| Gespräch: »Schlicht lebensgefährlich« Patentschutz behindert Pandemiebekämpfung

Januar 2021  Druckansicht
Mit Anne Jung

Die Covid-19-Pandemie ist ein globales Problem. Die Verteilung der Impfstoffe wird jedoch von Pharmaindustrie und Industriestaaten über das Patentsystem kontrolliert. Soziale und globale Ungerechtigkeit nehmen dadurch weiter zu, mit tödlichen Folgen. Anne Jung arbeitet bei der NGO medico international zum Thema Globale Gesundheit und erläutert die Hintergründe und Alternativen. 

Seit einigen Wochen wird in der EU gegen Covid-19 geimpft. Wann werden wohl die ersten Menschen in Ländern des Globalen Südens eine Impfung erhalten?

Anne Jung: Es ist wirklich super, dass es jetzt die Impfstoffe gibt. Sich auf eine Zeit ohne Angst vor einer Infektion mit Covid-19 zu freuen, ist völlig legitim. Wenn man sich aber die Verteilung der Impfstoffe anschaut, kann man global betrachtet eine ziemlich klare Linie ziehen: Auf der einen Seite stehen Europa, die USA, Kanada, Russland, China, Indien und wenige südamerikanische Länder. Die bekommen die Impfstoffe viel schneller, weil sie bilaterale Verträge mit den Pharmakonzernen gemacht haben, oder weil sie pharmaproduzierende Industrie im Land haben, wie Indien zum Beispiel.

In den meisten anderen Ländern, zum Beispiel auf dem afrikanischen Kontinent oder in vielen asiatischen und lateinamerikanischen Staaten können sich die Menschen nicht so bald darauf freuen, die Corona-Gefahr zu reduzieren. Da sind die Impfstoffe zum aktuellen Stand, Januar 2021, noch gar nicht verfügbar. Die globale Verteilung ist auf tödliche Weise ungerecht und noch dazu aus epidemiologischer Perspektive der falsche Weg, um das Virus wirksam einzudämmen.

Im öffentlichen Diskurs wird die Bundesregierung vor allem dafür kritisiert, nicht genug Impfstoffdosen für ihre Bürger*innen ‘gesichert’ zu haben. Teilst du diese Kritik?

Die Kritik ist schlichtweg falsch. Die deutsche Bundesregierung hat ca. 400 Millionen Impfdosen gesichert, also weit mehr als für die Impfung aller hierzulande lebenden Menschen erforderlich wären. Auf einem ganz anderen Blatt steht die Frage, warum die Verteilung der Impfstoffe teils schleppend verläuft. Dass ausgerechnet Christian Lindner, als Vorsitzender der FDP nun Zwangslizenzen für die Impfstoffproduktion fordert, also ein staatliches Eingreifen in das Schutzrecht der Unternehmen, ist bigott, wo doch die FDP sonst immer für Liberalisierung steht; und es ist nationalistisch, denn Lindner geht es nur darum, dass Biontech und Co nicht zu viele Impfstoffe ins Ausland verkaufen. Abgesehen davon ist die Forderung auch aus epidemiologischer Sicht falsch: Es müsste darum gehen, die Lizenzen insgesamt aufzuheben. Der globalen Pandemie kann nur durch einen weltweiten Zugang zu den Impfstoffen Einhalt geboten werden.

Wie sind denn die Rechte an den Covid19-Impfstoffen global geregelt? Und wie steht es mit der Produktion und der Verteilung im globalen Maßstab?

Da sind wir bei der Frage der Patente. Es gab schon im Frühjahr 2020 eine Initiative von Costa Rica, die bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgegriffen wurde. Die sieht vor, mit dem sogenannten C-TAP-Modell einen Pool für den Zugang zu Covid-19 relevanter Technologien einzurichten. In diesem Pool sollen die Ergebnisse der Impfstoffforschung von Universitäten und Pharmaunternehmen eingespeist werden, um so einen Wissens- und Technologietransfer  zu ermöglichen.

Hintergrund dieses Vorschlags sind die positiven Erfahrungen mit einem Medikamentenpool im Kampf gegen HIV/AIDS, der nach langen politischen Kämpfen eingerichtet wurde. Dies hat sich absolut ausgezahlt: die Preise für HIV/AIDS-Medikamente sind deutlich gesunken. Viel mehr Menschen konnten behandelt werden, die Haushalte der am meisten betroffenen Länder, die alle im globalen Süden liegen, wurden entlastet.

Dennoch haben sich faktisch alle Industrienationen, darunter auch Deutschland, sofort geweigert, dieses Erfolgsmodell auch auf die Covid-19-Pandemie anzuwenden. Diese Ignoranz fällt der Welt jetzt auf die Füße – vor allem den Bevölkerungen im Süden. Denn der Technologietransfer, den so ein Pool ermöglicht hätte, wäre die Grundlage dafür gewesen, wirksame Impfstoffe dezentral herstellen zu können – auch im Globalen Süden. Und das hätte zu mehr verfügbaren Impfstoffdosen und niedrigeren Preisen geführt.

Du hast jetzt schon die gescheiterte Initiative im Rahmen der WHO beschrieben. Was für eine Rolle spielt denn die Welthandelsorganisation (WTO) und das Patentabkommen TRIPS?

In der WTO haben Südafrika und Indien einen Antrag auf eine Ausnahme vom TRIPS-Abkommen gestellt, einen sogenannten Waiver. Das Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) regelt Mindeststandards zum sogenannten Schutz geistigen Eigentums. Im Klartext heißt das zum Beispiel, dass einem Patentinhaber für mindestens 20 Jahre ein exklusives Vermarktungsrecht zugestanden wird. Dieses Abkommen hat schon beim Zustandekommen zu vielfältigen Protesten der frühen globalisierungskritischen Bewegung und in Ländern des Südens geführt. Es sichert die Macht der Pharmaindustrie und anderer Großkonzerne – der börsennotierte Pharmakonzern Pfizer beispielsweise war am Zustandekommen des Abkommen massiv beteiligt. Auf Grund des durch Covid-19 verursachten globalen Gesundheitsnotstandes forderten nun Indien und Südafrika dieses Abkommen auszusetzen, um temporär die Patente auf Covid-19-Impfstoffe, Medikamente und andere medizinische Produkte allen zugänglich zu machen.

Wie haben die anderen Mitglieder der WTO auf den Vorstoß von Südafrika und Indien reagiert?

Genauso wie bei C-TAP haben praktisch alle Industrienationen gesagt: „Ach nein, das brauchen wir nicht.“ Und zwar mit der Begründung, dass erstens der Patentschutz einen Forschungsanreiz für die Pharmaindustrie erzeugt, und dass es zweitens bereits Instrumente im TRIPS-Abkommen gäbe, die die geforderten Ausnahmen ermöglichen. Die Scheinheiligkeit des ersten Arguments wird klar, wenn man sich klar macht, dass sehr viele öffentliche Mittel in die Covid19-Impfstoffforschung und -entwicklung geflossen sind. Bei einigen Unternehmen stammen mehr als die Hälfte der aufgewendeten Mittel aus öffentlicher Hand. Auch die zweite Begründung ist falsch: es wurde hinreichend nachgewiesen, dass die Ausnahmen im Abkommen nur bedingt greifen, nicht zuletzt weil erheblicher politischer und juristischer Druck auf jene, wenigen Staaten ausgeübt wurde, die versuchten sie anzuwenden.

Was tun die Industrienationen denn überhaupt?

Stattdessen unterstützen die Industrienationen die sogenannte COVAX-Facility. Das ist ein an die WHO angedocktes Gebilde aus Pharmaindustrie, Regierungen und philanthrokapitalistischen Stiftungen wie der Gates Foundation, um auf Spendenbasis Impfstoffe für Länder des Südens zu kaufen. Hilfe statt Rechte! Ohne die Blockadepolitik der Industrienationen bei der Patentfrage bräuchte es dieses neoliberale Gebilde gar nicht. Absurderweise begründet die Bundesregierung ihre Weigerung hinsichtlich der Lockerung des Patentschutzes ausgerechnet damit, dass dies COVAX gefährden würde. Hinzu kommt, dass derzeit von den 38 Milliarden Euro, die notwendig wären, um genug Impfstoffdosen zu kaufen, noch 28 Milliarden fehlen.

Dieser Pakt zwischen Industriestaaten und Pharmakonzernen ist natürlich empörend. Wie lässt sich diese Empörung in politische Konflikte übersetzen? Kennst du gesellschaftliche Akteure, die das versuchen?

Auch wenn wir noch weit davon entfernt sind, dieses falsche Patentsystem zu überwinden, gibt es bereits ermutigende Entwicklungen – vor allem, in einigen Länder des Südens. In Südafrika gibt es zum Beispiel die C19 People’s Coalition. Die im Übrigen auch ein Vorbild für uns wäre. Diese besteht aus einem breiten Zusammenschluss von Hilfsorganisationen, Gewerkschaften, Basisgruppen und auch einigen Parlamentarier*innen.

Was machen sie konkret?

Sie kämpfen für eine gerechte Pandemiepolitik in Südafrika. Wer kann es sich leisten zu Hause zu bleiben und welchen Schutz brauchen diejenigen, die weiter arbeiten gehen müssen? Wie könnte eine Grundabsicherung, ein allgemeines Bürger*inneneinkommen aussehen? In Südafrika, wie in vielen anderen Regionen des Südens, sind ca. 50 Prozent der Bevölkerung im informellen Sektor tätig. Sie sind in der dramatischen Situation, dass sie ihre Lebensgrundlage gefährden, wenn sie sich vor Covid-19 schützen. Das hat bereits jetzt zu starker Verschuldung und Verarmung geführt. Da wurde eine richtige Lawine losgetreten durch die Pandemie. Und hier setzt die Coalition an.

Sie hat aber nicht nur eine nationale, sondern auch eine globale Perspektive. So unterschiedlich die Pandemie in ihren Ausprägungen und Folgen ist: Sie ist ein globales Problem. Ausschließlich nationale Antworten können daher nur falsch sein. Deshalb fordert die Coalition mit Blick auf das Patentsystem einen viel schnelleren Zugang zum Impfstoff, und zwar global, nicht nur für Südafrika. Und sie formulieren die Notwendigkeit, den Patentschutz auf Medikamente und Impfstoffe vollständig abzuschaffen.

Was müsste denn deiner Meinung nach hier in Deutschland und Europa passieren, um klarzumachen, dass eben nicht der Norden gegen den Süden steht, sondern die globalen Bevölkerungen gegen die Industriestaaten und Pharmakonzerne? Siehst du zum Beispiel in der Bewegung der Pflegekräfte, die ja in Deutschland besonders unter der Coronakrise leiden und vorher schon organisiert waren, einen Anknüpfungspunkt?

Ja, auf jeden Fall. Das Motto der Pflegestreiks „Mehr von uns ist besser für alle“ ist wirklich phantastisch und zeigt die Richtung, in die wir gehen müssen. Wir müssen klarmachen, dass die marktwirtschaftliche Organisierung von Gesundheitsversorgung gegen das Menschenrecht auf Gesundheit steht. Das gilt für die Situation in den Krankenhäusern genauso wie für die Impfstoffentwicklung. Der Impfstoff muss wie das Gesundheitssystem öffentlich sein. Jegliches Marktinteresse muss hier rausgehalten und die politischen Verantwortlichen in diesem Sinne verpflichtet werden. Alles andere ist schlicht lebensgefährlich. In früheren Jahren sind Kampagnen, die sich auf den Gesundheitssektor bezogen haben, häufig gescheitert. Das lag auch daran, dass das Thema zu abstrakt war. Durch die Pandemie ändert sich das, die Menschen fühlen das Problem ganz konkret. Die Erfahrung, dass Gesundheit eine Ware ist, erleben wir auf unterschiedliche Weise – aber doch in globaler Dimension. Sei es die überlastete Pflegekraft im Krankenhaus, oder die Familie in Sierra Leone, die wahrscheinlich bis 2023 auf die Impfung gegen Covid19 warten muss. Dieser Zusammenhang muss Ausgangspunkt für die aktuellen und kommenden Kämpfe um das Menschenrecht auf Gesundheit sein.

Das Interview führte Lukas Hoffmann.

 

Aktuelle Kampagne von medico: www.patents-kill.org/