war, […] eine bisher einmalige Staatskrise der Bundesrepublik Deutschland zu verursachen«. (BAKS 2008, 10)

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| How Do You Institutionalise a Swarm?

Januar 2010

by Tadzio Müller and Ben Trott

For French Philosopher Alain Badiou, an event is a break, a moment of rupture with a clear ‘before’ and ‘after’, where the ‘after’ could not be foreseen even from within the event itself, and whose meaning is primarily ascribed in retrospect. ‘Seattle’ was an event in this sense, creating an unexpected disruption within an apparently hegemonic, imperial structure by a newly emergent, multitudinous, antagonistic social subject. This was a subject which, later, would have many names, but was best described with the French term mouvement altermondialiste – the movement for a different globalisation.
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| WIE INSTITUTIONALISIERT MAN EINEN SCHWARM?

Dezember 2009
Von Ben Trott und Tadzio Müller

Ereignisse, so der französische Philosoph Alain Badiou, sind Zäsuren, sind Brüche, die ein klares ›Davor‹ und ein klares ›Danach‹ produzieren, wobei das ›Danach‹ nicht innerhalb des Ereignisses vorhergesehen werden kann. ›Seattle‹ war ein solches Ereignis, das den normalen Fluss der Dinge unterbrach: Für viele unerwartet wurde eine anscheinend hegemoniale globale Herrschaftsstruktur unterbrochen und gestört. Verantwortlich dafür zeichnete sich ein neues, vielfältiges, antagonistisches Subjekt: ein Subjekt, das später viele Namen haben sollte, aber doch am besten mit dem französischen Begriff des mouvement altermondialiste beschrieben ist – Bewegung für eine andere Globalisierung.
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| DEBATTE GREEN NEW DEAL, Teil II: WIDER DEN WACHSTUMSWAHN. FÜR KLIMAGERECHTIGKEIT

November 2009
Von Stephan Kaufmann und Tadzio Müller

Auf den globalen Klimakonferenzen ringen die Staaten um die Ausgestaltung des künftigen Klimaregimes, das ihre Stellung in der globalen Konkurrenz der Kapitalstandorte entscheidend modifiziert. Wer gewinnt und wer verliert – diese Fragen lassen die Klimaverhandlungen immer wieder scheitern oder mit kleinlichen Minimal-Kompromissen enden, voraussichtlich auch in Kopenhagen im Dezember 2009. »Der Kapitalismus ist ein hochgradig lernfähiges, evolutionäres System, das bisher noch jede Krise und jede Opposition in einen Innovationsschub verwandelt hat.« (Ralf Fücks)1


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