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Sozialistische Klassenpolitik

Von Bernd Riexinger

Was die Klassenfrage für die LINKE bedeutet: verbinden statt gegeneinander ausspielen

Seit der Bundestagswahl hat die Diskussion an Fahrt aufgenommen, welche Milieus, sozialen Gruppen oder Klassen DIE LINKE anspricht und ansprechen kann – und wie das zu beurteilen ist. Bereits bei verschiedenen Landtagswahlen war ein Trend zu erkennen, der sich in der Bundestagswahl bestätigt hat: DIE LINKE gewinnt neue Wähler*innen unter jungen, häufig akademisch Gebildeten in den Großstädten und urbanen Zentren. Dort konnte der Zuspruch seit Parteigründung nahezu verdoppelt werden. Der Stimmenzuwachs am 24. September 2017 wäre ohne diese Entwicklung nicht möglich gewesen.

Gleichzeitig sind die Stimmenanteile der LINKEN unter Erwerbslosen und jenen, die sich in Umfragen selbst als „Arbeiter“ bezeichnen, zurückgegangen. Die AfD wiederum konnte bei diesen Gruppen dazugewinnen, in einigen Bundesländern ist sie hier stärkste oder zweitstärkste Partei. Auch bei Gewerkschaftsmitgliedern liegt die AfD über ihrem sonstigen Niveau. Manche schließen daraus, DIE LINKE hätte „die Arbeiterklasse verloren“. Zustimmend oder ablehnend wird von einer Entwicklung hin zu einer modernen Mittelschichts- oder „Hipsterpartei“ gesprochen, die nicht mehr in erster Linie Ansprüche an eine soziale Politik stellt, sondern für einen weltoffenen modernen Lebensstil steht und wenig interessiert ist an den Problemen und Anliegen der Lohnabhängigen. Um es vorwegzunehmen: Ich halte diese Interpretation für falsch. Die Diskussion wird dadurch erschwert, dass sie bisweilen von innerparteilichen Interessenlagen geleitet ist.

Wenn im Zuge dieser Debatten über Arbeiterklasse und Klassenpolitik diskutiert wird, ist das aber durchaus positiv. Und es ist nicht selbstverständlich – es gab durchaus Zeiten, da wurde eine Orientierung auf Interessen der Lohnabhängigen und auf die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit von Teilen der LINKEN als eher unmodern oder langweilig empfunden. Aber: Was genau Klasse und Klassenpolitik bedeuten kann, wie sich „die Arbeiterklasse“ in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat und was daraus für das Selbstbewusstsein und die politische Orientierung der Beschäftigten folgt – das sind Fragen, die mit Ruhe zu diskutieren sich lohnt.

Wer ist die Arbeiterklasse?

Während die Zahl der Beschäftigten und die gesellschaftlich insgesamt verausgabten Arbeitsstunden jedes Jahr einen neuen Höchststand erreichen, wird immer noch gern vom Ende der Arbeitsgesellschaft gesprochen. Mit der Digitalisierung verbinden sich ähnliche dystopische Erwartungen wie in den 1970er Jahren mit der Automatisierung. Ohne Zweifel wird es durch die Digitalisierung einen neuen Rationalisierungsschub geben; Berufe werden umstrukturiert, die Art des Produzierens wird sich teils grundlegend wandeln, die Anforderungen an den gesellschaftlich durchschnittlichen Bildungsgrad werden ebenso steigen wie die Anforderungen an die individuelle Bereitschaft, sich durch Fort- und Weiterbildung auf die neuen und immer schneller sich überholenden technischen Entwicklungen einzustellen. Nichts deutet aber darauf hin, dass dem Kapitalismus die Lohnarbeit ausgeht.

In linken Gruppen und Organisationen der 1960er und 1970er Jahren blieb die Orientierung auf die Arbeiterklasse – um deren Führungsanspruch sie häufig stritten, ohne dass sich die Arbeiterklasse darum geschert hätte – meist auf die Werktätigen in der Industrie beschränkt. Das war insofern erklärbar, als die in den Industriegewerkschaften organisierten Beschäftigten (darunter übrigens auch damals schon viele Migrant*innen) die Hauptakteure der wichtigsten Arbeitskämpfe der Nachkriegszeit waren; beispielsweise beim Kampf um die Montan-Mitbestimmung und um das Betriebsverfassungsgesetz, beim zwölfwöchigen Streik um Lohnfortzahlungen in Schleswig-Holstein 1956, bei den Kämpfen um Lohnerhöhungen in den 1960er und 1970er Jahren, bei den wilden Streiks in der Automobilindustrie 1969 und 1973, beim legendären Streik um die „Steinkühlerpause“ für Band- und Schichtarbeiter in Baden-Württemberg oder beim Kampf der Drucker um die Maschinenbesetzungsrechte. Einige Tarifergebnisse wurden verallgemeinert und in Gesetze gegossen, wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Erst Mitte der 1980er Jahre, nach der „geistig-moralischen Wende“ von Helmut Kohl, änderte sich das. 1984 führten die Industriegewerkschaften Druck- und Papier und die IG Medien den legendären Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche. Er war zugleich ein gesellschaftlicher Kampf um die Neuverteilung von Arbeit unter den Bedingungen wachsender Massenarbeitslosigkeit und um die Verfügung über die Zeit. Auch im öffentlichen Dienst fanden große Streiks statt, wenn auch seltener. Aber auch dort kamen die Akteure vorwiegend aus den klassischen Arbeiterbereichen: Es waren vorwiegend Müllwerker, Straßenbahner oder Beschäftigte in den Bauhöfen.

Im Zuge aufkommender Wirtschaftskrisen, sinkender Wachstumsraten sowie von Konzentrationsprozessen und Rationalisierungswellen veränderte sich die Produktions- und Dienstleistungsstruktur in den Industrieländern. Kurz: Die Beschäftigungszahlen in der Bauwirtschaft, im Bergbau, in der Stahlbranche und in der Industrie insgesamt gingen zurück. Sie bewegen sich heute in den meisten Industrieländern zwischen 12 und 20 Prozent. Gleichzeitig hat die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich erheblich zugenommen, also in der Pflege, im Gesundheitssektor, im Erziehungs- und Bildungswesen, im Handel, im Bereich Transport und Verkehr. Das sind zum Teil Folgen von Outsourcing: Die Putzkolonnen beispielsweise, die Fabriken reinigen, waren vor der Zergliederung der Unternehmen Teil der Industriebeschäftigten, danach waren sie Teil des Dienstleistungsproletariats. Heute gehören sie zu den prekarisierten Beschäftigten, die infolge der Arbeitsmarktreformen erhebliche Lohnverluste hinnehmen mussten. Aber es wandelte sich auch die Produktionsweise insgesamt, es sind völlig neue Branchen entstanden, wie der moderne Versandhandel, Internetfirmen usw. In den Dienstleistungsbereichen fanden bis Ende des letzten Jahrhunderts vergleichsweise wenige Arbeitskämpfe statt. Viele Branchen hatten bis Anfang der 1990er Jahre die Tarifabschlüsse der Industriegewerkschaften oder im öffentlichen Dienst einfach nachvollzogen, sodass die Beschäftigten kaum gezwungen waren, für ihre Interessen zu kämpfen. Das erklärt die relative Schwäche der Gewerkschaften in diesem Sektor, hat sich aber grundlegend geändert. Seit mindestens zwei Jahrzehnten bekommt jede Branche nur noch das, was sie sich selbst erkämpfen kann (von Ausnahmen abgesehen). Was sich auch verändert hat, ist die Auffassung, dass nur diejenigen, die im engen Sinne die Produktion lahmlegen können, wie die Industriebeschäftigten, imstande sind, erfolgreich zu streiken. Angesichts von Ausgliederung und Ökonomisierung verfügen auch Beschäftige in Dienstleistungsbranchen heute teils über relevante „Produktionsmacht“. Auch die Vorstellung, dass prekär Beschäftigte nicht zum Arbeitskampf bereit oder in der Lage wären, stimmt nicht mehr. Es hat sich also nicht nur die Zusammensetzung der Arbeiterklasse gewandelt, sondern auch das Selbstverständnis, die Methoden und die Kampfbereitschaft vieler Beschäftigter.

Nachhaltige Prekarisierung, Spaltung und Differenzierung

Der finanzgetriebene Kapitalismus wird verwaltet und befördert durch neoliberale Politik. Das Ergebnis ist eine Differenzierung, Spaltung und Prekarisierung der Lohnabhängigen. Leiharbeit, Werkverträge, strukturelle Unterbeschäftigung durch Midi- und Minijobs, unfreiwillige Teilzeit und Arbeit auf Abruf auf der einen und eine wachsende strukturelle Überbeschäftigung durch Überstunden und Entgrenzung der Arbeitszeit auf der anderen Seite sowie neue Formen von Scheinselbständigkeit, Befristungen und Projektarbeit kennzeichnen die neue Lage. Diese Beschäftigungsverhältnisse sind in die Struktur von Industrie und Dienstleistung eingeschrieben und nicht (mehr) von Konjunkturen abhängig. Sie erhielten durch die Agenda2010 ihre entscheidende ‚Geburtshilfe’, die einen der größten Niedriglohnsektoren der Industrieländer hervorgebracht hat – oder den „besten“, wie Gerhard Schröder das nannte. Inzwischen arbeitet in Deutschland etwa ein Drittel der Menschen dauerhaft in solchen kaum noch ‚atypisch’ zu nennenden Beschäftigungsformen. Neben der Absicht, die Lohnstückkosten zu senken, ging es darum, die Gewerkschaften zu schwächen – und auch das ist gelungen. Über mehr als zehn Jahre hinweg blieb die Lohnentwicklung unter dem „verteilungsneutralen Spielraum“, also der Entwicklung der Produktivität plus Inflationsrate. Im Klartext: Die Profite sind weit schneller gestiegen als die Löhne. In manchen Jahren hat sich das Kapital den gesamten Surplus angeeignet. Das müssen wir als eine erfolgreiche „Klassenpolitik von oben“ verstehen lernen.

Gleichzeitig bringt der Zusammenhang zwischen einem großen Niedriglohnsektor und der erfolgreichen Exportstrategie der Industrieunternehmen auch unterschiedliche Interessen bei den Kernbelegschaften und den prekarisierten Beschäftigten hervor, und erleichtert es der Kapitalseite, diese gegeneinander auszuspielen. Die Gewerkschaften schließen für gerade noch 51 Prozent der Beschäftigten im Westen und für nur noch 37 Prozent im Osten Tarifverträge ab. Wer nicht tarifgebunden arbeitet, verdient durchschnittlich 18 Prozent weniger, von den übrigen Arbeitsbedingungen ganz zu schweigen. Die Lohnerhöhungen in den Dienstleistungssektoren bleiben weit hinter den kapitalintensiven und besser aufgestellten Branchen zurück, die von den Industriegewerkschaften organisiert werden. Doch auch hier werden Tariferhöhungen oft mit einer Verringerung der Fertigungstiefe – also einer weiteren Zergliederung der Produktionsketten – erkauft. Die mangelnde Durchsetzungsmacht im Dienstleistungsbereich ist eine der Ursachen dafür, dass die Differenz in der Bezahlung zwischen Industrie und Dienstleistungen durchschnittlich 10.000 Euro im Jahr beträgt. Die Arbeit in personennahen Dienstleistungen – wo überwiegend Frauen beschäftig sind – ist viel zu schlecht bezahlt.

Was heißt unter diesen Bedingungen sozialistische Klassenpolitik?

Alle Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und in ihrer Stellung in den Betrieben keine unternehmerische Funktion ausüben, sind Teil der Klasse der Lohnabhängigen oder – klassisch gesprochen – der Arbeiterklasse bzw. der Arbeiter*innenklasse, wie es richtiger heißen müsste. Das ist der Begriff der Arbeiterklasse, wie ihn Marx geprägt hat. Der verengte Blick auf die (männlichen) Werktätigen in der Industrie oder die Unterscheidung zwischen denen, die Werte schaffen, und den anderen ist im besten Falle schlechter Ökonomismus. Für ein Verständnis der Prozesse wie für linke Strategiebildung hilft das nicht weiter. Wir brauchen einen weiten Blick, um überhaupt zu verstehen, dass sich die Arbeiterklasse heute völlig anders zusammensetzt als noch vor 30 oder 40 Jahren, und um zu begreifen, was das für sozialistische Klassenpolitik heute bedeutet.

Der These, DIE LINKE hätte „die Arbeiterklasse verloren“, liegt ein enger Blick zugrunde. Diese Aussage ist nicht nur verkürzt, sondern falsch. Wir sind von 14 Prozent der Gewerkschafterinnen und 11 Prozent der Gewerkschafter gewählt worden. Das bedeutet auch: Mehr Pflegekräfte in den Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen haben uns gewählt, dafür vielleicht weniger Handwerker oder klassische Industriearbeiter. Letzteres ist bedauerlich und sollte unbedingt Gegenstand unserer Überlegungen sein. Aber warum sollten Pflegekräfte, Erzieherinnen, Verkäuferinnen oder Beschäftigte bei Amazon weniger Teil der Arbeiterklasse sein als solche in der Industrie oder im Handwerk? Die Arbeiterklasse setzt sich heute anders zusammen und ist zugleich zutiefst gespalten und ausdifferenziert. Sie ist weiblicher, migrantischer und ihre Angehörigen sind deutlich häufiger im Dienstleistungsbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig als früher. Sie umfasst gleichzeitig so viele Lohnabhängige wie noch nie.

Die Arbeiterklasse ist auch gebildeter. 50 Prozent eines Jahrgangs machen Abitur, fast so viele studieren. Sie stammen keinesfalls mehrheitlich aus der gehobenen Mittelschicht oder finden dort ihre Zukunft. Sie sind oder werden in ihrer überwiegenden Mehrheit lohnabhängig Beschäftigte, häufig sogar mit niedrigerem Einkommen als ihre Eltern, viele davon mit längeren Phasen prekärer Arbeit. Vielleicht werden sie auch Techniker*innen, Ingenieur*innen oder kaufmännische Angestellte. Das gehobene Bildungsniveau sagt etwas über die veränderten Anforderungen der gegenwärtigen Produktionsweise aus, aber nicht notwendigerweise etwas über die Klassenlage. Bei Bosch in Stuttgart arbeiten gerade noch 30 bis 40 Prozent der Beschäftigten in der Produktion. Der überwiegende Teil arbeitet in der Entwicklung, in der Informations- und Datenverarbeitung oder in der Verwaltung. Sie sind Teil der Arbeiterklasse. Auch die Veränderungen bei den Erwerbslosen wären näher zu untersuchen: Die offizielle Zahl der Erwerbslosen hat sich in den letzten Jahren halbiert. Aber viele werden in Minijobs oder unfreiwillige Teilzeit gedrängt. Ihre Selbstbezeichnung in den Nachwahlbefragungen – und darauf stützen sich ja viele unserer Diagnosen über eine Verschiebung in den Milieus – kann sich dadurch verändert haben.

DIE LINKE braucht eine verbindende Klassenpolitik: Sie darf die verschiedenen Milieus nicht gegeneinander ausspielen, einen Gegensatz zwischen Prekären, Erwerbslosen, Arbeiter*innen und neuen Beschäftigtengruppen aufbauen. Im Gegenteil, sie muss diese verschiedenen Milieus und ihre Interessen miteinander verbinden. Dabei geht es nicht nur um Fragen der Löhne und Arbeitsbedingungen, sondern auch um Fragen der Lebensweise sowie um kulturelle, ökologische und demokratische Interessen – auch diese gilt es ernst zu nehmen und mit sozialen Fragen (wieder) zu verbinden. Es geht um umfassende Klasseninteressen, die auf die Umgestaltung des Ganzen der Organisation der Gesellschaft zielen (vgl. hierzu Urban in diesem Heft). Darauf hatte beispielsweise E.P. Thomson in seiner Untersuchung zur Entstehung der englischen Arbeiterklasse hingewiesen. In diesem doppelten Sinne von verbindender Praxis geht es nicht nur um eine bessere gewerkschaftliche, sondern um eine sozialistische Klassenpolitik im umfassenden Sinne.

Neue Kämpfe spiegeln die Veränderung wieder

Marx wird die Unterscheidung von „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ zugeschrieben (vgl. hierzu Vester in diesem Heft). Nach Marx und Engels spielen bei der Klassenzugehörigkeit nicht nur die Position im Produktionsprozess eine Rolle, sondern auch die Praxis der Menschen, ihre Kämpfe und ob und inwieweit sie sich ihrer eigenen Stellung bewusst sind. Klassen als sozialstrukturelle Einheiten bestehen unabhängig davon, ob die Betroffenen ein Bewusstsein über ihre Klassenzugehörigkeit haben. Klassenbewusstsein jedoch ist das Ergebnis von Organisierung, von historischen Bewegungen, von Kämpfen und Auseinandersetzungen. Es bedarf einer Auseinandersetzung mit der eigenen Stellung in der Gesellschaft, mit den eigenen Interessen.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends haben sich neue Akteure und neue Streikformen herausgebildet. Beschäftigte unterschiedlicher Branchen sind gewerkschaftlich besser organisiert als zuvor. Die Streiks haben eine neue Qualität erreicht: im Einzelhandel, im Bewachungsgewerbe, bei den Bodenverkehrsdiensten an den Flughäfen, bei GateGourmet, im Reinigungsgewerbe, in CallCentern in den neuen Bundesländern, bei den privaten Omnibusbetrieben oder bei Amazon. Häufig befinden sich die Akteure in der Grauzone zwischen Kernbelegschaften und prekärer Beschäftigung. Sie kämpfen für bessere Bezahlung und für eine Re-Regulierung ihrer Arbeit. Auch Streiks im öffentlichen Dienst haben an Zahl und Intensität zugekommen. Hier sind neue und mehr weibliche Akteure dazugekommen. Die längsten und heftigsten Streiks fanden im Einzelhandel statt, hier ging es um den Erhalt des Flächentarifvertrages. Beeindruckend waren zudem die bundesweiten Kämpfe der Erzieher*innen um bessere Bezahlung und um eine Aufwertung ihrer Arbeit sowie die Auseinandersetzungen am Berliner Universitätsklinikums Charité um eine tarifliche Personalbemessung. In diesen Branchen sind viele Migranten*innen beschäftigt, die oftmals zu den entschiedensten Akteuren dieser Kämpfe gehören. DIE LINKE und ihre Mitglieder spielten häufig als ehren- oder hauptamtliche Gewerkschafter*innen eine wichtige und vorwärtstreibende Rolle. Viele dieser Streiks wurden durch Aktive aus den Basisorganisationen unterstützt. Das ist eine wichtige Aufgabe linker Politik.

Gemeinsame Klasseninteressen herstellen

Es ist keinesfalls selbstverständlich, dass die verschiedenen Beschäftigtengruppen gemeinsame Interessen überhaupt erkennen, zusammen Forderungen aufstellen und sich miteinander verbinden. Oft ist das Gegenteil der Fall und dies wird vom Kapital und seinen Repräsentanten auch befördert. Oft herrscht das Prinzip des Teilens und Herrschens. So grenzen sich Tarifbeschäftigte von Leiharbeiter*innen ab, Beschäftigte von Erwerbslosen, Angehörige der Kernbelegschaften von Befristeten. In einer Untersuchung zu prekärer Arbeit von Klaus Dörre wurden die Befragten gebeten, nachfolgende Aussage zu bewerten: „Eine Gesellschaft, die alle mitnimmt, ist nicht überlebensfähig.“ Selbst in einem gewerkschaftlich gut organisierten Betrieb stimmten 51 Prozent dieser Aussage zu. Die jahrzehntelange Dominanz neoliberaler Ideologie sowie der ständige Konkurrenzkampf auf den globalisierten Märkten haben in den Köpfen der Menschen ihre Spuren hinterlassen. Der gleiche Mechanismus der Abgrenzung greift derzeit gegenüber Geflüchteten, wobei hier nicht nur nach ‚unten’ getreten wird, sondern viele sich nach ‚außen’ abschotten wollen.

Tatsächlich haben Leiharbeiter*innen und Kernbeschäftigte aber gemeinsame oder zumindest ähnlich gelagerte Interessen. Prekäre Arbeit drückt auf den Lohn und die Arbeitsbedingungen der Kernbeschäftigten und verschlechtert die Standards. In Befragungen der IG Metall kommt das durchaus zum Ausdruck: Die Regulierung von Arbeit und die Fähigkeit, über die eigene Zeit zu bestimmen, haben bei den Befragten einen hohen Stellenwert. Solche gemeinsamen Interessen zu formulieren und ihnen in der gewerkschaftlichen und politischen Praxis zum Durchbruch zu verhelfen ist eine zentrale Aufgabe der Linken, und besonders auch unserer Partei. Das geschieht im Alltag durch kollektives Handeln, in dem das Gemeinsame und nicht das Trennende im Vordergrund steht. Und es geschieht im politischen Raum. Die Linke hat die Aufgabe, die Interessen der verschiedenen Gruppen von Erwerbslosen und Beschäftigten politisch zu vertreten und perspektivisch zu einer ‚Gegenmacht’ zusammenzuführen.

Ein solcher Versuch findet sich im Konzept eines „neuen Normalarbeitsverhältnisses“ der Partei DIE LINKE (Riexinger/Becker 2017). Hier geht es um Antworten auf die Frage, wie Arbeit so reguliert und demokratisiert werden kann, dass Erwerblose, Prekäre und Kernbeschäftigte deutliche Verbesserungen erfahren und nicht länger gegeneinander ausgespielt werden können. Auch die Stärkung des Öffentlichen, eine Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von privat zu öffentlich, ist Bestandteil einer solchen sozialistischen Klassenpolitik.

In ihren besseren Zeiten haben sich die Organisationen der Arbeiterbewegung nicht nur um Löhne und Arbeitsbedingungen gekümmert, sondern auch um ihre Reproduktionsbedingungen. Sie kämpften sie zum Beispiel für bessere Bildungs- und Freizeiteinrichtungen. In der italienischen Tradition wurde vom „sozialen Lohn“ gesprochen, um den Zusammenhang mit den Kämpfen um Lohn und Arbeitsbedingungen zu betonen. Der Zugang zu Erziehung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum (überhaupt eine der wichtigsten sozialen Fragen in den Ballungsräumen) und Kultur entscheidet auch heute über die Lebensqualität und den Wohlstand der Beschäftigten und ihrer Familien. Auch hier wurden in den letzten Jahren mehr Kämpfe und Auseinandersetzungen geführt, haben sich neue Bündnisse gebildet: gegen die Privatisierung von Krankenhäusern, gegen Gentrifizierung und ständige Mieterhöhungen, gegen Milliardengräber wie “Stuttgart 21”, für die Rekommunalisierung von Stromnetzen, für einen besseren und preiswerten ÖPNV und für mehr und bessere Kindertagesstätten. Manchmal kommen die Interessen der Beschäftigten, der Anwohner*innen oder Nutzer*innen bestimmter Dienstleistungen unmittelbar zusammen: So nützt der Kampf der Krankenhausbeschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen auch den Patienten*innen und ihren Angehörigen. „Mehr von uns ist besser für alle“, der Slogan aus den Kämpfen für eine ausreichende und verbindliche Personalbemessung, ist allen sofort eingängig.

Sowohl die Auseinandersetzungen um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen als auch die ums Öffentliche müssen gegen die besitzende Klasse geführt und Fortschritte müssen gegen sie durchgesetzt werden. Auch hier geht es für DIE LINKE darum, diese Interessen zu formulieren und die Kämpfe miteinander zu verbinden. Beide Male geht es um Klasseninteressen, die in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen übersetzt und durchgesetzt werden müssen. Dass Menschen Teil der Arbeiterklasse und gleichzeitig weiblich, Migranten*innen oder Geflüchtete sind – das ist kein Gegensatz, sondern die Form der konkreten Klassenzusammensetzung. Inhaltlich und praktisch muss DIE LINKE also zwischen Identitäten und Milieus Verbindungen herstellen, sodass eine gemeinsame Klassenpolitik möglich wird. Ohne Reduktionismus.

Literatur

Riexinger, Bernd/Becker, Lia, 2017: For the many, not the few: Gute Arbeit für Alle! Vorschläge für ein Neues Normalarbeitsverhältnis, in: Sozialismus, Supplement zu Heft 9/2017

Dieser Beitrag ist eine Vorveröffentlichung von “Marxte noch mal?” – LuXemburg 2-3/2017, die in Kürze erscheint.