| Soziale Infrastruktur statt Grundeinkommen?

Juli 2013  Druckansicht
von Thomas Gehrig

Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können – so auch in den Diskussionen um ein bedingungsloses Grundeinkommen: Erwerbslose, Soloselbständige und prekär Beschäftigte versprechen sich davon mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Kann das Nachdenken über »soziale Infrastrukturen« hier neue Perspektiven und Bündnisse ermöglichen?

Ungleichheit, Sozialpolitik, Umverteilung

Sozialpolitische Forderungen sind umstritten, seit sie erhoben werden. Sie werden erhoben in dem Moment, in dem bürgerliche Freiheitsrechte sich durchzusetzen beginnen. Und sie werden nicht zuletzt deshalb erhoben, weil bürgerliche Freiheitsrechte explizit die sozialen Bedingungen ausblenden, unter denen sie gelten sollen. Bürgerliche Gleichheit bedeutet: Es ist Armen wie Reichen verboten, unter Brücken zu schlafen. Bürgerliche Freiheit ist Eigentümerfreiheit. Das soziale Recht auf Arbeit wird im frühen 19. Jahrhundert gefordert und sogleich vom Bürgertum abgelehnt.

Die bürgerliche Gesellschaft ist durch soziale Ungleichheiten gekennzeichnet. Die an Arbeit gebundene Klasse muss sich ihre Position, ihre Anerkennung innerhalb dieses Systems erst erstreiten. Im Ringen um politische Macht erkämpft sie die demokratische Republik – und zunehmend auch soziale Zugeständnisse. Diese erzwingen ein Sozialsystem, das sich zu einem notwendigen und funktionalen Moment des bürgerlichen Staates und seiner Ökonomie entwickelt. Der Sozialstaat muss die Existenz des Proletariats überhaupt möglich und erträglich machen. Er darf die divergierenden Teile der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu weit auseinanderdriften lassen – kurz: er zielt auf einen Klassenkompromiss.

An dieser Stelle tritt der ambivalente Charakter des Sozialstaats zutage. Er agiert für den Kapitalismus, gegen die Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes, gegen das Herz des Kapitalismus.

Die Vorstellung einer selbständigen Institution Staat, die zum Subjekt gesellschaftlicher Veränderung gemacht werden könne, wird von Müller und Neusüß später (1970) als (wiederkehrende) Sozialstaatsillusion analysiert. Sie sehen die Illusionen darin begründet, dass der Kapitalismus lediglich als Zirkulationszusammenhang begriffen wird (33ff). Bereits Marx war dies bewusst. Er spricht von der »Illusion«, dass der Staat »bestimmt, wo er bestimmt wird« (Marx 1843: 305). In Bezug auf den Sozialstaat heißt das schwierige Kunststück linker Politik: »Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich« (Diemer/Völker 1982).

Die Not der Arbeiter bleibt ein strukturelles Problem des Kapitalismus und ist so Gegenstand der Sozialpolitik. Diese soll für gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen, dazu muss sie umverteilen. Sie muss Vorkehrungen treffen für diejenigen, die überflüssig sind oder unbrauchbar für den kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozess. Also vor allem jene, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst generieren können. Die andauernde Freisetzung von Arbeitskraft, der so genannte Fortschritt sowie die wiederkehrenden ökonomischen Krisen machen aber beständig Teile der Bevölkerung überflüssig.

Wäre die sozialstaatliche Sicherung der Subsistenz nicht mehr durch die Arbeit vermittelt, wäre – über das Recht auf Arbeit hinaus – ein Recht auf Subsistenz verwirklicht und damit die Logik des Arbeitsmarktes, also letztlich auch die der kapitalistischen Ökonomie, außer Kraft gesetzt. Leben ohne Zwang zur Arbeit wäre möglich – eine märchenhafte Utopie, die in der bürgerlichen Vorstellungswelt reifen konnte. Verallgemeinert man diese Perspektive, bedeutet sie jedoch das Schlaraffenland, entweder in der Variante mit den gebratenen Tauben, die uns in die Münder fliegen, oder als technikfetischistische mit Replikatoren und Robotern, die Roboter bauen etc. In allen anderen, auch utopischen Varianten muss, wenn auch stark reduziert, noch gearbeitet werden.

Es ist eine andauernde Aufgabe der Sozialpolitik, für das Segment der Überflüssigen Sozialtransfers zu organisieren. Zugleich muss dabei der Zwang, seine Arbeitskraft auf dem Markt zur Verfügung stellen zu müssen, aufrechterhalten werden. Der Sozialstaat muss die Bürger beständig anhalten, selbst für ihre Subsistenz zu sorgen. Er muss sie fordern, wo sie oft nur gefördert zu werden wünschen. Er wird repressiv, nicht zuletzt weil in der liberalen Vorstellungswelt die soziale Situation Resultat freier Entscheidung bzw. Fehlentscheidung ist. Die Nationalökonomen sprechen von der Arbeitslosigkeit als einer freiwilligen, als Resultat zu hoher Löhne und der Kartellmacht der Gewerkschaften. Der Sozialstaat wird repressiv, weil er sich beschränken soll auf das Notwendige, weil wenig Staat sein soll und weil er seine Mittel vom Eigentum der Bürger nimmt, wozu er nur unter besonderen Umständen das Recht hat.

Es ist einerseits diese Repression, die auf die alltägliche Demütigung hinausläuft, die mit der gegenwärtigen Sozialpolitik verbunden ist: nicht als Bürger mit Rechten vor der Amtsperson zu stehen, sondern bittstellend. Es ist andererseits die Absurdität einer gesellschaftlichen Situation, in der es offensichtlich sein müsste, dass Repressionen gegenüber Transferbeziehern nicht dazu führen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden. Es ist die Absurdität, Menschen zu drangsalieren, als gäbe es die Realität des Arbeitsmarktes mit anhaltender, struktureller Massenarbeitslosigkeit nicht. Unter diesem Blickwinkel erscheint die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, einem Existenzgeld nicht nur verständlich, sondern vernünftig.

Offene Fragen eines bedingungslosen Grundeinkommens

Liberale haben ein Grundeinkommen vorgeschlagen, um den Staat abzubauen, indem bürokratische sozialstaatliche Verfahren abgebaut werden. Hier verläuft eine Linie von Milton Friedman bis zu den Parteien der gegenwärtigen Regierungskoalition. Grundsicherungsforderungen beinhalten also einen antistaatlichen Affekt. Für die einen geht es um Abbau des Repressionsapparats, für die anderen um Entbürokratisierung mit der Perspektive weitergehender Privatisierung. Insofern ist diese Forderung nach Grundsicherung eine im Kern liberale Forderung.

In der BRD haben wir bereits eine Grundsicherung im Alter und in besonderen Lebenslagen. Sie orientiert sich an der Höhe der gängigen Sozialtransfers (ALG II). Eine Ausweitung dieser Form der Grundsicherung, die auf dem bisherigen Niveau bleibt oder es vielleicht sogar noch unterschreitet und die für die Erwerbsfähigen den Zwang zur Bereitstellung der Arbeitskraft aufrecht erhält, ist Fortschritt im liberalen Sinne.

Existenzgeld-Varianten unterscheiden sich davon durch zwei wesentliche Punkte:

1 | quantitativ: die Geldleistungen sind deutlich höher angesetzt und

2 | qualitativ: der Zwang, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen – Grundmoment aller bisherigen staatlichen Transferleistungen – entfällt.

Angesichts dieser zugespitzten Variante eines garantierten bedingungslosen Grundeinkommens ist der Frage nachzugehen, unter welchen Bedingungen ein solches ökonomisch funktionieren kann. Die Frage der Finanzierung stellt sich dabei unmittelbar. Zahlen die Reichen und Kapitaleigner? Die Standortbedingungen würden sich damit katastrophal verschlechtern. Zahlen alle über immens erhöhte Verbrauchssteuern? Hier besteht die Gefahr, dass das, was vom Sozialstaat gegeben wird, vom Steuerstaat wieder genommen wird. Oder bleiben die Abgabestrukturen, wie sie jetzt sind? Viele Lohnabhängige, die tagtäglich vor Augen geführt bekommen, wie das gegenwärtige System der Finanzierung von Sozialleistungen funktioniert, befürchten zu Recht, dass sie die Kosten der neuen Sozialpolitik tragen müssen.

Betrachten wir die Höhe eines möglichen bedingungslosen Grundeinkommens. Bleibt es gerade so an der Schwelle bisheriger Sozialtransfers, so dass Lohnarbeit für alle wünschenswert bleibt, die etwas besser, sicherer, gesünder und nachhaltiger leben wollen, und beruht das Existenzgeld auf der Umverteilung unter den Lohnabhängigen, so ist es der arbeitenden Bevölkerung nicht so leicht näherzubringen. Dazu bedarf es keines Verweises auf einen ›Arbeits-Fetisch‹ oder eine Lohnarbeitsfixierung. Sicher spielen diese Motive bei einer spontanen Ablehnung von Transfermodellen eine Rolle. Die Klassensolidarität ist nicht sehr ausgeprägt, das ›Teile und herrsche‹ funktioniert zu gut.

Was sind aber die gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen eines bedingungslosen Grundeinkommens und wer hat sie zu tragen? Wird es zu einer ernstzunehmenden Alternative zur Lohnarbeit – ist es also so ausgestaltet, dass es den Vorstellungen eines menschenwürdigen Lebens im emphatischen Sinne entspricht, und nicht nur nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes, und kann es soziale Teilhabe ermöglichen, wie sie die BefürworterInnen verstehen –, so muss es notwendigerweise das Fundament untergraben, auf dem es aufsitzt: das funktionierende ökonomische System der Lohnarbeit. Ist es wirkliche Alternative zur Lohnarbeit, d.h. zur Ausbeutung, zur Entfremdung, führt es zur Möglichkeit einer von materiellen Sorgen befreiten, selbstbestimmten Lebensgestaltung, bedeutet dies, dass die Attraktivität der Lohnarbeit ins Bodenlose sinkt. Wer produziert dann noch und wie wird produziert und verteilt? Wer ein bedingungsloses Grundeinkommen der eben definierten Art fordert, eines, das nicht bloß der mehr oder weniger soziale Ersatz bisheriger Sozialtransfers ist, muss wissen, dass damit diese Fragen unmittelbar zur Beantwortung anstehen.

Bei einigen ist jedoch das Nicht-Funktionieren gerade der politische Trick des Existenzgeldes: Wir fordern das Existenzgeld und wenn es erst eingeführt ist, bricht (deshalb) der Kapitalismus zusammen. »Die Existenzgeld-Forderung soll der Wolf im Schafspelz sein. Die vorgestellte Utopie setzt auf die Nasführung der ›Massen‹.« (Donat 1999)

Die politische Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ist trotz aller Bedenken zeitgemäß. Sie bietet einen Anlass, einen Schritt zurückzutreten und sich der grundlegenden Abläufe und Notwendigkeiten einer sich reproduzierenden Gesellschaft in heutiger Zeit noch einmal bewusst zu werden. Was muss produziert werden, wie viel muss dafür gearbeitet werden, wie kann diese Arbeit verteilt werden etc.? Die Forderung ist wichtig in einer Gesellschaft, die auf einem Stand der Produktivkräfte der Arbeit angelangt ist, die bei anderer Organisation der Produktion mit einem Bruchteil der Arbeitsleistung auskommen würde. Die Palette dessen, was wegfallen könnte, reicht vom eingebauten Verschleiß und der Warenfälschung bis zu einer Reihe ›parasitärer‹ Arbeiten, die nur für das Gelingen des kapitalistischen Systems notwendig sind (Werbung, Banken, Versicherungen etc.). Sie ist zeitgemäß, weil die Absurdität auffällt, dass eine beträchtliche Anzahl von Menschen von der Arbeitsgesellschaft ausgeschlossen bleibt. Sie ist auch zeitgemäß, weil bewusst wird, dass eine Ökonomie, die auf Expansion, auf ständige Erweiterung angelegt ist, mit den Problemen eines steigenden Ressourcenverbrauchs in einer an Ressourcen endlichen Welt konfrontiert ist.

Mit einem umfänglichen bedingungslosen Grundeinkommen gehen jedoch noch weitere Ungereimtheiten einher, weitere ökonomische Probleme tauchen auf: Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte sich beispielsweise zu einer gigantischen Lohnsubvention ausweiten, sofern es kein Mindestlohngesetz gibt. Da der Grundbedarf der Arbeitenden gedeckt ist, wäre es möglich, bestimmte Arbeiten nur noch mit sehr geringem Lohn zu vergüten. Die Befürchtung, es werde verstärkt zu Schwarzarbeit kommen, ist nicht abwegig, wenn die verbliebene Lohnarbeit deutlich stärker besteuert wird. Was die Kapitalseite von solchen Standortbedingungen hält, die mit einem bedingungslosen Grundeinkommen einhergehen würden, lässt sich leicht ausmalen.

In seinen unterschiedlichen Varianten bleibt das bedingungslose Grundeinkommen ein Konzept einer alternativen Sozialpolitik – weniger eine Alternative zur Sozialpolitik und zu jener Gesellschaft, die sie notwendig macht. Allseits wird das Ende der bisherigen Sozialsysteme diagnostiziert. Die in gewissem Rahmen geregelten und gesicherten fordistischen Lohnarbeitsverhältnisse, auf denen sie beruhen, lösen sich immer weiter auf. Die Zeiten der Vollbeschäftigung müssen als eine Art Betriebsunfall des Kapitalismus begriffen werden. Vollbeschäftigung, so zeigt sich, ist nur in bestimmten und begrenzten historischen Konstellationen möglich. Darüber hinaus ist die Perspektive Vollbeschäftigung offenbar nur durch Werttransfers aus den Peripherien zu erreichen. Sie sind notwendig, um die nationale Bevölkerung umfassend an die Kette wachsenden Wohlstands zu legen.

Wie genau sollte also eine Grundsicherung ausgestaltet sein? Und welche Form der Grundsicherung wird sich unter den herrschenden politischen Verhältnissen realisieren? Die Auseinandersetzung, die die Linke in Bezug auf Grundsicherung führen muss, dreht sich nicht darum, ob ein solches eingeführt wird – denn das ist zu erwarten –, sondern wie hoch es sein wird und mit welchem Grad von Arbeitszwang es gekoppelt wird.

Soziale Infrastrukturen – eine Alternative

Eine andere Alternative zur gegenwärtigen Sozialpolitik ist die Forderung nach einer Sozialen Infrastruktur (www.links-netz.de). Sie geht über die nach Existenzgeldzahlungen hinaus. Die Idee ist einfach: Es ist Aufgabe des Staates, den Menschen das, was für ein menschenwürdiges Leben notwendig ist, zur Verfügung zu stellen, ohne dass ihre finanziellen Ressourcen eine Rolle spielen. Dies trifft vor allem die Bereiche Bildung, Gesundheit, Mobilität/Nahverkehr und Wohnen. Politisch kann die Forderung nach einer Sozialen Infrastruktur als eine verbindende Perspektive für unterschiedliche sozialpolitische AktivistInnen gesehen werden. Sie wird immer plausibler, je weniger wir hinsichtlich dieser Grundbedürfnisse von Chancengleichheit reden können. Grundeinkommen ist in diesem Modell zwar auch vorgesehen, der Fokus liegt jedoch nicht auf Geldzahlungen, sondern auf der sozialen Infrastruktur, auf sozialer Sicherheit und Chancengleichheit für alle BürgerInnen. Dass eine Forderung noch keine soziale Bewegung schafft, die sie umsetzen könnte, ist evident. Es geht zunächst um eine übergreifende sozialpolitische Perspektive. Soziale Auseinandersetzungen müssen diese Perspektive und Forderung mit Leben erfüllen. Die Kämpfe für eine Soziale Infrastruktur können dabei zugleich Kämpfe um ihre Ausgestaltung und um Beteiligung sein. Soziale Infrastruktur hat als Ziel, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen, und kann sie dabei umfassend demokratisieren, sie in die Hände der ProduzentInnen und NutzerInnen legen. Wir würden so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen.

 

Literatur

Diemer, Niko und Wolfgang Völker, 1982: Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich? Probleme mit dem Sozialstaat, in: Widersprüche, 4/5,
Donat, Andreas, 1999: Radikale ExistenzgeldreformistInnen, in: Widersprüche 73, 89-105
Marx, Karl, 1843: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1
Müller, Wolfgang und Christel Neusüß, 1970: Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, in: Sozialistische Politik, 6/7