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Streiks gegen Sozialabbau

Von Klaus Ernst

Es ist eine zentrale Forderung der Linken, das Recht auf politischen Streik in der Bundesrepublik Deutschland fest zu verankern. Doch es gehört mehr dazu, als nur das Recht zu verändern.

Der Schwerpunkt der politischen Streiks liegt in Südeuropa; nicht nur, weil dort die Rechtslage anders ist, es liegt auch an einer anderen politischen Kultur.

Viele hatten die Hoffnung, dass mit dem gemeinsamen Europa ein Aufschwung verbunden wäre, eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Bürgerinnen und Bürger in Europa. Mit dieser Hoffnung war die – bei allen kritischen Fragen – breite Zustimmung für dieses gemeinsame Europa in der BRD und in anderen Ländern verbunden. Das betrifft nicht die Verträge von Lissabon, sondern in erster Linie das Projekt. Doch wir müssen feststellen, dass die Entwicklung gänzlich anders verlaufen ist.

In der Folge der Finanzkrise wird versucht, die Verteilungsverhältnisse in Europa grundlegend zu verändern, teilweise ist es schon gelungen. Die Finanzeliten Europas stellen die Frage »Wer bezahlt eigentlich die Krise?«. Die Antwort der Wirtschaftseliten lautet: die Bürgerinnen und Bürger Europas. Welche Konsequenz hat es, die Verteilungsfrage auf diese Art zu regeln? In Griechenland holen Eltern ihre Kinder nicht mehr von den Kindergärten ab, weil sie sie nicht ernähren können. In Krankenhäusern fehlen Handschuhe und Spritzen, Operationen können nicht mehr durchgeführt werden. Das Wissen darum ist in der Mitte angekommen (vgl. FR, 20.2.2012).

Rentenkürzung, Absenkung des Mindestlohns, Massenentlassungen… und wir wissen, dass sich die Krise verschärft. In Spanien wird der Kündigungsschutz aufgeweicht, Löhne können willkürlich an Tarifverträgen vorbei gesenkt werden, das Tarifvertragssystem wird ausgehebelt. Das Rentenalter wird erhöht, Zuzahlungen bei Medikamenten gestrichen, im Bildungsbereich wird gespart. In Italien müssen die Tarifverträge nicht mehr eingehalten werden, der Kündigungsschutz soll gelockert, das Rentenalter heraufgesetzt werden. In Portugal werden Feiertage gestrichen, Gehalts- und Lohnkürzungen sind an der Tagesordnung.

Die Schuldenbremse in Deutschland führt dazu, dass die Städte immer weniger in der Lage sind, die Grundversorgung der Bürger aufrechtzuerhalten. Schwimmbäder werden geschlossen, Schulen nicht mehr renoviert.

Wir haben es mit einer Zerschlagung des europäischen Sozialstaatsmodells zu tun. Wesentliche Elemente der Demokratie in Europa werden geschliffen.

Das ist die Legitimation für einen politischen Streik. Ein Blick auf die politische Landschaft der Linken in Europa zeigt: In Italien ist sie zersplittert, hat kaum politischen Einfluss. Die Linke in Griechenland hat hinzugewonnen, aber mindestens in vier Parteien, die kaum miteinander sprechen können. Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist die politische Linke nicht in der Lage, diese Politik aufzuhalten – trotz einer Stärkung der europäischen linken Kräfte. Selbst in Frankreich, mit dem sehr erfreulichen Wahlergebnis bei der Präsidentenwahl im Mai 2012, zeichnet sich wenig Handlungsfähigkeit ab; auch die Rechten haben dramatisch gewonnen. Die Linke kündigt immer wieder an, dass sie mit diesen Entwicklungen Schluss machen will, kann es aber nicht. Darunter leidet ihre Glaubwürdigkeit.

Welche Konsequenz ziehen wir daraus? Die politische Linke in Europa muss sich zusammenschließen – auch in der Bundesrepublik. Ohne Bündnisse sind wir nicht in der Lage, dem wirklich etwas entgegenzusetzen. Bündnispartner sind diejenigen, die außerparlamentarische Kämpfe organisieren können; nur mit wirklichen Bewegungen auf der Straße kann etwas bewegt werden.

Der politische Streik ist in diesem Zusammenhang ein Mittel. Ich spreche vom politischen, nicht vom Generalstreik – sonst wäre die Niederlage vorprogrammiert. Generalstreik heißt, dass alle streiken – leicht werden die aufgezählt, die nicht dabei sind, Steuerbeamte, Polizisten etc. Beim politischen Streik werden die gezählt, die mitmachen. Daher ist der Begriff strategisch sinnvoller und zutreffend.

In Europa gibt es immer mehr Widerstand. Nicht nur auf der Ebene der Parteien, sondern tatsächlich auf der Straße.

In Frankreich sollte vor einigen Jahren der Kündigungsschutz für die unter 25-Jährigen verschlechtert werden; das konnte nicht durchgesetzt werden. In der Bundesrepublik wurde der Kündigungsschutz nun massiv geschliffen. Aber wir haben eine ganz andere Kultur des Widerstands. Die Tradition in der Bundesrepublik hat dazu geführt, dass die Gewerkschaften in ihrer Führung, ihrer Struktur und ihrer Mitgliedschaft nicht jeden Tag an der Tür kratzen und sagen, lasst uns mal politisch streiken. Wir als Linke müssten innerhalb der Gewerkschaftsbewegung ansetzen; dort wird oftmals davon ausgegangen, als sei Gegenwehr gar nicht möglich. Selbst der DGB Bayern hat in seiner Landesbezirkskonferenz den politischen Streik als mögliches Mittel beschlossen; ver.di diskutiert oft darüber.

Nach der gegenwärtigen Rechtsauffassung dürfen die Gewerkschaften nur zum Streik aufrufen, wenn es um die Erkämpfung eines Tarifvertrages geht. Das bedeutet in der Umkehr, gibt es einen Tarifvertrag, sind die Gewerkschaften an die Friedenspflicht gebunden. Würden sie dann streiken, würden sie sich in die Gefahr begeben, schadensersatzpflichtig zu werden für Ausfälle in Produktion und Gewinn in den Betrieben. Wir haben das umschifft, indem wir nicht zum Streik, sondern zum Protest während der Arbeitszeit aufgerufen haben. Und das war möglich und erfolgreich.

Es gab auch in der Vergangenheit politische Streiks. In der bayerischen Verfassung ist verbürgt (Artikel 110, Abschn. 1): »Jeder Bewohner Bayerns hat das Recht, seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Recht darf ihn kein Arbeits- und Anstellungsvertrag hindern und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht.«

Daher haben wir unter Berufung auf die Verfassung zu Aktionen aufgerufen. Juristisch würde die Landesverfassung hinter dem Bundesrecht zurückstehen. Meine Erfahrung ist aber, dass bei erfolgreicher Mobilisierung die juristische Auseinandersetzung ausbleibt. Wo wir uns trauen, wo wir es vernünftig vorbereiten, dort ist es möglich und erfolgreich.

Die Klammer für gemeinsame Aktionen in Europa, auch für politische Streikaktionen könnte sein: direkte Finanzierung der Staatsschulden über die EZB. Das wäre wahrscheinlich kein Ansatz für Massenmobilisierungen. Wohl aber: Rücknahme und Kampf gegen Kürzungen von Renten, Löhnen und Sozialleistungen. Um diese Punkte muss die Linke in allen europäischen Ländern mobilisieren und organisieren. Natürlich nicht allein; wir müssen als nächstes mit Gewerkschaften, Initiativen und Sozialverbänden ins Gespräch kommen und gemeinsam eine Widerstandsbewegung zustande bringen.

Streiks sind in der Bundesrepublik bei den Bürgerinnen und Bürgern eher negativ belegt. Daher haben nur zwei Länder weniger Streiktage: die Schweiz und der Vatikanstaat. Das ist doch schon bemerkenswert. Trotzdem wurden hier bis vor zehn oder zwölf Jahren die höchsten Löhne gezahlt. Das wurde auch als Argument gegen Streiks verwendet. Die Bereitschaft oder die Notwendigkeit, sich für die Interessen einzusetzen, auch durch Streiks, ist vorhanden; ein Problem besteht oft bei den Verhandlungsführern, die nach nächtelangen Streitereien erschöpft vor die Kamera treten und sagen: Wir haben es geschafft! Dieses Bild hat dazu beigetragen, dass die Streikbereitschaft selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern nicht hoch war bzw. immer wieder enttäuscht wurde. Hinzu kam das stark reglementierte Streikrecht.

Dann die Umbrüche: Wegfall der Systemkonkurrenz, ab 1998 die rot-grüne Regierung, mit Agenda 2010 und massiver Schwächung der Gewerkschaften; und es gab die Selbstbeschränkung der Gewerkschaften. Die Situation veränderte sich dramatisch. Allein in den letzten zehn Jahren hat das Absenken der Lohnquote in der Bundesrepublik dazu geführt, dass den abhängig Beschäftigten ca. 140 Milliarden Euro an Lohnsumme in einem Jahr entzogen wurden.

So drastische Lohnkürzungen gab es nur in Deutschland, was m.E. auch mit Recht und Praxis des Streiks zu tun hatte. Tarifverhandlungen bringen keine Ergebnisse mehr, auf die politisch verwiesen werden kann.

Wie gehen wir mit dieser Situation um? Die Linken müssen 1 | die rechtlichen Auseinandersetzungen ums Streikrecht führen. Sie müssen 2 | die Inhalte in den Vordergrund schieben, für die Menschen politisch streiken wollen würden. Welche Inhalte können das sein? Ein zentraler Punkt für den politischen Streik ist aus meiner Sicht die Verteilungsfrage: dort, wo die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes eingreifen, zum Nachteil der Bürgerinnen und Bürger. Das betrifft Lohn, Rente, Sozialleistungen. Ein weiteres Thema ist die Friedenspolitik. Ich glaube, an diesen Fragen können auch in Deutschland politische Streiks organisiert werden – allerdings gut vorbereitet. Ohne Vorbereitung, ohne Agitation der Gewerkschaften, wie der Parteien und Bewegungen, wird die Beteiligung schwach bleiben. Um die geht es aber. Politischer Streik ist keine Theorie, sondern muss Praxis sein.

Redaktionell bearbeitete Rede, gehalten auf der Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung »Politische Streiks im Europa in der Krise« am 5.5.2012 in Berlin