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SOLIDARITÄT UND COMMONS

Von Peter D. Thomas

Konzept und Wirklichkeit von Solidarität gehören zu den wertvollsten »Quellen der Hoffnung«, die im langen Kampf in der und gegen die kapitalistische Modernisierung entwickelt worden sind. Verstanden als eine in den täglichen Kämpfen erfahrene und gelebte Wirklichkeit, hat der Ruf nach Solidarität zumindest für manche die Stärke eines kategorischen Imperativs, einer unmittelbaren Übereinstimmung von Mitteln und Zweck. Solidarität ist niemals unmittelbar oder tatsächlich gegeben, sondern entsteht mühsam und absichtsvoll als Antwort auf konkrete Probleme und Kämpfe. Sie bezeichnet ein Engagement, »da zu sein«, nicht aufgrund gemeinsamer Identität oder gemeinsamen Wesens, sondern gerade auf der Grundlage einer »ununterscheidbaren Differenz«. Ihre Bedeutung wird in der Praxis einer aktiven Bezugnahme auf Kämpfe entwickelt. Man kann also sagen, dass Solidarität auftritt, wenn Interessen aus unterschiedlichen, manchmal sogar widersprechenden Gründen in die Teilnahme an einem gemeinsamen Projekt münden und dabei die einzelnen Bestandteile sowohl bestärkt als verändert werden. Solidarisch zu handeln, bestünde demnach nicht zuvorderst darin, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Klasse oder einem Kollektiv herauszustellen. Vielmehr bedeutete es, soziale Beziehungen so herzustellen, dass jedes statische Verständnis des Kollektivs in Frage gestellt wird. Solidarität ist als solches eine konkrete Utopie im Blochschen Sinn, eine Hoffnung auf eine zukünftige Form der gesellschaftlichen Organisation, die gleichzeitig ein Versprechen ist: bereits in der Gegenwart auf deren Verwirklichung hinzuarbeiten. Die Praxis der Solidarität kann verstanden werden als andauerndes Experimentieren in den Formen demokratischer Erfahrung, die hinausgeht über die formalistische Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und ihrem Staat, zwischen sozial und politisch, Assoziation und Organisation, Norm und Wirklichkeit. Solidarität ist die eigentliche »materielle Verfassung« der modernen Arbeiterbewegung und ihres Bündnisses mit anderen ausgebeuteten und unterdrückten gesellschaftlichen Gruppen, die Form, in der Perspektiven und Praxen einer möglichen Selbst-Regierung des unreduzierbar Verschiedenartigen erarbeitet werden.

Solidarität nimmt als Konzept vielfältige Erfahrungen der Kämpfe auf, versucht neue Formen des Zusammenlebens zu finden. Sie fragt nach einem Weg, über vorbürgerliche kommunitaristische Praxen und Identitäten wie über neue Formen der Fragmentierung und der partikularistischen Trennung der kapitalistischen Vergesellschaftung hinauszugehen. Demirovic´ betont im vorliegenden Heft, dass die geschichtliche Entwicklung des Konzeptes nicht ohne tiefe Widersprüche und Anfechtungen vonstatten ging, gerade weil die gesellschaftlichen Formen, auf die sich Solidarität zu beziehen versucht, selber widersprüchlich und umstritten sind. Es ist sicherlich richtig, dass einige Fassungen von »Solidarität« sich innerhalb des Bestehenden und seiner juristischen und administrativen Formen bewegten – Solidarität etwa verstanden als außer-rechtliche Anerkennung der Anteile der Anteillosen (Rancière). Oder Solidarität verstanden als Bindemittel, das die einzelnen gesellschaftlichen Atome durch eine Verwaltungsinstanz oder eine »Norm« von oben einigt. Diese Fassungen von Solidarität gehen überein mit jenen Kämpfen der »subalternen Klassen«, die geschichtlich innerhalb der Schranken des »engen bürgerlichen Rechtshorizontes« bleiben, wie Marx dies genannt hat – sozialdemokratischer oder gewerkschaftlicher »Reformismus«, syndikalistische Kämpfe, die eher darauf zielen, die schlimmsten Auswirkungen der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise zu mildern als die Ursachen radikal in Frage zu stellen. Aus anderen Erfahrungen heraus wurde versucht, dieses widersprüchliche Konzept in eine andere Richtung zu entwickeln – unter anderen Luxemburg, Lenin, Gramsci und Thompson haben eine Richtung aufgemacht, in der die aktive Herstellung von Solidarität zwischen verschiedenen Interessengruppen die Umrisse einer Gesellschaft bereitstellt, die nach Prinzipien von Gegenseitigkeit, Reziprozität und Kooperation gestaltet ist. In diesem Sinne kann die langsame, ungleichzeitige und notwendigerweise widersprüchliche Entwicklung des Konzeptes über die Jahrhunderte als Entdeckung von möglichen neuen Leitlinien eines ethischen Lebens und politischer Organisation verstanden werden, die nicht hinter den verschiedenen normativen und juristischen Paradigmen zurückbleiben, die in der aktuellen akademischen, politischen und philosophischen Diskussion – ganz zu schweigen vom politischen Mainstream – anerkannt sind. Mit dem Wiederaufleben von solidarischen Praxen ist eine unserer wichtigsten theoretisch-politischen Herausforderungen, die Umrisse eines Konzeptes von Solidarität auszuarbeiten, das die herrschenden Ideologien auf ihrem eigenen Feld herausfordern kann, also als »realistische« Theorie über die Grenzen und Möglichkeiten gegenwärtiger politischer Aktivität dient.

Der »Waliser-Europäer« Raymond Williams hat in Culture and Society 1780- 1950 argumentiert, dass die Vorstellung von Solidarität »mit seiner Definition des gemeinsamen Interesses als tatsächlichem Eigeninteresse, das seine Verwirklichung vor allem in der Gemeinschaft findet«, möglicherweise »die eigentliche Basis der Gesellschaft ist« (1959, 332, Übers. d. Red.). »Solidarität« birgt für ihn die Möglichkeit einer genuin demokratischen Gesellschaft, die in der Lage wäre, eine »gemeinsame Kultur« zu realisieren. Nicht eine vereinheitlichte Gesellschaft – wie ihm von Kritikern vorgeworfen wurde –, sondern eine komplexe Organisation, die beständig im Fluss wäre und für die das Gefühl der Solidarität als einziges stabilisierendes Moment dient. Ziel ist eine »Vielfalt ohne Trennung«. Ein solches dialektisches Verhältnis zwischen Einheit und Vielfalt sei nur zu verwirklichen, indem Praxen und Prinzipien der Vergesellschaftung gefunden werden, die gegenseitige Verantwortlichkeit und Ausgleich beinhalten. Dadurch verwandle sich das defensive Element der Solidarität in eine weitere, positive Praxis der Nachbarschaft (vgl. 333f). Aufgrund dieser »nicht-kommunitären Gemeinschaft« verstand Williams Solidarität nicht nur als Kampf gegen das Alte, sondern als Praxis, die die Saat des Neuen trägt.

In Folge der Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre nahm diese programmatische Dimension von Williams’ Verständnis von Solidarität einen stärker pragmatischen Zug an, wohl angesichts der beeindruckenden Beispiele von Arbeiterbewegungs-Solidarität und »Nachbarschaft« im niedergeschlagenen Bergarbeiterstreik der 1980er. Towards 2000 ist eine der frühesten und eindringlichsten Kritiken des neoliberalen Konsenses – Williams nannte es die »Vereinfachungen der Plan-XTechnokraten«, die er ironisch als »Sehrspätkapitalismus« bezeichnet. Jede zukünftige sozialistische Neugestaltung unserer Gesellschaften erschaffe notwendig komplexere Strukturen und Erfahrungen von privatem und öffentlichem Leben, »neue gemeinschaftliche Institutionen« oder politische Formen, die die Erfahrung von Solidarität in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verkörpern und verstärken könnten (1961, 375).

Die politische Wirklichkeit und ihre Reflexion wandelten sich schon bald grundlegend. Mit dem allgemeinen Sieg des Neoliberalismus und seiner Dezimierung der organisierten Arbeiterklasse vor allem in den 1980er und 1990er Jahren scheinen Bezugnahmen auf Solidarität einigen als nostalgische Sehnsucht nach einer früheren und unwiederbringlich verlorenen politischen Kultur. Sie wird verbunden mit dem vorherigen »fordistischen« Moment, in dem die Arbeiterklasse angeblich durch Erfahrungen gemeinsamer Identität und ausschließender Gemeinsamkeiten geprägt war. In vielen Staaten wurde Solidarität im vollen Sinne – gerade auf dem wichtigsten Gebiet der Gewerkschaften – für illegal erklärt und ist es bis heute. Gleichermaßen hinderlich ist, dass »Solidarität« in vielen theoretischen Diskussion in Misskredit geraten scheint, offensichtlich befleckt durch Spuren von »organischem« und »essenzialistischem Kommunitarismus«, vor dem Williams gewarnt hat. Diese theoretischen Empfindlichkeiten treiben im Fahrwasser der politischen Wirklichkeiten. Theorien über unreduzierbare Identitäten und Differenzen antworten auf gesellschaftliche Auflösungserscheinungen. Solidarität impliziert ihrerseits die Möglichkeit einer Anordnung von Vektoren, die auf Vereinigung zielen.

Dennoch haben die politischen und gesellschaftlichen Bewegungen der letzten 15 Jahre zu einer Wiederkehr der politischen wie theoretischen Debatten geführt, was eine »gemeinschaftliche Lebensweise« bedeuten könnte. Niederlagen, Enttäuschungen und Rückschläge haben das nicht immer leicht sichtbar gemacht, aber diese Jahre waren eine langsame »politische Akkumulation« von Erfahrungen von Widerstand und neuen Perspektiven auf eine zukünftige Gesellschaft. Im Verlauf dieses Prozesses wurde Solidarität als Konzept wiederentdeckt und transformiert. Die Neuformierung der Linken in Deutschland (auch die Diskussionen der Rosa Luxemburg-Stiftung) ist eine – längst fällige – Zurückweisung der Rede von »unvermeidbaren neoliberalen Fragmentierungen« der Neuen Mitte und New Labour.

Indem Konzept und Wirklichkeit von Solidarität ins Zentrum der Diskussion gegenwärtiger Organisationsformen gestellt werden, bietet diese Debatte nicht nur eine »historische Linie«, auf der die Reflexionen angestellt werden. Vielversprechend ist, dass sie auch eine Möglichkeit bietet, diese Tradition im vollen Sinne zu beerben: als Wiederbelebung der dynamischen Spannungen, die die Entwicklung von Solidarität als Konzept und Wirklichkeit begleitet haben, innerhalb von und gegen die gegenwärtige Verfasstheit der Gesellschaft. Diese Auseinandersetzung ist durch bestehende rechtliche und politische Formen überdeterminiert, aber der historische, konkrete Inhalt weist, mindestens der Möglichkeit nach, in Richtung einer Zukunft jenseits der Abstraktionen des bürgerlich-kapitalistischen Staates.

Auch in gegenwärtigen theoretischen Debatten ist diese Bewegung spürbar. Gegen Partikularismus, Regionalismus oder identitäre Konzepte der vorhergehenden philosophischen Konjunkturen (kurzgefasst als depolitisierende Postmoderne) haben viele Theoretiker betont, dass es notwendig ist, über die Koordinaten einer Erneuerung von Universalismus und Commons – auch einer kommunistischen Hypothese, wie Alain Badiou es genannt hat – nachzudenken.

Peter Linebaugh hat »Solidarität« und »Commons« enger verknüpft: In seinem Magna Charta Manifest hat er die Wertschätzung der alltäglichen Erfahrung des »commoning« betont. Darin liege sowohl ein Schlüssel zum Verständnis der endlosen aneignenden Dialektik der Moderne als auch eine politische Ressource für aktuelle Kämpfe. Solidarität bilde die Grundlage des »commoning« (2010). Sein Projekt verbindet die Idee von Solidarität mit alltäglichen Praxen von Gemeinschaftlichkeit und Gegenseitigkeit und in gesellschaftlichem Austausch, der nicht auf dem Äquivalententausch, sondern auf Praxen der Fürsorge und Bewirtschaftung beruht. Für die Unterscheidung der Commons vom Öffentlichen (eine rechtliche Befriedung der Dynamiken der Partizipation der Commons) betont Linebeaugh, dass Solidarität dort beginnt, wo individueller Egoismus endet. Oder: in den Momenten, wenn commoning Formen findet, sich der Aneignung und Zerstörung durch juristische Kategorien von Eigentum (privat oder öffentlich) zu entziehen.

Hardt/Negri haben auf ihre Weise in Commonwealth die »Republik des Eigentums« ins Visier genommen. Die Commons seien die – immer schon korrumpierte – Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise. Die Korruption entfalte sich in den Institutionen von Familie, Unternehmen und dem Staat, in Mechanismen der »Repräsentation«, die Singularitäten in Identitäten und das Gemeinschaftliche in die Eigentumsformen von privat und öffentlich zwingen. Hier skizziert Commonwealth einige Konzepte, mit denen erneuerte Konzepte von Solidarität gedacht werden können – auch wenn der Begriff im Buch nur am Rande vorkommt. Statt Identitätspolitik der »wahren« Politik gegenüberzustellen, argumentieren sie für eine »revolutionäre Parallelität« der vielen Identitäten. Die Singularitäten werden vielfältig, multipel. Hardt/Negri verstehen das als Herausbildung der »Multitude«. Dieses Zusammentreffen der Singularitäten stellt ihres Erachtens das Gemeinsame her: als inklusive Wechselbeziehung, in der Konflikt und Differenz nicht negiert, sondern geschätzt werden.

Solidarität kann hier als ethisch-politisches Prinzip verstanden werden, das den Multiplen-Singulären erlaubt, ihr Zusammenkommen so zu organisieren, dass sie dadurch handlungsfähig werden. Solidarität wäre dann der aktive Versuch, Formen zu schaffen, in denen Differenzen nicht als Verletzung einer vorgegebenen essenziellen Einheit erfahren werden können, sondern als Voraussetzung für einen Prozess der andauernden und immer aufs neue zu verhandelnden Vereinigung. Mit Gramsci gesprochen ginge es um Praxen, die verschiedene gesellschaftliche Erfahrungen und Kämpfe »übersetzen« können. Für eine Verallgemeinerung von Interessen müssen differierende Interessen respektiert – und neu verbunden werden. Das ist Mittel zu und Zweck einer Gesellschaft, die auf Solidarität beruht (vgl. Candeias 2010, 10).

Aus einer anderen politischen und theoretischen Tradition scheinen Hardt/Negri das Anliegen von Williams in zeitgenössischem Vokabular neu auf die Agenda zu setzen: sein Bestehen auf einer Solidarität, die Vielfalt erreichen und bestärken würde, ohne Spaltungen zu schaffen. Hardt/Negris Drängen auf die Entwicklung von Formen nicht-korrupter Selbstrepräsentation der Commons kann mit Williams’ Argument verbunden werden, dass es darum gehe, neue gemeinschaftliche Institutionen praktischer Solidarität zu entwickeln, die auf den Prinzipien von gegenseitiger Verantwortung und Rücksichtnahme basieren. Hardt/Negri fordern einen Prozess, den sie »die Revolution steuern« nennen – dabei gehe es darum, einen neuen Typ von Institutionen zu erarbeiten, die nicht einfach subalterne Inhalte aufgreifen und in ein repräsentatives und juristisches Paradigma einfügen. Stattdessen geht es darum, Institutionen zu skizzieren, die der »Republik des Eigentums« widerstehen könnten. Ein Prozess, den Williams die demokratische »lange Revolution« der Moderne genannt hat.

Mit der globalen Krise werden unterschiedliche Formen von lokalem Widerstand entstehen. Es geht nicht nur darum, das Konzept und die Praxis der Solidarität als »Tradition der Unterdrückten« wiederzubeleben und damit die Kämpfe zu koordinieren und zu vertiefen. Die Tiefe der Krise erfordert es, dass wir diese wiederbelebten Konzepte und Praxen von Solidarität in institutionellen Begriffen ausarbeiten – als alternatives politisches Programm und als Prinzip der Vergesellschaftung. Mit Williams, Linebeaugh, Hardt/Negri lassen sich erst Schritte hin zu einem zeitgenössischen Konzept von Solidarität denken. Das wird uns in die Lage versetzen, so genannte realistische Aufrufe zur Verwaltung der Krise zurückzuweisen und stattdessen das realistische und notwendige Ziel anzugehen, sie in eine demokratische sozialistische Gesellschaft zu überführen.

Aus dem Englischen von Christina Kaindl

 

LITERATUR

Badiou, Alain, 2010: Die kommunistische Hypothese, Berlin
Mario Candeias, 2010: Von der fragmentarischen Linken zum Mosaik, in: Luxemburg 1/2010, 6–17
Alex Demirovic´, 2010: Freiheit, Gleichheit, Solidarität, in: Luxemburg 4/2010, 130–39
Hardt, Michael, und Antonio Negri, 2010: Commonwealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt/M
Linebaugh, Peter, 2008: Magna Carta Manifesto, Berkeley Ders., 2010: »All For One and One For All!« Some Principles of the Commons; www.counterpunch.org/ [1] linebaugh01082010.html
Williams, Raymond, 1959: Culture and Society 1780–1950, London
Ders., 1961: The Long Revolution, London
Ders., 1983: Towards 2000, London