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SOZIALISTISCHE KAPITAL-VERWERTUNGSMASCHINE? Das Konzept des »Modernen Sozialismus« neu betrachtet

von Michael Brie und Dieter Klein

Land fasst moderne Gesellschaften als »Innovationsmaschinen« und drängt auf einen von permanenter Selbsterneuerung gekennzeichneten Sozialismus. Er rührt damit an ein Defizit linker Sozialismus-Auffassungen: Wie kann ein Regulationsmechanismus beschaffen sein, der Innovationen fördert und die Gesellschaft den Zielen einer freien Entwicklung jeder und jedes Einzelnen und der Bewahrung der Natur als Bedingung der freien Entwicklung aller unterstellt? Lands Antwort ist die »gesellschaftlich eingebettete -Kapitalverwertungswirtschaft« (vgl. Luxemburg 2/2010, 89 ff [1]). Das -»formale Prinzip der Kapitalverwertung« wirke je nach Kontext völlig unterschiedlich. Faschismus, Stalinismus, New Deal und Wohlfahrtskapitalismus werden als Beispiele genannt, die Bedingungen der je unterschiedlichen Entwicklungen sind aber nicht Gegenstand seiner Analyse. Was nötig wäre – und ob es überhaupt möglich wäre –, um den neoliberalen Finanzmarkt-Kapitalismus in eine andere Richtung der Kapitalverwertung zu drängen, kann so nicht gefragt werden.

Unsere These ist dagegen: Wenn die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit vor allem als Kapitalverwertungswirtschaft verfasst ist, dann setzt sich die Dominanz von Verwertungsinteressen zwangsläufig durch, auch in der Lebenswelt. Sozialismus kann zwar Kapitalverwertung nutzen, aber diese darf nicht die Wirtschaft insgesamt prägen. Die Kluft zwischen einer kapitalistischen Wirtschaft und einer sozialistischen Lebenswelt kann niemand überspringen.

Aus der »formalen« Struktur einer Kapitalverwertungswirtschaft ergeben sich eine Reihe von Zwängen:

1 | Sie wird immer dazu tendieren, die Bedienung des Kredits über die Reproduktion der natürlichen oder kulturellen Gemeingüter, der Arbeitskraft oder auch der Produktionsmittel zu stellen.

2 | Sie ist profitdominiert. Unter den Bedingungen freien Kapitalverkehrs und offener Konkurrenz werden Kredite dorthin fließen, wo die Profite am höchsten sind. Kapitalverwertungswirtschaften selektieren nicht nur formal nach Gewinn, sondern bestimmen Ziele, nicht nur der Unternehmen, sondern dann auch der Mehrheit der Bevölkerung und der Politik.

3 | Kapitalverwertung ist mit einer hohen Vermögensakkumulation verbunden und -privilegiert die Interessen der -Vermögenden, die weitere Vermögen anhäufen. Die Übermacht der Kapitaleigentümer ist in der Kapitalverwertungswirtschaft verankert.

4 | Eine Kapitalverwertungswirtschaft erzeugt die Dominanz privater Kapitalverwertung über den Staat und die Gesellschaft. Da die staatlichen wie die privaten Haushaltseinkommen in einer solchen Wirtschaft von den Steuern bzw. Löhnen abhängig sind, müssen sich Staaten daran orientieren, Unternehmen anzusiedeln, und Erwerbstätige müssen sich gemäß der Forderungen des Arbeitsmarkts verhalten – dies beginnt schon in der Schule.

Diese vier Tendenzen münden in einen fundamentalen Widerspruch: Eine Kapitalverwertungswirtschaft unterwirft sich die Gesamtheit der Verwertungsbedingungen (Arbeitskraft, Natur, Kultur, Geld usw.), kann diese aber nicht allein aus sich heraus reproduzieren. Sie ist deshalb auf ökonomische, soziale und ökologische Regulation, ein öffentliches Bildungssystem, Zentralbanken usw. angewiesen, richtet diese jedoch an der Kapitalverwertung aus.

Deshalb kann eine Kapitalverwertungswirtschaft nicht sozialistisch ausgerichtet werden. Die gute Absicht zerbricht an der Realität. Die Gegenbewegungen modifizieren die Tendenz, sind aber nicht in der Lage, sie dauerhaft umzukehren.

Orthodox marxistische und kommunistische Parteien und Bewegungen hatten aus dieser Erkenntnis den Schluss gezogen, die Grundstrukturen des Kapitalismus – und mit ihm der Demokratie, zusammen von uns als »Moderne« gefasst – selbst abzuschaffen. Wirtschaft und Gesellschaft seien direkt dem Gesamtwillen unterzuordnen. Es sollte eine Identität von gesellschaftlichen und individuellen Interessen erzeugt werden. Dies aber ist nicht möglich und mündet in Unterdrückung, Unfreiheit und Stagnation: hilfloser Antikapitalismus (Haug 2007).

Sozialismus als solidarische Moderne

Wenn weder der Rückfall in Staatssozialismus und kommunistisches Gemeineigentum noch ein Beharren auf der bloß veränderten Einbettung der Kapitalverwertungswirtschaft möglich sind, muss ein dritter Weg gesucht werden. Dies war bereits Impetus der Gruppe »Moderner Sozialismus« an der Humboldt-Universität zu Berlin und ihrem Umfeld von Reformsozialisten der DDR.

Land verweist auf eine ganze Reihe von Vorschlägen, die in diesem Umfeld des Reformsozialismus entwickelt wurden. Dazu gehörten eine Stärkung von Mitbestimmung der Belegschaften und Räte in den Aufsichtsräten großer Unternehmen, die ökologische, Verbraucher- und Regionalinteressen repräsentieren sollten. Es wurde ein einklagbares verfassungsmäßiges Recht auf einen guten Arbeitsplatz und eine Demokratisierung der Medien gefordert (Land 2010). Die Vorschläge zielten darauf, dass (1) in der Wirtschaft nicht die Kapitalverwertung dominiert, (2) Politik in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, die Unternehmen langfristig binden, und (3) die konkreten Ziele einer freien Entwicklung jeder und jedes Einzelnen in den Lebenswelten einer Kulturgesellschaft umgesetzt werden. Die gegensätzliche Vermittlung von Widersprüchen der Moderne, in der die eine Klasse sich auf Kosten der anderen, Männer auf Kosten von Frauen, der Norden auf Kosten des Südens, das Soziale auf Kosten des Ökologischen, die Wirtschaft auf Kosten von Kultur usw. entwickelt, sollte der solidarischen Vermittlung dieser Widersprüche weichen. Zentrales Problem ist Lands Identifizierung von innovationsfähigen Wirtschaftsorganisationen (im weitesten Sinne Unternehmen, öffentlichen wie privaten) mit Kapitalverwertungswirtschaften. Wenn beide synonym wären, dann wäre jede moderne Wirtschaft der Dominanz der Kapitalverwertung unterworfen. Eine sozialistische Transformation wäre ausgeschlossen. In einer Gesellschaft des modernen Sozialismus könnten Unternehmen in vielen Bereichen auch Kapitalverwertungsgesellschaften bleiben, aber nicht mehr dominant. Wir sehen deshalb in der Unterordnung der Kapitalverwertungsziele unter breiter gefasste unternehmerische Ziele ein grundlegendes Merkmal eines sozialistischen Transformationsprozesses (zur Transformation allgemein: Klein 2010). Einige Grundprozesse einer solchen Transformation sollen im Folgenden benannt werden.

Die Struktur: Im Kapitalismus entstehen die Ziele der Entwicklung aus der Profitorientierung privater Wirtschaft. Aufgabe einer linken Politik ist es, die Macht und Eigenständigkeit der Individuen so zu entwickeln, dass sie nicht mehr primär Ware Arbeitskraft sein müssen, sondern die von Land betonte Eigenständigkeit der Lebenswelten möglich wird. Sie sind der Ort, wo individueller Sinn und gesellschaftliche Bedeutung erzeugt werden. Sozialismus ist eine Kulturgesellschaft. Er hat seine Grundlage in einer öffentlichen (weder verstaatlichten noch privaten) Kulturproduktion. Dazu gehören eine bedarfsorientierte Grundsicherung, ein breiter öffentlich geförderter Sektor, eine solidarische Daseinsvorsorge. Die »Vier-in-einem-Perspektive« eines Lebens, das sich gleichberechtigt Erwerbsarbeit, Fürsorgearbeit, gesellschaftlichem Engagement und eigener Selbstentwicklung widmet (Haug 2008, 20), ist zentraler Teil eines linken Projekts. Wichtige soziale und kulturelle Güter gehören in die Hände von Bund, Ländern, Kommunen, Vereinen, Genossenschaften. -Bildung, Gesundheitsvorsorge, Sicherheit, viele Kultur- und Sport- sowie Freizeiteinrichtungen müssen gemeinnützig sein. Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger sich in einer -relativen Unabhängigkeit von der Arbeit um des bloßen Erwerbs bilden und entwickeln können, werden auch Ziele entstehen, die weit über den profitkonformen Konsum des »eindimensionalen Menschen« (Marcuse 1967) hinausgehen.

Wir plädieren deshalb für eine solidarische Mehrsektorenwirtschaft, deren Schwerpunkte in der sozialen Reproduktion (»care economy«, Candeias 2010, 16f), der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und der kulturellen Entwicklung liegen. Dafür hat sie die ökonomischen Mittel bereit zu stellen und weit mehr als bisher die Ressourcenproduktivität, nicht allein die Arbeitsproduktivität zu steigern. Der übergroße Teil des gesellschaftlichen Reichtums würde dann nicht in profit-orientierten Unternehmen entstehen. Die zumindest partielle Umstellung der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme von lohnbezogenen Abgaben auf eine Wertschöpfungsabgabe würde arbeitsintensive Bereiche humanorientierter Dienstleistungen fördern. Wichtig ist auch, dass die gemeinnützigen Unternehmen demokratisch, transparent und erneuerungsfähig werden, worüber die Linke viel zu selten spricht.

Die wichtigsten Güter: In einer Kapitalverwertungswirtschaft werden die Gemeingüter von Unternehmen weitgehend kostenlos in Anspruch genommen. Sie beutet die öffentlichen Güter aus. Linke Politik muss sich darauf richten, diese Ausbeutung zu beenden. Die Inanspruchnahme öffentlicher Güter durch private Unternehmen ist zu refinanzieren. -Demokratische Entscheidungsprozesse samt einer flexiblen politischen Gestaltung von Hauptrichtungen gesellschaftlicher Entwicklung müssen sich auf ökonomische Macht in Gestalt demokratisch kontrollierten öffentlichen Eigentums in der Daseinsvorsorge, im Finanzsektor und in der Energiewirtschaft stützen können. Demokratischer Sozialismus ist daher ein transformatorischer Prozess der Veränderung von Eigentums- und Machtverhältnissen, der dem Öffentlichen größtes Gewicht verleiht – öffentlichem Eigentum, öffentlichen Gütern, öffentlicher Daseinsvorsorge und öffentlich geförderter Beschäftigung, öffentlichen kulturellen Räumen und der Beteiligung der Öffentlichkeit an Entscheidungen. Die profitdominierte Wirtschaft würde einer Wirtschaft weichen, die vor allem auf die Bereitstellung der öffentlichen Güter – gute Arbeit (vgl. den Beitrag von Bernd Röttger im Heft), soziale Sicherheit, Umweltschutz usw. – gerichtet ist.

Die Mittel: In einer Kapitalverwertungsökonomie haben die Kreditgeber, die Shareholder und ihre Vertreter das Sagen. Es ist dieses Prinzip des Profits, das in die gegenwärtige Krise des Kapitalismus mündete und dazu führt, dass kapitalistisches Wachstum den Reichtum, die Natur und den sozialen Zusammenhang der Gesellschaft zunehmend zerstört.

Das Wesen des demokratischen Sozialismus, individuelle Freiheit jeder und jedes Einzelnen in einem selbstbestimmten Leben durch entsprechende Bedingungen und Solidarität zu sichern, ist keine für die Wirtschaft direkt wirksame Handlungsorientierung, die Innovation und Evolution auslöst. Dieses Ziel ist zunächst nur eine Vision und muss in konkrete Triebkräfte übersetzt werden.

Die Persönlichkeitsentfaltung aller als Leitidee bedarf einer Fülle einzelner Entscheidungen, in denen höchst differenzierte Bedürfnisse und Interessen verschiedener sozialer -Gruppen und Individuen in Einklang miteinander und mit gesamtgesellschaftlichen -Interessen gebracht werden müssen, um daraus -Anforderungen an die Wirtschaft und andere gesellschaftliche Teilsysteme abzuleiten. Die Widersprüche sind ständig neu zu vermitteln. Jede zentralistische Planung ist damit überfordert.

Es bedarf komplexer Aushandlung und neuer Unternehmensformen. An die dafür notwendigen institutionellen Innovationen werden folgende Anforderungen zu stellen sein: Sie müssen

Linke Politik sollte darauf zielen, die Kreditfunktion weitgehend zu sozialisieren, die Bildung großer Vermögen einzuschränken und das Management den Interessen der Stakeholder der Unternehmen unterordnen.

Die politische Form: Die politischen Entscheidungen im Kapitalismus müssen sich letztlich der Verwertungslogik unterwerfen, da Abwanderung von Unternehmen zugleich Wegbruch der Steuer- und Sozialeinnahmen bedeutet und die gesellschaftliche Stabilität bedroht.

Ein moderner Sozialismus mit solidarischer Mischwirtschaft hingegen umfasst einen starken öffentlichen Sektor, private Wirtschaft unter strenger Wettbewerbskontrolle und Formen genossenschaftlicher und solidarischer Wirtschaft. Sie würde sich im Rahmen von Planung, gestaltender Struktur- , Wirtschafts- und Forschungspolitik und wirtschaftsdemokratischer Formen des Einflusses von Belegschaften, Gewerkschaften, Verbraucherinnen und Verbrauchern, Kommunen und sozialen Bewegungen von der betrieblichen bis zur EU-Ebene entwickeln. »Die Demokratisierung der Demokratie ist Vorbedingung und Teil der Überwindung des Kapitalismus« (Brangsch/Brie 2010).

Zum Schluss: Sozialismus kann nicht auf einer Kapitalverwertungswirtschaft gegründet werden. Eine bloß veränderte Einbettung reicht nicht. Die vier Säulen eines modernen Sozialismus sind eine solidarische Mehrsektorenwirtschaft, das Primat der Produktion öffentlicher Güter, eine Gewaltenteilung in der Wirtschaft, die die Berücksichtigung der Komplexität der Interessen erzwingt, und eine partizipative Demokratie. Mit diesen Zielen, so unsere Überzeugung, kann linke Politik an Reformvorschläge (vgl. Hansjörg Herr, Sebastian Dullien und Christian Kellermann in diesem Heft) anknüpfen, sie in Einstiegsprojekte einer radikalen Transformation verwandeln und Elemente einer neuen Gesellschaft entwickeln.

 

Literatur

Brangsch, Lutz, und Michael Brie, 2010: Demokratisierung der Demokratie. in: Dieter Klein aaO. i. Ersch.
Candeias, Mario, 2010: Von der fragmentierten Linken zum Mosaik, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, 1, 6–17
Haug, Frigga, 2008: Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke, Hamburg
Haug, Wolfgang Fritz, 2007: Zur Dialektik des -Antikapitalismus, in: Das Argument 269, 11–34
Klein, Dieter, 2010: Die zweite Große Transformation und die Linke, Reihe Kontrovers der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin
Land, Rainer, 2010: Eine demokratische DDR? Das Projekt »Moderner Sozialismus« und Kapitalverwertungsökonomie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 11, 13–19
Marcuse, Herbert, 1967: Der eindimensionale Mensch, Darmstadt u. Neuwied
Marx, Karl, und Friedrich Engels, 1848: Manifest der -Kommunistischen Partei, MEW 4, 459–93
Schumpeter, Joseph, 1911: Theorie der wirtschaftlichen -Entwicklung, Berlin 2006