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School of Shame. Wie Klassenbildung uns (de)formiert

Von Jan Niggemann

Menschen, die aufgrund ihrer Klassenherkunft Ausgrenzung erleben, berichten oft von Scham. Was ist das für ein Gefühl, Scham?

Scham ist ein Affekt, eine Reaktion darauf, bloßgestellt zu werden. Das kann nicht nur dazu führen, dass man verstummt und sich ohnmächtig fühlt, sondern auch zu dem Gefühl, selbst schuld zu sein. Wenn wir über Klassenscham sprechen, geht es um soziale Scham, wie sie etwa Didier Eribon beschrieben hat. Die Beschämung hat mit sozialen Unterschieden zu tun, auch wenn mir das selbst vielleicht nicht bewusst ist. Soziale Scham entsteht nicht einfach in einer bestimmten Situation zwischen zwei Personen. Sie ist Ergebnis einer Struktur, einer sozialen Hierarchie, die auf Klassenunterschieden basiert.

Welche Rolle spielt Scham in der Schule? Erzeugt Schule Scham?

Ich würde sagen, ja. Das Beschämen ist ein Mechanismus der Schule, der eine hierarchische Ordnung absichert. Die Beschämung trifft alle, die abweichen, die als »nicht zugehörig«, »falsch« oder »unnormal« bloßgestellt werden. Sie werden nicht nur zum Ziel von Hass und Beleidigung, sondern haben auch Nachteile beim Konkurrieren um gute Bewertungen. Denn Hierarchien über Leistungsbewertungen herzustellen ist eine zentrale Funktionsweise von Schule. Jede Notenvergabe erzeugt eine Normalverteilung: Einige wenige müssen sehr gut, viele mittelmäßig, einige schlecht sein. Die Beschämung, zu den »Schlechten« zu gehören, kann dich verunsichern und enorm behindern.

Wie zeigt sich darin der Klassenunterschied?

Zahlreiche Studien zeigen, dass nicht nur die Leistungen stark von der sozialen Herkunft abhängen, sondern auch die vermeintlich »objektive« Bewertung von sozialen Unterschieden beeinflusst wird. So werden Mittelschichtskinder, deren Habitus näher am Habitus der Lehrperson ist, bei gleicher Leistung besser bewertet als Kinder aus der Arbeiterschicht und bekommen eher eine Gymnasialempfehlung. Sie »passen« einfach besser rein. Lehrer*innen können nicht nur klassistisch, sondern auch rassistisch oder sexistisch diskriminieren, ohne es zu bemerken: Wenn sie nach diesen Ideologien unterscheiden, die Unterschiede aber als objektive Leistungsunterschiede interpretieren und vermeintlich gerecht bewerten.

In welchen Momenten beschämt die Schule und vermittelt, dass man nicht reinpasst?

Wenn Lehrer*innen sagen: »Das wisst ihr ja sicherlich alle« und »Das ist doch normal« oder auch »Das ist nichts für dich«. Wenn die eigene Lebensrealität in den Schulbüchern nicht auftaucht, weil dort nur weiße Vater-Mutter-Kind-Familien vorkommen und es weder arme Familien noch Alleinerziehende oder Menschen mit Kopftuch gibt. Wenn man die eigene Sprache nicht sprechen darf, sei es eine andere Muttersprache oder auch ein Dialekt. Ausschluss stellt sich in der Interaktion mit den Lehrer*innen her, in persönlichen Konflikten, auch in Auseinandersetzungen um »angemessenes«, »vernünftiges«, »gesundes«  Verhalten. Pierre Bourdieu hat solche Formen der Disziplinierung »symbolische Gewalt« genannt: Jemand wird mit Gesten oder Blicken auf den sozialen Platz verwiesen, den er*sie sich erdreistet hat, zu verlassen.

Was bedeutet es für einen selbst, beschämt zu werden? Was macht das mit einem?

Das Problem ist: Du übernimmst diese Perspektive. Du siehst dich selbst aus der Perspektive der Norm und denkst: Ich bin falsch. Das ist ein Mechanismus, wie sich Herrschaft in die Selbstwahrnehmung der Beherrschten verlagert. Die soziale Hierarchie wird verinnerlicht, sodass sie nicht mehr verhandelbar ist. Die Schule als Struktur wird unsichtbar. Ursache und Wirkung kehren sich um, das ist ein Moment der Herstellung von Ideologie. Du wirst aktiv ausgeschlossen, aber die Schule signalisiert dir: Weil du so bist, wie du bist, passt du nicht rein. Die Schule wandelt soziale Verhältnisse in individuelle Eigenschaften um, das ist eine ihrer zentralen Funktionen. Wer nicht reinpasst, steht vor der Frage, wie viel Anpassung möglich und nötig ist. Eine Möglichkeit ist, sich aus freien Stücken der Norm zu unterwerfen, um die daran geknüpften Vorteile zu erhalten.

Die Schule setzt also Leistung als ein legitimes Kriterium für soziale Unterschiede durch – und prägt das Selbstbild der »guten« wie der »schlechten« Schüler*innen …

Genau. Es geschieht nicht nur top down durch die Lehrpersonen. Schüler*innen beobachten sich auch untereinander und nutzen Abweichungen zu ihrem Vorteil. Was »anders« ist, wird dabei sozial zu einer Schwäche gemacht. Viele kennen das Gefühl, sich im Vergleich mit den »Normalen«, den »Guten« minderwertig zu fühlen. Viele versuchen auch, ihre vermeintlichen Defizite durch Leistung auszugleichen. Das Versprechen von Leistungsgerechtigkeit ist aber eine Falle.

Warum?

Das Prinzip der Meritokratie, wie es die Bildungssoziologie nennt, erzeugt genau die »Illusion der Chancengleichheit«, die Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron schon Ende der 1970er Jahre am französischen Schulsystem analysiert haben: Formale Chancengleichheit führt bei ungleichen Startbedingungen nicht zu Gerechtigkeit, sondern macht die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen im Gegenteil unsichtbar. Das führt zu Beschämung und Individualisierung: Wer seine Chance nicht nutzt, ist dann selbst schuld.

Viele erhoffen sich trotzdem mehr Leistungsgerechtigkeit durch Formalisierung, etwa durch zentralisierte Prüfungen, die die Macht der einzelnen Lehrerin begrenzen sollen.

Das ist leider ein Trugschluss. Standardisierung durch zentrale Abschlüsse oder digitale Lehrformate führt nicht automatisch zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Für wirkliche Gerechtigkeit im Bildungssystem brauchen wir bestimmte Formen des Nachteilsausgleichs, den Blick auf die ganze Person mit ihren Bedürfnissen und Voraussetzungen. Ich verstehe den Wunsch, die Unordnung, das Verstricktsein in die Beziehung zu den Lehrer*innen aufzulösen. Aber es braucht nicht weniger, sondern andere pädagogische Beziehungen, die Menschen stärken. Das weiß ich aus meiner eigenen Erfahrung als sogenannter Bildungsaufsteiger. Für mich waren einzelne Lehrer*innen enorm wichtig. Die, die sich nicht auf das Leistungsprinzip zurückgezogen haben, um auszusortieren, sondern die gecheckt haben, dass alle etwas mitbringen und auch Lust auf Lernen haben, wenn man sie ermutigt.

Unter dem Schlagwort Klassismus melden sich inzwischen viele zu Wort, um über Ausgrenzungserfahrungen zu berichten. 

Ja, der Begriff Klassismus hilft vielen, ihre Erfahrungen zu verstehen und auszudrücken. Erfahrungen, für die sie vorher keine Worte hatten, weil sie beschämt oder ignoriert wurden. Wenn du etwas benennen kannst, dann beherrscht es dich nicht mehr nur, sondern du kannst anfangen, dich zu wehren.

Leider nehme ich aber eine Abwehr gegenüber dem Klassismus-Begriff in Teilen der Linken wahr. Da heißt es: Das ist Quatsch, da geht es »nur« um Diskriminierung, das lenkt von strukturellen Widersprüchen ab. Wenn man auf Twitter die Debatten um ­#Klassismus verfolgt, sieht man sogar, wie Leute heftig beschämt werden dafür, dass sie ihre Erfahrungen schildern – und zwar auch von Leuten, die eigentlich Verbündete sein sollten und mit diesen Erfahrungen arbeiten könnten.

Woher kommt diese Abwehr?

Ich weiß es nicht genau. Aber ich glaube, dass auch die Hierarchien und Prägungen der Schule nachwirken. Wir sind alle in der Schule sozialisiert. Und einige führen Debatten so, als wären wir noch in der Schule. Wer den Kanon nicht kennt, scheint nichts Wertvolles beitragen zu können. Das Problem ist: Gesellschaftstheorie zu betreiben hat hohe Kosten, zeitliche und materielle. Wer aus dieser privilegierten Position heraus anderen über den Mund fährt, reproduziert in gewisser Weise die hierarchische Anordnung der Schule: Die bürgerlichen Lehrer*innen belehren die Schüler*innen aus der working class, die »nur« über subjektive Erfahrungen sprechen können. Wenn ich alles unterhalb von Marx als »Gedöns« ablehne, wiederhole ich eine Form von symbolischer Gewalt und Beschämung. Ich wünsche mir in der Debatte um Klassismus mehr konstruktive, solidarische Kritik. Eine wirkliche Auseinandersetzung damit, wie das Wissen über Klassismus Klassentheorien erweitern und voranbringen könnte. Denn der Blick »von unten nach oben« ist enorm aufschlussreich.

Es geht also darum, subjektive Erfahrungen und objektive Strukturen zusammenzubringen?

Genau, es geht um die Perspektive auf die ganze Gesellschaft, die ja auch bei Marx angelegt ist. Herrschaftsstrukturen schreiben sich nicht anonym und automatisch immer weiter fort, sie werden in alltäglichen Routinen hergestellt und gefestigt. Wie sich Subjekte und Gruppen darin verhalten, kann ich nicht allein aus der Stellung im Produktionsprozess ableiten, auch wenn diese Zwänge den Handlungsrahmen begrenzen. Menschen verhandeln ihre Gruppenzugehörigkeit miteinander und gegeneinander, konkurrieren um Ressourcen, Macht und Zugänge. Eine Putzkraft und eine höhere Angestellte haben nicht automatisch die gleichen Interessen, nur weil beide lohnabhängig sind. Die Frage ist, was sie verbinden könnte und gleichzeitig trennt, auf der Ebene von Lebensweisen, Geschmack und Subjektivität. In dem Versuch, die Komplexität von sozialen Hierarchien zu verstehen, finde ich die Debatte um Klassismus produktiv. Auch wenn der Begriff noch viele Fragen offenlässt und ich auch nicht jeden Ansatz teile, der als Klassismus-Kritik gilt.

Von Klassismus sprechen oft soziale  »Aufsteiger*innen«, die ihr Herkunftsmilieu verlassen haben. Was ist das für eine Position?

Das ist eine schwierige und schöne Position, denn du hängst immer dazwischen. Du sprichst über deinen Hintergrund und deine Geschichte, aber gleichzeitig bist du das gar nicht mehr. Ich war in einem bestimmten ­Milieu zu Hause, aber ich bin woanders hingegangen – ohne da jemals ganz angekommen zu sein. Dieses »Dazwischen« ist aber keine Position der Schwäche, des Mangels oder Leidens. Ich finde die Doppelperspektive wichtig und ­ermächtigend, die María do Mar Castro Varela entwickelt: ­Soziale Gruppen haben unterschiedliche Verletzbarkeiten, aber damit sind auch je spezifische Widerstands­potenziale ­verbunden. Ich bin nicht nur sozial ­benachteiligt, ich habe auch Ressourcen, ­Beziehungen, Wissen, auch bestimmte ­Privilegien. Wenn ich »Zu Hause im Dazwischen« bin, kenne ich unterschiedliche soziale Welten und Wissensformen und kann zwischen ihnen übersetzen, mich in beiden bewegen, ohne auf eine festgelegt zu sein.

Du hast in einem Text auch umgekehrt ­Klas­sen­privilegien als Verlust bezeichnet. Das klingt erstmal widersinnig. Was ist damit gemeint?

Das ist eine Formulierung, die Gayatri C. Spivak geprägt hat. Sie fragte, was es bedeutet, das eigene Privileg auch als Verlust zu begreifen. Sich zu fragen: Welche wichtigen Perspektiven sehe ich von meiner Warte aus nicht? Wer sitzt hier nicht mit am Tisch? Welche Meinungen, Stimmen und Stimmungen fehlen? Es ist natürlich anspruchsvoll, als sozial relativ homogene Gruppe die eigenen Ausschlüsse zu erkennen. Aber es gibt dabei einiges zu gewinnen.

Was gibt es dabei zu gewinnen?

Zum Beispiel den Bezug zu anderen Alltagskulturen, an die man von links anschließen kann. Die sind zentral für die Übersetzung, die Vermittlung. Ich erlebe es oft, dass Linke sich in sozial homogenen Gruppen einigeln. Und dass sie enttäuscht sind, wenn sie mit ihrer vorgefertigten Position nach außen gehen und die Leute sie nicht kritiklos übernehmen. Die Frage ist doch: Wie bringen Linke ihre Ideen in Kontakt mit Menschen, die sie in der Regel nicht erreichen? Dafür braucht es andere Ansätze. Einen davon nenne ich »sorgende Theoriearbeit«.

Was verstehst du unter sorgender Theoriearbeit?

Es reicht einfach nicht, zu sagen: Wir machen kluge Strategie und Theorie, und die Vermittlung sollen andere machen. Oder zu meinen, wer etwas wirklich verstehen will, soll sich eben mehr anstrengen. Wissensproduktion und -vermittlung gehören zusammen, als ein Prozess, in dem alle Beteiligten dazulernen. Dafür gibt es eine reiche linke Tradition, etwa aus den Cultural Studies. Da geht es um Räume des Austauschs, um Lerngruppen, Lesekreise und Sommercamps. Um Bildungsarbeit, die soziale Differenzen nicht verleugnet, sondern zum Ausgangspunkt macht. Ich glaube, solche Lernprozesse sind entscheidend für linke Hegemoniebildung. Hegemonie bilden bedeutet nicht, dass alle so denken und handeln, wie ich es gern hätte. Das funktioniert nicht. Es geht darum, offen zu bleiben für das, was mir nicht passt, und Kompromisse zu verhandeln, in denen mehr Positionen berücksichtigt werden als meine eigene. Dann können wir in der Linken unsere Unterschiede und Widersprüche produktiv machen und voneinander, miteinander und auch gegeneinander lernen.

Das Gespräch führten Ania Spatzier und Hannah Schurian