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Scholz in der SPD – Same procedure, different year

Von Özge

Das Gespenst, so hat das politstrategische Personal der Union entschieden, ist zurück in Europa. Die Inszenierung der CDU/CSU als einsame Verteidigerin der besitzenden Klasse gegen eine rote Bedrohung ist so alt wie verlogen. Die SPD ist in der Praxis seit über zwanzig Jahren keine sozialdemokratische Kraft mehr, alle Beteiligten wissen das. Trotzdem muss in aller Nüchternheit festgehalten werden: es gelingt der gesellschaftlichen Linken nicht, dieses Theater angemessen zu entlarven.

Eine Abgrenzung zur SPD macht sich meist an ihren Kanzlerkandidaten fest. Und diese Tendenz ist kein Zufall. Mehr als sonst neigen sowohl linke als auch bürgerliche Medien in Wahlkampfzeiten dazu, Spitzenpolitiker*innen gewissermaßen als personifizierte Parteien zu behandeln. Antrags- und Abstimmungsverhalten der jeweiligen Fraktionen in den Parlamenten, Parteitagsbeschlüsse und Wahlprogramme nehmen einen Bruchteil des Platzes ein, der Porträts, Interviews, Debatten und ähnlichem gewidmet wird. Das kandidierende Personal agiert hier als Stellvertretung ihrer jeweiligen Partei, muss sich aber gleichzeitig kaum für sie verantworten. Die politische Praxis der Vergangenheit wird nicht als das behandelt, was es ist, nämlich als das einzig relevante Prognosematerial für die politische Praxis der Zukunft, sondern als Nebenkriegsschauplatz, der erst betreten wird, wenn einem die Fragen ausgehen. Im Zentrum stehen Statements, Pläne, Versprechen und natürlich die Fußballwette des Politjournalisten, die Koalitionsspekulationen. Politik ist in diesen Zeiten etwas Abstraktes, Immaterielles, ewig Zukünftiges. Zur Wahl stehen sprechende Köpfe, und es sind zwei oder höchstens drei an der Zahl, nämlich die mit den realistischsten Aussichten auf das Kanzler*innenamt. Dieser medialen Schieflage ist es womöglich zu verdanken, dass jemand, der keine Nachrichten, sondern nur Umfragewerte liest, ohne Probleme erkennen könnte, wessen Kanzlerkandidat*in gerade Negativschlagzeilen macht.

Das soll nicht heißen, dass eine Auseinandersetzung mit Olaf Scholz keine Daseinsberechtigung hätte, im Gegenteil. Von seiner Rolle im neoliberalen Umbau der Bundesrepublik unter Ex-Kanzler Gerhard Schröder über die bekannten Wirecard- und Cum-Ex-Affären bis zur Anordnung und Legitimation teilweise tödlicher Polizeigewalt gibt es genug, was skandalisiert werden kann und muss.

Die einzige Kritik an seiner Kandidatur, die von CDU und FDP zu vernehmen war, enthielt nichts von alledem, sondern bezog sich auf die vermeintliche Diskrepanz zwischen ihm und seiner Partei: unser Mann und die Verrückten im Parteivorstand. Das kann ja nichts werden.

Diese Prognose war aus damaliger Sicht nicht unberechtigt, die Überraschung über die Nominierung hingegen schon, beides aus dem gleichen Grund: Wir haben diesen Film schon mehrmals gesehen. Bei dem Kandidaten davor, und dem davor, und dem davor. Die SPD versucht eine Strategie, die seit Schröder mit jedem Mal krachender gescheitert ist.

Der Prozess, der letztlich zu Scholz‘ Nominierung führen sollte, begann 1998. Scholz selbst, zu diesem Zeitpunkt ein vierzigjähriger Rechtsanwalt für Arbeitsrecht, war gerade kurz davor, sein erstes Bundestagsmandat zu gewinnen. Die neoliberale Ära der SPD, eingeläutet von der sogenannten „Neuen Mitte“ mit ihrem marktwirtschaftlich orientierten Programm, hatte begonnen: nicht linke Forderungen, sondern ein charismatischer Kandidat und seine zupackende Staatsmännlichkeit sollten die Wahl für die Sozialdemokraten entscheiden. Bekanntermaßen ging diese Rechnung auf, es folgten Hartz-Reformen und Agenda 2010. Die endgültige Abspaltung der Parteilinken und ihre Fusion mit der PDS hätten einen allerletzten Weckruf auslösen können – es sollte anders kommen. Schröder verkalkulierte sich, dankend übernahmen Merkel und ihre konservativen Minister*innen das Ruder und gaben es sechzehn Jahre nicht aus der Hand.

In diesen sechzehn Jahren kamen die späten Millenials und jetzt die Generation Z an die SPD-Parteibasis. Viele dieser in den Neunzigerjahren geborenen Mitglieder, deren politische Orientierung oft aus nicht mehr als einer diffusen Idee von „sozialer Gerechtigkeit“ und – immerhin – der Ablehnung von Rechtsextremismus besteht, können und wollen von der Positionierung der SPD in der Klassenfrage nichts wissen. Hartz-IV ist für sie argumentativ etwa auf einer Ebene mit der Geschichte der Kriegskredite: abgenutzt, tausend Mal erzählt und fernab jeder aktuell relevanten Realität.

Auch jenseits der eigenen Partei ist es einfach, vermeintlich linke Menschen davon zu überzeugen, dass das gute Leben für alle eben nur mit dem Kanzler*innenamt und dieses wiederum nur mit einem breit vermittelbaren, marktorientierten Kandidaten zu bekommen ist. Deshalb damals: alle für Steinbrück! Und dann: alle für Schulz! Und dann: alle für Scholz! Wie damals sind auch heute durchaus solide sozialdemokratische Forderungen im Programm vertreten. Glaubt uns bitte einfach, dass sie diesmal, anders als damals, auch tatsächlich Bestand haben werden. Bisher lag es nämlich an der CDU, dass das Wenige, was überhaupt auch nur in die Nähe der Umsetzung kam, derart verwässert wurde, dass man es, unter uns gesagt, auch hätte bleiben lassen können. Wie, Schröder hat das ganze Schlamassel auch ganz allein angerichtet? Boah, die Hartz-Keule musste ja kommen…

Nein, die Kandidatur von Olaf Scholz war keineswegs überraschend. Aber anders als bei anderen Parteien, deren Strategien offensichtlicher sind, muss sich eine fundierte Kritik der SPD auf Kontext und Erfahrungswerte beziehen. Mit anderen Worten: wir müssen vergangene politische Praxis thematisieren. Aber es sind eben Wahlkampfzeiten. Der anfangs gezeigte Automatismus setzt ein: die Forderungen, die Wahlversprechen, die möglichen Koalitionen rund um die Figur Olaf Scholz bestimmen den Nachrichtenfluss und am Ende gibt es kaum jemanden, der – nicht zuletzt im Interesse der tatsächlichen Sozialdemokrat*innen in den Reihen der Partei – diese Kandidatur politisch kontextualisiert.

Es kann nun nicht die Aufgabe der gesellschaftlichen Linken sein, die SPD aus ihren ideologischen Sackgassen zu befreien. Nicht zuletzt aus dem ganz pragmatischen Grund, dass es nicht funktioniert. Jemand, der politisch in einem Umfeld sozialisiert wurde, in dem es auf dem Weg nach oben kaum nennenswerte No-Gos gibt – Scholz führte in Hamburg den Einsatz von Brechmitteln ein, eine Praxis die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als rechtswidrig eingeordnet wurde – ist für prinzipielle Argumente nicht empfänglich. Je früher wir das akzeptieren, umso besser. Sogar der Verweis auf die massiven Verschlechterungen der materiellen Verhältnisse erwerbsloser und prekär beschäftigter Menschen wird innerhalb der Partei oft mit einem Augenrollen quittiert. Das sei doch gefühliger Schnee von gestern.

Die politische Wahrnehmung der SPD ist, genau wie in den Fernsehstudiodebatten und Zeitungsinterviews, vollständig in der Zukunft angesiedelt. Eine Zukunft, die auf ewig zwischen den Deckeln eines SPD-Programmhefts stattfindet und von dem immer gleichen Personal aus den immer gleichen Gründen sabotiert wird. Diese Taktik macht Sinn: wer, gemessen an den eigenen Idealen, in der Vergangenheit versagt hat, sollte besser in die Zukunft schauen.

Welche Rolle wir in dieser Tragödie spielen, ist von vielen Faktoren abhängig. Die individuelle Auseinandersetzung kann sehr unterschiedlich ausfallen. Es gibt Menschen, die ehrlich von der Idee überzeugt sind, durch Regulierung des Marktes ließe sich eine gerechte Gesellschaft schaffen, und es gibt gute Gründe, unsere Kämpfe mit diesen Menschen zu verbinden. Wenn keine bezahlten Posten verteilt, sondern gemeinsame Projekte entwickelt werden sollen, ist die Kooperation mit Sozialdemokrat*innen vertretbar. Wer in der Lage ist, das Bedürfnis zu unterdrücken, diese Leute ständig mit ihren eigenen Widersprüchen zu konfrontieren, hat definitiv die besseren Karten.

Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein, wo diese Kooperation aufhören muss, weil sie sinnlos wird. Grundsätzlich ist desto weniger Verlass auf Parteimitglieder, je höher sie in der innerparteilichen Hierarchie aufsteigen – oder aufzusteigen versuchen – und je näher die Partei als Ganzes an einer Regierungsbeteiligung ist. Kevin Kühnert, noch vor einem Jahr „rotes Schreckgespenst“ spricht sich nun gegen Vergesellschaftungen aus [1] – eine Debatte, die er noch 2019 spektakulär mitgeführt hat -und für Olaf Scholz [2].

Eine Verbündete, von der man jederzeit verraten werden könnte, ist keine. Die Partei hat sich immer und immer wieder dafür entschieden, Klassenkampf von oben statt von unten zu machen. Unsere Stimme darf nicht länger als Kritik aus den „eigenen Reihen“ verstanden werden, denn sie kommt nicht aus den eigenen Reihen.

Zu selten findet die Auseinandersetzung mit der SPD die richtigen Worte, zu oft hat sie den Anschein eines Grabenkampfes, als ginge es um Interna einer vermeintlich gemeinsamen „progressiven“ Bewegung. Olaf Scholz‘ politisches Wirken zu problematisieren ist gut und wichtig, umso mehr, wenn er tatsächlich Kanzler werden sollte. Aber unabhängig davon, wie das Land am 27. September 2021 aussieht: Die SPD hat vor seiner Kandidatur de facto eine Politik gemacht, die ihrem eigenen Anspruch zuwiderläuft, und sie wird es auch danach tun. Es ist an der Zeit, ihr nicht länger zu glauben und das auch unmissverständlich zu kommunizieren.

Das kann, das wird langfristig die Perspektive auf eine Koalition zwischen der Linkspartei und der SPD verringern. Aber es wird die Linkspartei auch zurück in die Position bringen, aus der sie ursprünglich einmal gestartet ist: als parlamentarischer Arm der Arbeiter*innenbewegung. Ob sich das in mehr Wähler*innenstimmen übersetzen wird, weiß niemand. Aber die Linkspartei täte ohnehin gut daran, die Anpassung der Wahrheit an Umfragewerte wieder der SPD zu überlassen.