| Stell Dir vor, es ist Europa – und keiner geht hin!

Mai 2016  Druckansicht
Von Peter Wahl

“Heute müssen wir zugeben, dass der Traum von einem gemeinsamen Europäischen Staat mit gemeinsamen Interessen, mit einer gemeinsamen Vision […] die geeinte Europäische Union eine Illusion war.” Es war kein notorischer Euroskeptiker, der diesen Befund formulierte, sondern Donald Tusk, Präsident des EU-Rates, Anfang Mai 2016.[1] Und Kommissionspräsident Juncker sprach schon bei seinem Amtsanritt im Januar 2015 von der „Kommission der letzten Chance.“[2] Das war noch vor der zweiten großen Griechenlandkrise, der Flüchtlingskrise, dem Beschluss über das Referendum zum BREXIT, dem Wahlsieg der polnischen Rechtspopulisten, den verzweifelten Versuchen der EZB mit Nullzinsen die Euro-Zone vor Deflation und Zusammenbruch zu retten, dem niederländischen Referendum zum Assoziierungsvertrag mit der Ukraine und der dritten Griechenlandkrise im Mai 2016.

Es scheint, dass der Spitze der EU halbwegs dämmert, wie ernst die Lage ist. Die multiplen Krisen haben ein Ausmaß angenommen, das das Projekt insgesamt in Frage stellt. Die EU steht vor existentiellen Problemen, egal wie die Sache auf einzelnen Terrains, z.B. dem BREXIT, weitergeht. Seriöse Prognosen sind nicht möglich, aber es kann auch keine Variante mehr ausgeschlossen werden.

Sicher ist allerdings, dass das große Endziel, die „immer engere Union der Völker Europas,“ wie es in der Präambel der Verträge heißt, der föderale Bundesstaat, die Vereinigten Staaten von Europa, obsolet ist. Die Vereinbarung der EU mit Großbritannien, für den Fall, dass London in der EU bleibt, schreibt das auch formal fest. Für London gilt die Verpflichtung zur „immer engeren Union“ dann ausdrücklich nicht. Andere sagen das nicht offiziell, aber für Frankreich, Polen, Niederlande, Österreich sowie die Skandinavier gilt das de facto genauso. Überall wächst der Anteil  der EU-Skeptiker, sowohl in den Bevölkerungen, wie alle einschlägigen Umfragen belegen, als auch bei den politischen Akteuren aller Lager.

Dennoch gehört die gesellschaftliche Linke in Deutschland zu jenen, die unbeirrt an der Vertiefung der Integration mit dem Endziel der politischen Union festhalten. Prinzipienfestigkeit oder Realitätsverlust?

Demgegenüber wird anderswo die Diskussion schon seit längerem offen geführt. So vollzieht die französische Linkspartei (Parti de Gauche) gerade einen Wechsel hin zu eher souveränistischen Positionen. Le Monde veröffentlichte im Februar einen Aufruf von 50 prominenten Ökonomen, darunter Aglietta, der Vater der Regulationstheorie, der für einen Block der mediterranen Länder gegen Deutschland und den Bruch mit den Verträgen plädiert.[3] Und einer der intellektuellen Köpfe von Nuit Debout, Frédéric Lordon, ist seit langem Befürworter der Auflösung des Euro. In Großbritannien hat sich ein linkes Pro-BREXIT Lager gebildet. In Griechenland hat sich mit Unterstützung namhafter Ökonomen, wie Costas Lapavitsas, eine euroskeptische Strömung von Syriza getrennt. In den Niederlanden ist die linke Socialistische Partij (SP) schon immer prinzipiell EU-kritisch. Sie war an dem erfolgreichen Referendum gegen die EU-Verfassung 2005 und dem Referendum gegen den Assoziierungsvertrag mit der Ukraine 2016 beteiligt. Schließlich ist auch die linke Fraktion des Europaparlaments in Grundfragen des europäischen Projekts gespalten. In Zeiten dramatischer Umbrüche ist es normal, dass Kontroversen aufbrechen – und zwar in allen politischen Lagern. Daher ist es begrüßenswert, wenn sich jetzt auch die Rosa Luxemburg Stiftung der Diskussion stellt.

Der Text von Mario Candeias, der die Diskussion anregen soll,[4] enthält vieles, dem man zustimmen kann, wie die Ablehnung des Autoritarismus’ der EU, oder die Kritik an der Linken, mit ihrer Praxis endloser „Aufzählung von Wünschbaren und Deklarationspolitik,“ ohne die Frage aufzuwerfen, „wer es verdammt noch mal tut und wie.“ Auch der Klage über den „aktivistischen europäischen Jetset, … der eine Luftblase aufgeregter Debatte produziert und versäumt, die realen Kräfteverhältnisse in der EU zu berühren,“ kann man sich anschließen.

Allerdings reizt der Text auch zu Widerspruch. Beim einem so grundlegenden Thema wie z.B. die Finalität des Integrationsprozesses bewegt er sich nach wie vor in den traditionellen Bahnen, die die Staatwerdung der EU anstrebt. Zu deren Verwirklichung schlägt Candeias die klassische Prozedur vor, mit der früher Nationalstaaten begründet wurden, nämlich einen „konstituierenden Prozess,“ mit dem „eine grundlegende neue institutionelle Verfassung und Staatlichkeit des europäischen Projekts“ geschaffen werden soll. Die demokratietheoretischen Fragen, die das aufwirft, werden nicht thematisiert, so u.a. das Fehlen eines EU-Staatsvolks, einer EU-Öffentlichkeit und einer EU-Identität, ganz zu schweigen davon, dass er „versäumt, die realen Kräfteverhältnisse in der EU zu berühren.“

Angesichts der Dimensionen der Krise und den intensiven Debatten in den Medien und den anderen politischen Lagern hätte man sich gewünscht, dass die Zukunft der EU nicht einfach als unhinterfragtes Festhalten an der etatistischen Finalität vorausgesetzt wird – und zwar stillschweigend.

Befangen in binärer Logik

Sucht man nach Erklärungen, wieso der Mainstream der deutschen Linken sich die europäische Integration nur als Weg hin zu einem Superstaat vorstellen kann, so findet man im ersten Absatz von Candeias’ Text einen wichtigen Hinweis: es ist Angst, nämlich die Angst, dass eine Erosion der EU „zum Rücksturz in die 1930er Jahre führt.“ Die 1930er Jahre, das waren bekanntlich Faschismus und Krieg.

Wenn wir davon ausgehen, dass ein solches Horrorszenario hier nicht kalt kalkuliert eingesetzt wird, etwa um grundsätzliche Kritik an der EU von vorneherein als illegitim aus linken Diskursen auszugrenzen, so fällt doch sofort die binäre Logik, das manichäische Schwarz-Weiß, das hochdramatische Sein oder Nichtsein ins Auge.

Abgesehen davon, dass sich Geschichte ohnehin nicht wiederholt, gibt es eine differenzierte Vielzahl und Szenarien für die Zukunft der EU. Zum Beispiel wäre ein erfolgreicher BREXIT nicht das Ende der EU. Im Gegenteil, wenn die neo-liberalen Bremser und Blockierer draußen wären, würde dies verstärkte Integrationsmöglichkeiten an anderer Stelle, z.B. bei Finanzmarktreformen, erst ermöglichen. Und für all jene, die angesichts der geopolitischen Umbrüche in der Welt sich gegenwärtig heftig bemühen, mittels NATO, EU, TTIP u.a. einen euro-atlantischen Block zu formieren, wäre der BREXIT ein Rückschlag. Also alles Dinge, über die sich ein anständiger Linker eigentlich nur freuen kann.

Außerdem ist der Integrationsprozess heute – anders als in den Nachkriegsjahrzehnten – in die Globalisierung eingebunden. Diese durchdringt und überformt den europäischen Prozess. Selbst wenn die EU morgen nicht mehr existierte, wären ihre Mitgliedsstaaten immer noch in die Globalisierung integriert. Besonders deutlich wird dies am harten Kern der Globalisierung, dem Finanzkapitalismus. Der Londoner City und den Chefetagen der Global Players der Finanzindustrie ist die EU schon lange zu eng. Ire Bezugspunkte sind die Wall Street, Shanghai, Singapur, Tokio. Auch die Globalisierung der Kommunikation, das Internet, all das hat den europäischen Rahmen längst überschritten. Ein Rückfall in das Zeitalter der Nationalstaaten ist auch deshalb unrealistisch.

Gestalteter Rückbau, statt chaotische Auflösung

Die Tendenz zur Desintegration der EU ist Fakt. Diese vollzieht sich aus einem Mix von politisch gestaltetem Rückbau bestimmter conquis communautaires und unkontrollierten Prozessen. Für ersteres ist das Abkommen zwischen Cameron und EU ein typisches Beispiel. Bleibt UK in der EU, werden Ausnahmeregeln und Sonderstatus für das Land in Kraft treten. Wenn die Briten für den BREXIT stimmen sollten, wird es Verhandlungen darüber geben, wie Großbritannien über ein Freihandelsabkommen einen Status erhält, der sich im Endeffekt kaum von der Vollmitgliedschaft im Binnenmarkt unterscheiden wird. Die Beziehungen der früheren EFTA, oder die der Schweiz zur EU funktionieren nach diesem Modell.

Sowohl Brüssel als auch Merkel u.a. haben ihrerseits schon mehrfach angedeutet, dass zukünftig Kompetenzen von der supranationalen Ebene wieder auf die nationalstaatliche zurückverlagert werden. Auch Candeias zieht diese Möglichkeit in Betracht: „Tatsächlich wäre zu überlegen, ob bestimmte Kompetenzen von der europäischen auf andere Ebenen ,zurück’ gegeben werden,“ aber nicht als generelles Ordnungsprinzip, denn ein paar Zeilen kommt er wieder auf den supranationalen Superstaat mit „verfassungsgebende(r) Versammlung für Europa, die zumindest durch allgemeine und gleiche Wahlen zusammengesetzt sein müsste.“

Linke Kritiker des EURO schlagen eine Rückverlagerung von Kompetenzen auch für die Einheitswährung vor. So meint z.B. Joseph Stiglitz: „Der Euro wurde mit den besten Intentionen geschaffen. Er sollte Europa einen, aber er hat Europa gespalten. Der beste Weg, um das rauszukommen, wäre eine stärkere Zusammenarbeit. Wenn das aber nicht möglich ist, sollte man eine Auflösung der Euro-Zone erwägen.“[5] Das Ende des Euro führt sicher nicht zu Faschismus und Krieg, wäre aber ein Beitrag zum Rückbau der Austeritätspolitik und damit verbundener Begleiterscheinungen, wie dem Anstieg nationalistischer Ressentiments.

Die Linke braucht in europapolitischen Fragen mehr solche nüchternen Abwägungen, anstatt der Sakralisierung, selbst solch trivialer Dinge wie einer Währung (Merkel: scheitert der Euro, scheitert Europa) auf den Leim zu gehen. Das ist auch das beste Gegengift gegen die andere Form der Desintegration, der konfrontativen, unkontrollierten, chaotischen, die es etwa in der Flüchtlingsfrage gibt.

Stattdessen sollte gezielt selektive Desintegration auf einzelnen Gebieten, Diversität und Flexibilisierung, Dezentralisierung, Regionalisierung, Subsidiarität bis hin zur Pluralität von ökonomischen Modellen angestrebt werden – kurzum eine Flexi-EU, die eher Netzwerkcharakter trägt, als Superstaat zu sein. Das kann z.B. auch bedeuten, in der Währungsfrage Alternativen zum Euro zu etablieren. Auf anderen Terrains kann auch eine Verstärkung der Integration versucht werden, z.B. beim einer gemeinsamen Energie- und Infrastrukturpolitik, die den ökologischen Umbau fördert.

Und wenn nicht alle 28 bei einem Projekt mitmachen wollen, muss es keine Zwangseinigung geben. Dann mach eben eine „Koalition der Willigen“ das. Im Euro-Sprech heißt das variable Geometrie der Zusammenarbeit. Im Ansatz gibt es das sogar schon, nämlich im Verfahren der sog. Vertieften Zusammenarbeit. Demnach kann eine Koalition aus mindestens neun Mitgliedsstaaten Projekte durchführen, ohne dass die anderen mitzumachen brauchen. Die Finanztransaktionssteuer wird derzeit in diesem Rahmen verhandelt. Das Verfahren ist noch zu restriktiv, aber der Grundgedanke ist richtig.

Anhänger einer zentralistischen EU kritisieren die Flexi-EU als Europa à la carte. Aber bevor der Laden eruptiv und chaotisch auseinanderfliegt, ist es besser, sich gezielt und gestalterisch auf einen kooperativen Umgang mit den Problemen einzulassen. Es ist ein Dritter Weg zwischen Nationalstaat und dem europäischen Superstaat. Aber es bedeutet auch den Abschied von der Illusion der „immer engeren Union,“ von den Vereinigten Staaten von Europa und der Sehnsucht nach der Supermacht Europa.

Flexi-EU und linke Strategie

Ein Hauptanliegen des Textes von Candeias ist, die Zusammenarbeit der EU-Linken zu fördern, „verbindende Perspektiven und Praxen zu finden,“ … „die Schaffung eines politischen Subjekts.“

Natürlich ist gegen internationale Zusammenarbeit der Linken nicht nur nichts einzuwenden, sondern sie sollte gesucht werden, wo immer möglich. Allerdings ist auch hier analytische Nüchternheit angebracht.

Der entscheidende Grund für die Schwierigkeiten der Integration ist die ökonomische, politische kulturelle etc. Heterogenität der EU. Anders als bei der Staatswerdung der Nationalstaaten, ist die EU-Integration auch nicht durch Homogenisierungsprozesse von unten begleitet.

Für ein materialistisches Gesellschaftsverständnis kann dies nicht ohne Folgen auf die Sicht sozialer Kämpfe bleiben. Wenn diese nicht Resultat voluntaristischer Entscheidungen, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche sind, dann reflektieren sie auch die real existierende Heterogenität innerhalb der EU. Ein Synchronität von Kämpfen, so wünschenswert sie wäre, ist daher nur in Ausnahmefällen denkbar. Deshalb ist der Wunsch, ein „europäisches Subjekt“ konstituieren zu wollen, zum Scheitern verurteilt. Stattdessen ist auch hier das Konzept der Flexi-EU der angemessenere Rahmen.

Die praktischen Erfahrungen mit linken Projekten auf EU-Ebene belegen dies. Selbst relativ erfolgreiche Kampagnen, wie die gegen das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI), die Bolkesteindirektive, die EU-Verfassung, für die Finanztransaktionssteuer oder derzeit gegen das TTIP waren immer anlassbezogene, zeitlich begrenzte Ein-Punkt-Kampagnen und de facto immer auf vier, fünf Länder beschränkt. Natürlich macht es sich gut, auf einem Podium zu TTIP jemanden aus Polen oder Irland dabei zu haben. Aber ein „europäisches Subjekt“ entsteht durch solche optischen Maßnahmen noch nicht.

Feste und anlassunabhängige Strukturen dagegen lösen sich entweder über kurz oder lang auf, wie das Europäische Sozialforum oder die Euromärsche. Oder sie agieren, sofern sie Geld haben, als Infrastruktur, wie etwa die europäischen Betriebsräte, der EGB und einige NGO-Netzwerke mit Büro in Brüssel. Aber ohne Bewegung in den großen Mitgliedsstaaten bleiben das bürokratische Apparate ohne Basis.

Auch hier zeigt sich, dass die nationalstaatliche Ebene der großen Mitgliedsländer die entscheidende Arena der Auseinandersetzung geblieben ist. Die EU ist eine hierarchisch strukturierte Veranstaltung, bei der die großen Spieler den Ton angeben. Wenn die deutsche Linke in der Lage wäre, eine anderer Position der Bundesregierung in der Griechenlandpolitik durchzusetzen, wäre jede weitere europäische Anstrengung überflüssig. Aus der – leider – starken Stellung Deutschlands in der EU ergibt sich eben auch eine besondere Verantwortung der deutschen Linken. Wenn sie davor versagt, kann sie sich nicht hinter ihrem Europäismus verstecken. Eine andere EU bedeutet zu allererst ein anderes Deutschland.

Anmerkungen

[1] www.atlanticbb.net/news/read/category/Europe%20News/article/the_associated_press eu_official_tusk_idea_of_one_european_nation_is_il-ap

[2] www.euractiv.com/section/eu-priorities-2020/video/juncker-this-will-be-the-last-chance-commission/

[3] Le Monde, 10.2.2016; auf Deutsch: Andreas Nölke, Raus aus der wirtschaftlichen Sackgasse – Aufruf von französischen Ökonomen, www.flassbeck-economics.de, 22.2.2016.

[4] Candeias, Mario: DIEM UND CO. April 2016, legacy.zeitschrift-luxemburg.de/debatte-europa-whats-left/

[5] Handelsblatt, 21.4.2016; 30.

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