| SORGEARBEIT GLOBAL

September 2010  Druckansicht
Von Shahra Razavi

Die feministische Debatte um Sorgearbeit hat blinde Flecken im ökonomischen, neoklassischen Denken aufgedeckt: Monetarisierte Bereiche der Ökonomie werden privilegiert und die unbezahlte Sorgeökonomie unsichtbar gemacht. Doch auch die feministische Literatur blieb vielfach »lokal«, viele Ergebnisse gelten nicht universell. Es gibt ein wachsendes akademisches (und politisches) Interesse an der Migration von Frauen aus dem Süden in den Norden, wo sie in Privathaushalten und öffentlichen Einrichtungen arbeiten. Die Folgen neoliberaler Globalisierung konnten herausgearbeitet werden, doch der empirische Fokus blieb weitgehend auf Arrangements und Institutionen von Sorgearbeit im Norden beschränkt. Sorgearrangements in so genannten Entwicklungsländern sind wenig untersucht.

Konnten die feministischen Arbeiten, die sich überwiegend mit den post-industriellen demokratischen Ländern der Ersten Welt beschäftigten, die blinden Flecken überwinden?

SORGE ALS ANKER UND PERSPEKTIVE

Gute Sorge erfordert eine Reihe von Ressourcen: materielle, Zeit und Fähigkeiten. In so genannten Entwicklungsländern können weder eine angemessene Infrastruktur oder Technologien, die die Produktivität unbezahlter Hausarbeit steigern, vorausgesetzt werden, noch die Verfügbarkeit von bezahlter Arbeit mit angemessener Entlohnung, um z.B. nährstoffreiche Ernährung zu kaufen oder die Fahrt zum nächstgelegenen Gesundheitszentrum zu bezahlen.

Viele feministische Beiträge zu Sorgearbeit thematisieren die »Zeitarmut«, die üblicherweise in Untersuchungen zum Wohlbefinden ignoriert worden ist. Zeitarmut kann nur im Zusammenhang mit materieller Armut betrachtet werden: Zeitarm und einkommensreich zu sein (wie viele in urbanen Zentren arbeitende Fachleute), ist etwas anders als zeitarm und einkommensarm zu sein – eine indische Zeitbudgeterhebung würde wohl zeigen, dass dies für viele einkommensschwache Männer und Frauen zutrifft. Und wiederum etwas anderes ist es, zeitreich und einkommensarm zu sein in Folge erzwungener Untätigkeit – ein ernsthaftes Problem in den »Arbeitskraftreserve«- Ökonomien des südlichen Afrika, wo das Kapital nicht länger angewiesen ist auf die Arbeitskräfte, die es seit Generationen aus der Landbevölkerung abgezogen hat.

Statt a priori anzunehmen, dass Entwicklung und Wachstum zu einer Verbesserung von (Für)sorge und menschlichem Wohlergehen führen, muss der Prozess von »Entwicklung« und Kapitalakkumulation aus der Perspektive der Sorgearbeit betrachtet werden.

Makroökonomische Politik müsste fragen: Begünstigt Kapitalakkumulation – eine Notwendigkeit für so genannte Entwicklungsländer – Sorge und steigert sie menschliches Wohlergehen? Oder geht sie zu Lasten von beidem? Es gibt viele Belege, dass Kapitalakkumulation, die auf der Steigerung weiblicher Lohnarbeit zum Zweck der Exportproduktion basiert, nicht dadurch kompensiert wird, dass die unbezahlt geleistete Sorgearbeit von Frauen und Mädchen reduziert würde. In diesen Fällen kommt es zu einer Ausweitung der Gesamtzeit, die Frauen mit bezahlter und unbezahlter Arbeit verbringen, sowie zu einer Verschlechterung der Qualität der Produkte unbezahlter Arbeit, vor allem durch die Verknappung von Zeit für Sorgearbeit.

DIE SORGEÖKONOMIE UND DIE FRAGE, WAS EIGENTLICH AUS DER HAUSARBEIT GEWORDEN IST

Ein Großteil der Sorgeliteratur, die die entwickelte Welt zum Referenzpunkt nimmt, schließt – trotz der hitzigen Hausarbeitsdebatte der 1970er Jahre – Hausarbeit aus ihrer Definition von Sorgearbeit aus. Sorgearbeit wird meist definiert als die zwischenmenschlichen emotionalen und Beziehungsinteraktionen. Ein Kind zu füttern oder ihm ein Buch vorzulesen, ist Sorgearbeit, das Essen zuzubereiten jedoch nicht; einen älteren Menschen zu baden, ist Sorgearbeit, seine Kleidung und Bettwäsche zu waschen nicht.

Dies führt zu Verzerrungen in Klassenund Einkommensanalysen. Hausarbeit nimmt weiterhin einen beträchtlichen Teil weiblicher Arbeitszeit in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen ein, da Frauen dort nicht in der Lage sind, ihre Hausarbeit über den Markt zu regeln, indem sie Dienstleistungen oder gebrauchsfertige Ersatzprodukte kaufen. Konzeptionell bleibt also unscharf: Warum ist Essenszubereitung keine Sorgearbeit, das Füttern selbst aber schon?

Aus Längsschnittstudien und Ländervergleichen ist bekannt, dass der Anteil unbezahlter, für Hausarbeit aufgewendeter Arbeit durch die Nutzung zeitsparender Technologie, die Auslagerung an Putz- und Haushaltskräfte etc. abnimmt, wenn Länder reicher werden. Der Anteil, der in die direkte Sorge für andere fließt, nimmt dagegen zu. Sorge für Personen wird damit zum »Luxusgut«: Arme wenden weniger dafür auf, Reiche mehr.

Der Sorgebedarf korreliert nicht mit der Zeit, die tatsächlich für die Sorge für andere aufgewendet wird, wie Zeitbudgeterhebungen dokumentieren. So verwenden z.B. Frauen in Korea und Argentinien, obwohl die demographischen Strukturen in diesen Ländern eine niedrigere Sorgebelastung suggerieren, relativ mehr Zeit für Sorgearbeit als Frauen in Tansania, Indien und Südafrika.

n wohlhabenden Haushalten werden Kinder wahrscheinlich stärker einzeln betreut: durch kleinere Haushalte, durch die Möglichkeit zur Auslagerung von zeitaufwendiger Hausarbeit an bezahlte Dritte und weil die Bedeutung von quality time, die mit Kindern zu verbringen sei, ideologisch aufgeladen ist (wie auch das Berichten darüber in Umfragen als sozial erwünscht gelten kann). Bei Armen in armen Ländern hingegen nimmt der mühsame Teil der Sorgearbeit – Wasserholen, Verarbeitung von Lebensmitteln und Vorbereitung von Nahrung – überdimensional viel Zeit in Anspruch, so dass nur wenig Zeit für die »interaktiveren« Aspekte von Sorge bleibt. Das bedeutet nicht, dass sie wenig Zeit mit Sorgearbeit verbringen.

DIE SORGE-RAUTE

Die an der Bereitstellung von Sorge beteiligten Institutionen können als Raute (care-diamond) dargestellt werden: Familie/Haushalt, Märkte, öffentlicher Sektor und gemeinnütziger Sektor. Dieses Bild ist stark vereinfacht, da die beteiligten Institutionen oft komplexe Funktionsweisen haben und die Grenzen nicht eindeutig oder statisch sind. So subventioniert und reguliert (und erschafft manchmal) der Staat das von Märkten und gemeinnützigen Organisationen bereitgestellte Angebot. Außerdem unterscheidet sich die Sorge-Raute je nach sozio- ökonomischer Schicht: Es gibt unterschiedliche Sorgewelten in unterschiedlichen Klassen.

Die Sorge-Raute zeigt die Vielzahl der Orte, an denen (Für)sorge produziert wird, und die Rolle von staatlicher Politik, kollektiver Verantwortung sowie gesellschaftlichen Entscheidungen, die einige Formen der Bereitstellung gegenüber anderen privilegieren. Dadurch kann die Mikroebene einer Analyse unbezahlter Sorgearbeit – die meist innerhalb verwandtschaftlicher Beziehungen stattfindet – mit anderen Formen der Sorgearbeit verknüpft werden, die über marktförmige Beziehungen oder kollektive Bereitstellungsformen vermittelt sind.

In die Modernisierungserzählung ist die Vorstellung eingeschrieben, dass sich alle Länder auf einem linearen Entwicklungspfad bewegen, und zwar mit einer unvermeidlichen Verschiebung von »privater«, also v.a. familiärer und ehrenamtlicher, hin zu öffentlicher Erbringung von Sorge durch Staat und Markt. Entwicklungsländer werden in einschlägiger Literatur oft insgesamt als »familialistische« Regime bezeichnet, in denen Wohlfahrt und Sorge durch informelle Familiennetzwerke und -beziehungen sichergestellt werden. Zwischen einzelnen Entwicklungsländern bestehen jedoch große Unterschiede. Einige weisen eine relativ leistungsfähige Staatlichkeit auf, fiskalisch wie administrativ, und erbringen soziale und Sorgedienstleistungen und soziale Absicherungsmaßnahmen. Beispiele sind hier Argentinien, Südafrika und Korea.

Viele so genannte Entwicklungsländer experimentieren unter Überschriften wie »menschliche Fähigkeiten« (human capabilities), »Armutsbekämpfung« oder »sozialer Sicherheit« mit staatlicher Sozialpolitik, was direkte oder indirekte Auswirkungen auf Sorgearbeit und die Geschlechtergerechtigkeit hat.

Es ist wichtig, staatliche Sozialpolitiken und kollektive Formen von Sorge trotz ihrer weithin bekannten Defizite (Sorgearbeit wird schlecht bezahlt und bleibt weiblich, selbst im öffentlichen Sektor) in den Blick zu nehmen. Dies bewahrt uns davor, ausschließ- lich auf Interventionen auf der Mikroebene zu schauen, die z.B. darauf abzielen, mehr Männer in Sorgearbeit zu integrieren, so wie wir es derzeit in verschiedenen multilateralen politischen Institutionen beobachten können. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein feministischer Gedanke von Einrichtungen globaler Politikgestaltung absorbiert und dazu genutzt wird, zum Teil regressive politische Bestrebungen zu befördern, deren Absicht es ist, die Rolle des Staates und der Gesellschaft als Verantwortungsträger für die aus Sorgearbeit entstehenden Kosten zu delegitimieren – Kosten, die überproportional von den schwächeren Teilen der Gesellschaft getragen werden.

Ich bezweifle, dass uns Maßnahmen auf der Mikroebene wie z.B. die Stärkung der Vaterschaft in Entwicklungsländern weiterbringen werden. Hier müsste viel mehr getan werden, Politiken und Programme (öffentlich finanzierte oder subventionierte Formen der (Für)sorge, Einkommensumverteilung zugunsten einkommensschwacher großer Familien) und strukturelle Veränderungen (mehr und bessere Arbeitsplätze, besonders für Frauen) umzusetzen, um die Kosten für Sorgearbeit umzuverteilen und Frauen die Neuverhandlung ihrer Sorgeaufgaben zu ermöglichen. Die Grenzen der »geteilten Verantwortung zwischen Frauen und Männern« sind besonders in jenen Kontexten deutlich, wo wie z.B. in Nicaragua und Südafrika ein wesentlicher Teil von Haushalten mit Kindern hauptsächlich von Frauen und ohne die physische Präsenz oder finanzielle Beteiligung der Väter geführt wird.

DIE SORGE-RAUTE UND DER »WOHLFAHRTS-MIX«

Regierungen könnten die Sorge-Raute in einer Mischung aus öffentlicher und privater Bereitstellung von Sorge ausgestalten, die allen Zugang zu Dienstleistungen ermöglicht und gute Arbeitsbedingungen für Sorgearbeiter bietet – vorausgesetzt, dass die Staaten nichtstaatliche Anbieter regulieren können und eine (teilweise) Kostenübernahme für einkommensschwache Nutzer bereitstellen. Und es muss Finanzen und den Willen geben, ins öffentliche Gesundheitswesen, in öffentliche Bildung sowie angemessene Infrastruktur als Grundlage sozialer Leistungen zu investieren. Um Kosten zu sparen, gehen Regierungen stattdessen oft so genannte public-private-partnerships ein.

Gerade in ungleichen Gesellschaften führt Pluralismus im Bereich von Wohlfahrt und Sorge häufig zu Fragmentierung: Die private Versorgung der Wohlhabenderen ist oftmals staatlich subventioniert, während der Mehrheit der Bevölkerung nur die mageren Ressourcen der qualitativ schlechten öffentlichen und kommunalen Leistungen zugute kommen – und sie oftmals noch unter der Hand oder mit Sachleistungen zuzahlen müssen. Eine Veränderung von Prioritäten hängt nicht allein von politischen Haltungen und von Stärke und Sichtbarkeit sozialer Bewegungen ab. Ebenso wichtig ist, dass die Staaten – und sei es aus instrumentellen Gründen – gewillt sind, Sorgelasten zu reduzieren und Chancengleichheit zu schaffen. Viele dieser Bemühungen haben ethnische, rassistische oder klassenbedingte Schieflagen: etwa gebildete, weiße Frauen zum Kinderkriegen zu ermutigen oder die »richtige« Sozialisierung migrantischer Kinder bzw. Kinder ethnischer Minderheiten. Und wie ein Land in die Weltwirtschaft eingebunden ist, entscheidet häufig über fiskalische und politische Spielräume.

Forschungsberichte sind erhältlich auf: www.unrisd.org/research/gd/care. Aus dem Englischen von Anna Müssener