| Kampf der Giganten. Streitbare Imperialismustheorien

Januar 2019  Druckansicht
Von Ingo Schmidt

Konzernherrschaft, Kapitalexport und Krieg – um diese Themen kreiste die marxistische Imperialismusdebatte des frühen 20. Jahrhunderts. Dahinter stand die politische Frage, wie die sozialistische Arbeiterbewegung auf koloniale Expansion und zunehmende Spannungen zwischen den Kolonialmächten reagieren sollte. An die Stelle formaler Kolonien sind seither verschiedene Formen imperialistischer Herrschaft getreten und die sozialistische Arbeiterbewegung wurde zuerst sozialstaatlich befriedet und danach den Anforderungen internationaler Wettbewerbsfähigkeit unterworfen. Konzernherrschaft, Kapitalexport und Krieg aber sind geblieben. Insofern ist es durchaus naheliegend, bei der Analyse des heutigen Imperialismus und Kapitalismus und dem Nachdenken über einen politischen Neubeginn nach dem Scheitern der Sozialismen des 20. Jahrhunderts auf die alte Debatte zurückzugreifen. Nicht so, als stünde dort schon alles und man müsse nur die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen. Sondern gerade, weil in der historischen Darstellung des Imperialismus und Kapitalismus in den entsprechenden Debattenbeiträgen deutlich wird, dass Konzernherrschaft, Kapitalexport und Krieg heute ganz andere Formen angenommen haben als im frühen 20. Jahrhundert.

Historischer Kontext: Reform vs. Revolution

Die klassischen Beiträge zur Imperialismusdebatte sind aus dem Bemühen um eine Neuorientierung sozialistischer Politik entstanden (Day/Gaido 2012). Im Gegensatz zu der fast vollständigen Trennung zwischen sozialistischen Zirkeln und einer hochgradig institutionalisierten Arbeiterbewegung in unserer Zeit waren Sozialismus und Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufs Engste verbunden. Allerdings zeigte diese Verbindung Risse, seit Teile der Arbeiterbewegung den Glauben an den Zusammenbruch des Kapitalismus als Auslöser einer sozialistischen Revolution verloren und ihre Hoffnung zunehmend auf anhaltende Prosperität und soziale Reformen setzten. Ein Teil dieser sogenannten Revisionisten sah Reformen als Mittel zur Überwindung kapitalistischer Krisen, weil sie Einkommenszuwächse der arbeitenden Bevölkerungsmehrheit begünstigen und hierdurch periodisch auftretenden Unterkonsumtionskrisen entgegenwirken würden. Ein anderer Teil sah Reformen als Folge kolonialer Expansion: Aus den damit verbundenen Extraprofiten könnten höhere Löhne und soziale Sicherungssysteme bezahlt werden, ohne den Durchschnittsprofit zu belasten. Nach Überwindung einer anhaltenden Stagnationsphase, die von den frühen 1870er bis Mitte der 1890er Jahre anhielt, hatte die sozialistische Linke diesem Revisionismus zunächst nichts entgegenzusetzen außer Durchhalteparolen nach dem Motto: Die Krise kommt schon noch. Und dann kommen wir.

Um aus der Defensive zu kommen, nahmen sich einige Wortführer*innen der Linken Marx’ »Kapital« noch einmal vor. Dort fanden Arbeiter*innen und Aktivist*innen eine wissenschaftliche Erklärung für das verbreitete Gefühl, von den Kapitalisten übers Ohr gehauen zu werden. Zugleich erhielten sie die Zusicherung, dass die kapitalistische Ausbeutung endlich und der Aufbau einer von Arbeiter*innen selbstverwalteten Wirtschaft möglich sei. In den Jahrzehnten nach Veröffentlichung des »Kapital«, insbesondere nach Beginn der Stagnation in den frühen 1870er Jahren, hatte dessen Fokus auf die fabrikmäßige Organisation des Produktionsprozesses und die hierin eingeschriebene Ausbeutung viel zur Selbstvergewisserung und Orientierung einer rund um die industrielle Arbeiterklasse entstehenden Bewegung beigetragen. Nachdem die Risse zwischen Sozialismus und Arbeiterbewegung nicht mehr zu leugnen waren, wurden die Fragen laut, ob Marx’ Analyse womöglich historisch überholt sei, ob sie nur einen kleinen Ausschnitt des Kapitalismus behandle und ob eine Neuinterpretation des »Kapital« zu einer Neubestimmung des Sozialismus beitragen könne.

Theoretische Zugänge: Mit Marx und über ihn hinaus

Um dem politischen Revisionismus entgegenzutreten, musste die sozialistische Linke ihre theoretischen Grundlagen revidieren. Dabei verschob sich der Fokus von der Analyse des Produktionsprozesses im ersten Band des »Kapital« auf Fragen der Zirkulation und erweiterten Reproduktion im zweiten Band sowie auf Krisen, Finanzen und ihr Verhältnis zum industriellen Kapital im dritten Band. Über die Art und Weise, in der sich an die Marx’schen Analysen anknüpfen ließe, gab es allerdings sehr unterschiedliche Auffassungen. Rosa Luxemburg (1913) ging in »Die Akkumulation des Kapitals« von der Feststellung aus, dass »Das Kapital« ein unabgeschlossenes Werk ist. Im zweiten Band habe Marx zwar ein theoretisches Schema grenzenloser Akkumulation in einer ausschließlich aus Arbeitern und Kapitalisten bestehenden Gesellschaft entwickelt, doch schon die Darstellung der inneren Widersprüche des Gesetzes der tendenziell fallenden Profitrate im dritten Band habe diese theoretische Gleichgewichtsannahme durch den Hinweis ersetzt, dass es ein solches Gleichgewicht in der Wirklichkeit nicht gebe. Eine vollständige Analyse der Kapitalakkumulation müsse über die Annahme einer nur aus Arbeitern und Kapitalisten bestehenden Gesellschaft hinausgehen. Dies sei schon deshalb der Fall, weil sich die kapitalistische Produktionsweise historisch in nichtkapitalistischen Milieus entfaltet habe. Die Öffnung dieser Milieus durch nackte Gewalt oder Kredit schaffe gerade die Nachfrage, die notwendig sei, bereits produzierten Mehrwert zu realisieren und die Akkumulation dadurch am Laufen zu halten. Dies sei jedoch nur eine vorübergehende Lösung des kapitalistischen Nachfrageproblems. Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise, so Luxemburg, lasse sich der zur Akkumulation zur Verfügung stehende Mehrwert nicht realisieren. Durch Expansion in nicht-kapitalistische Milieus ließe sich die hierfür notwendige Nachfrage zwar schaffen, dadurch komme es aber zu deren Integration in die kapitalistische Produktionsweise. Der Fortgang der Akkumulation sei daher von der beständigen Öffnung neuer nicht-kapitalistischer Milieus, im Inneren und außerhalb, abhängig. Sind solche Milieus nicht vorhanden oder wird ihrer kapitalistischen Durchdringung Widerstand entgegengesetzt, kommt die Akkumulation zum Erliegen. Diese Argumentation ist zunächst ebenso abstrakt wie diejenige von Marx im »Kapital«, erlaubt aber eine konkrete Analyse der historischen Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise. Skizzenhaft zeichnet Luxemburg die Industrialisierung Englands, Deutschlands und Russlands sowie die darum geführten wirtschaftstheoretischen Debatten nach und geht schließlich auf die Kolonisierung außerhalb der kapitalistischen Zentren ein. Sie macht allerdings auch klar, dass koloniale Eroberungen nicht erst nach Ausschöpfung der inneren Märkte in den sich industrialisierenden Ländern Westeuropas erfolgen, sondern die kapitalistische Produktion »schon in ihrer Kindheitsphase für den Weltmarkt […] produziert« (Luxemburg 1913, 250).

Während Luxemburg versucht, ein theoretisch nicht abgeschlossenes Werk fortzuführen, betont Rudolf Hilferding die Notwendigkeit theoretischer Anpassungen an historische Veränderungen. Für ihn ist das »Kapital« im Wesentlichen eine Analyse des Industriekapitalismus zu Marx’ Lebzeiten, also eine historische Momentaufnahme. Das Verständnis späterer Entwicklungen erfordere die Anpassung und Ausweitung des analytischen Instrumentariums. Dazu sollte sein Hauptwerk »Das Finanzkapital« (Hilferding 1911) beitragen. Die markantesten Veränderungen seit Abfassung des »Kapital« sieht Hilferding in der Verschmelzung von Banken und Industriebetrieben zu Monopolen, die ihre marktbeherrschende Stellung ausnutzen, um sich zulasten von Konsument*innen und kleineren, unter Bedingungen freier Konkurrenz operierenden Betrieben Extraprofite zu sichern. Zölle sicherten diese Extraprofite nach außen ab. Zugleich erlaubten die Extraprofite den Monopolen die Unterbietung entstehender Industrien außerhalb der kapitalistischen Zentren. Monopole und Protektionismus würden zur Basis von Kapitalexport und kolonialer Expansion.

Lenin übernahm in seiner Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« (1917) in weiten Teilen Hilferdings Analyse, ersetzte allerdings dessen Krisentheorie durch die Unterkonsumtionstheorie und die Parasitismus-These des Proto-Keynesianers John Hobson (1902). Akkumulation und Monopolbildung hätten einen Kapitalüberschuss in den »Ländern des entwickelten Kapitalismus« geschaffen, der aber »nicht zur Hebung der Lebenshaltung der Massen in dem betreffenden Lande verwendet werden kann«, weil dies eine »Verminderung der Profite« bedeuten würde. Stattdessen kommt es zu Kapitalexporten in »rückständige Länder.« In der Folge entsteht in den kapitalexportierenden Ländern eine von der Produktion isolierte »Rentnerschicht«, die »von der Ausbeutung der Arbeit einiger überseeischer Länder und Kolonien lebt« (Lenin 1917, 245). Diese koloniale Ausbeutung bezeichnen Hobson und Lenin als »Parasitismus« (ebd., 281). Aufgrund seiner exponierten Stellung im Sowjetmarxismus galt Lenins Text Anhänger*innen wie Kritiker*innen vielfach als letztes Wort zur Imperialismustheorie. Sein eigener Anspruch war deutlich bescheidener. Dem Untertitel zufolge handelt es sich beim »Imperialismus« um einen »gemeinverständlichen Abriss«. Wissenschaftliches Neuland hatten Luxemburg und Hilferding erschlossen, die politischen Implikationen in ihren Werken sind deshalb besser fundiert als diejenigen Lenins. Dennoch erwiesen sich gerade dessen weitreichende Schlussfolgerungen als vielleicht wichtigster Bezugspunkt sozialistischer Strategiebildung des 20. Jahrhunderts, auch in Strömungen der Linken, die sich explizit vom Sowjetmarxismus bzw. -kommunismus abgrenzten.

Politische Implikationen: Die trügerische Hoffnung auf Extraprofite

Luxemburg hält auch in »Die Akkumulation des Kapitals« an der Zusammenbruchstheorie fest, die sie schon im Revisionismusstreit gegen Eduard Bernstein und seine Anhänger*innen verteidigt hatte. Sie modifiziert diese Theorie aber in zweierlei Hinsicht. Erstens verschaffe die koloniale Expansion dem Kapitalismus eine Galgenfrist und zweitens seien die Grenzen der Kapitalakkumulation nicht rein ökonomisch zu bestimmen. Vielmehr führe der »Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus« zu einer

»fortlaufenden Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen […] die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalsherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist« (Luxemburg 1913, 391 u. 411).

Einen automatischen Übergang von ökonomischer Krise zum Sozialismus gibt es demnach nicht. Fortwährend müssen neue Märkte geöffnet und Verwertungsmöglichkeiten geschaffen werden: der Krieg als Feld der Akkumulation und die Ausdehnung der Akkumulation in nicht-kapitalistische Räume in den Kolonien, aber auch im Inneren der Metropolen. Unklar bleibt jedoch das Verhältnis der arbeitenden Massen der Kolonien, in ihrer Mehrheit Bäuer*innen, zu den Industriearbeiter*innen in den Zentren. Luxemburg macht deutlich, dass sich Letztere keine großen Hoffnungen auf die Beteiligung an den Früchten kolonialer Ausbeutung machen sollten, weil sie zuerst einmal die Kosten der Aufrüstung und kolonialen Eroberung zu tragen hätten. Ein Jahr nach Erscheinen der »Akkumulation« stellten sie auch die Masse der in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges zum Morden und Sterben Gezwungenen.

Hilferding zieht aus seiner Imperialismusanalyse ebenfalls den Schluss, dass die Arbeiterklasse nichts bei der Kolonialisierung zu gewinnen hat. Zudem war er überzeugt, dass die Mittelklassen, die das Finanzkapital zunächst aus Furcht vor der eigenen Proletarisierung unterstützt hatten, unter der »Last der Extraprofite« der durch den Protektionismus verursachten »steigenden Tendenz der Nahrungsmittelpreise« und dem mit der Aufrüstung verbundenen »Steuerdruck« auf die Seite der Arbeiterklasse überlaufen würden, sobald »die Expansion des Kapitals in eine Periode langsameren Fortschreitens eintritt« (Hilferding 1911, 559). Diese Schlussfolgerung bewegte sich noch ganz im Rahmen des orthodoxen Marxismus der Zweiten Internationale. Weitergehende Schlüsse zog Hilferding erst nach den Erfahrungen des Kriegssozialismus. In »Das Finanzkapital« hatte er die mit fehlender Massenkaufkraft begründete Unterkonsumtionstheorie, die den Marxismus der Zweiten Internationale dominierte, durch eine Disproportionalitätentheorie ersetzt. Disproportionen zwischen verschiedenen Wirtschaftsbereichen können verschiedene Ursachen haben, sind Hilferding zufolge aber vor allem eines: vorübergehend. Die Vorstellung eines ökonomischen Zusammenbruchs des Kapitalismus lehnt Hilferding ebenso ab wie ihr Gegenteil, die Harmonielehren. Vielmehr weist er der kleinen Zahl finanzstarker Monopole die Fähigkeit zu, die Wirtschaft in eine von ihr gewünschte Richtung zu steuern. Das unter der Monarchie geschlossene Bündnis zwischen Junkern und Schlotbaronen habe dieses Steuerungspotenzial zur Verfolgung seiner imperialistischen Ziele genutzt. In der demokratischen Republik könne die Arbeiterbewegung über Parlamente und Gewerkschaften jedoch als Gegenmacht agieren und so zur Schaffung eines krisenfreien organisierten Kapitalismus sowie der Ausweitung sozialer Rechte beitragen (Hilferding 1924). Diese politischen Überlegungen schließen an die ökonomischen Analysen im »Finanzkapital« an und nehmen Grundzüge der keynesianischen Wohlfahrtsstaaten vorweg, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den kapitalistischen Zentren unter Bedingungen des Kalten Krieges herausbilden konnten.

Es gehört zur Tragik der marxistischen Sozialdemokratie, dass ihr Vordenker Hilferding von den proto-keynesianischen Beschäftigungsprogrammen, die einige Gewerkschaftsökonomen zur Eindämmung der Großen Depression vorschlugen, nichts wissen wollte, weil er die Hyperinflation fürchtete. Eine nach Krieg und Faschismus keynesianisch gewendete Sozialdemokratie wusste mit Hilferding nichts mehr anzufangen. Die im »Finanzkapital« entwickelten Ideen überlebten in der Interpretation, die Lenin in »Der Imperialismus« vorgenommen hatte. Von dort wurden sie in den Sowjetmarxismus aber auch durch eine Reihe dissidenter marxistischer Strömungen weitergetragen (Schmidt 2019).

Lenin sieht die mit der Herausbildung der Monopole verbundenen politischen Steuerungsmöglichkeiten wohl, bestreitet aber, dass diese unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen realisiert werden könnten. Dem stehe der zur Aufrechterhaltung der Profitrate notwendige Druck auf Löhne und Massenkaufkraft im Weg. Diese Einsicht habe sich in der Arbeiterbewegung aber noch nicht vollständig durchgesetzt, weil die Ausbeutung der Kolonien die Herausbildung einer zu revisionistischen Ansichten neigenden Arbeiteraristokratie ermöglicht habe. Anders als Luxemburg und Hilferding, die sich wenig bis gar nicht mit den Binnenverhältnissen der Arbeiterklasse befasst haben, geht Lenin wiederum in Anschluss an Hobson von einer Spaltung zwischen einer »›Oberschicht‹ der Arbeiter und der ›eigentlich proletarischen Unterschicht‹« aus (Lenin 1917, 287). Wie der aus den Kolonien bezogene Extraprofit in die Taschen dieser Oberschicht gelangt, bleibt jedoch unklar. Lenin spricht verschiedentlich von einem Rentnerstaat, aber auch davon, dass der Staat von den Monopolen kontrolliert werde.

Die für eine über Steuern betriebene Umverteilung notwendigen Institutionen sind erst im Zuge der Wohlfahrtsstaatentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Anknüpfend an Lenins mehr hingeworfene als theoretisch entwickelte Argumente zu kolonialer Ausbeutung und zur Arbeiteraristokratie wurden in jener Zeit verschiedene Theorien des ungleichen Tausches entwickelt. Diese erklärten die steigende Massenkaufkraft breitester Arbeiterschichten bei anhaltend hohen Profiten. Mit diesen Theorien wurden Forderungen der Abkopplung postkolonialer Regime vom kapitalistischen Weltmarkt begründet. Deren Ausgangspunkt – die Gewinnung politischer Unabhängigkeit – ließ sich auf Lenins Thesen zu kolonialer Ausbeutung und seiner Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zurückführen. Insofern könnte man sagen, dass Hilferding den keynesianischen Wohlfahrtsstaat und Lenin die antikolonialen Bewegungen theoretisch vorweggenommen hat, während Luxemburg die kapitalistische Landnahme, die Ausdehnung der Akkumulation nach außen und nach innen begründet hat. Doch Luxemburg schätzte die Bourgeoisie richtig ein: Erst sollte die Barbarei kommen. Die volle Entfaltung der kapitalistischen Landnahme konnte sich erst nach den Zerstörungen zweier Weltkriege realisieren.

Luxemburgs theoretisches Werk liefert Ansatzpunkte für das Verständnis dieser Geschichte und der Entwicklung des Kapitalismus (Schmidt 2014). So sehr Wohlfahrtsstaaten und postkoloniale Regime die Herrschaft des Kapitals einschränkten, trugen sie doch zugleich zur Öffnung neuer Märkte bei. Dies gilt für die kapitalistische Durchdringung von Haushalten in den Zentren ebenso wie für die Industrialisierungsprojekte in den Peripherien. Schließlich wurden die öffentlichen Sektoren, die als Bastionen der Gegenmacht von Arbeiterund antikolonialen Bewegungen entstanden waren, selbst Ziel kapitalistischer Durchdringung und untergruben damit die Legitimation, die diese Gegenkräfte dem Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg verschafft hatten. Ebenso wie die koloniale Expansion sind auch die keynesianische und die neoliberale Welle der Akkumulation an Grenzen gestoßen. Sei es, dass sich soziale Bewegungen einer weiteren Expansion in den Weg stellten, oder die Mittel, mit denen sie vorangetrieben wurde – Konzernherrschaft, Kapitalexport und Krieg in immer neuen Formen – zu Krisen führten. Dabei standen sich Arbeiterbewegungen, die innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise operieren, und Bewegungen von Frauen, Umweltschützer*innen und Kriegsgegner*innen, die sich der Ausbreitung dieser Produktionsweise in den Weg stellen, allzu oft feindlich gegenüber. Und die nächste Landnahme bahnt sich bereits an.

Luxemburgs Akkumulationsund Imperialismustheorie macht deutlich, dass Arbeiterbewegungen immer wieder vor der Wahl stehen: Wollen sie in der Hoffnung auf fortschreitende Akkumulation und hieran geknüpfte Arbeitsplätze die vom Kapital betriebene Expansion in nicht-kapitalistische Milieus? Oder wollen sie ein Bündnis mit Bewegungen eingehen, die sich dieser Expansion und der damit verbundenen Zerstörung von Natur und Lebenswelten entgegenstellen? Ein solches Bündnis hängt nicht zuletzt davon ab, ob es der marxistischen Linken gelingt, Arbeiter*innen davon zu überzeugen, dass die Reproduktion ihres eigenen Lebens nicht nur vom Verkauf ihrer Arbeitskraft, sondern mindestens ebenso stark, wenn nicht stärker noch vom Zugang zu Natur und Lebenswelten abhängt. Diese Überzeugungsarbeit wird umso eher gelingen, wenn ein Leben jenseits des Zwangs zum Verkauf der Arbeitskraft und zur Unterordnung unter kapitalistische Chefs vorstellbar wird. Ohne sozialistische Perspektive führen, wie Luxemburg (1916, 62) es angesichts des Ersten Weltkrieges formulierte, Kapitalakkumulation und -expansion zur Barbarei.

 

Literatur

  • Day, Richard B./Gaido, Daniel F. (Hg.), 2012: Discovering Imperialism: Social Democracy to World War I, Chicago
  • Hilferding, Rudolf, 1911: Das Finanzkapital, Berlin [1955]
  • Ders, 1924: Probleme der Zeit, in: Die Gesellschaft, 1, 1–17
  • Hobson, John, 1902: Der Imperialismus, Köln/Berlin
  • Lenin, W. I., 1917: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Lenin Werke 22, Berlin, 191–309
  • Luxemburg, Rosa, 1913: Die Akkumulation des Kapitals, GW 5, Berlin, 5–411
  • Dies., 1916: Die Krise der Sozialdemokratie, GW 4, Berlin, 49–164
  • Schmidt, Ingo, 2014: Capital Accumulation and Class Struggles from the »Long 19th Century« to the Present – A Luxemburgian Interpretation, in: International Critical Thought 4/2014, 457–473
  • Ders, 2019: Readings of Capital: Key to Reviving an Abandoned Project?, in: Marc Silver (Hg.), Confronting Capitalism in the 21st Century – Lessons from Marx’s Capital, im Erscheinen