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Schaffen wir das? Ehrenamtliche Arbeit in einer Flüchtlingsunterkunft

Von Christiane Markard

Viel ist zu hören über die chaotischen Zustände bei deutschen Behörden im Umgang mit Geflüchteten. Was dabei oft in Vergessenheit gerät, sind die vielen Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die solidarisch handeln und damit viel bewirken.

Ich hatte mich nach meiner Pensionierung 2015 schon länger mit dem Gedanken getragen, Flüchtlingskinder beim Deutschlernen zu unterstützen.[ref] Ich danke einer Ehrenamtskoordinatorin für einige Informationen, die in diesen Erfahrungsbericht – der nicht beansprucht, eine Analyse der Flüchtlingspolitik zu sein – eingeflossen sind.[/ref] Aber wie finde ich Kinder, die Unterstützung brauchen? Und benötige ich dafür nicht eine Ausbildung? Mir kam ein Zufall zu Hilfe – jemand suchte Ersatz für die Betreuung von Vorschulkindern in der damaligen Notunterkunft im alten Rathaus Berlin-Wilmersdorf. Die dort tätigen ehrenamtlichen Betreuerinnen fragten nicht nach meinen Kenntnissen, sondern nahmen mich freundlich auf.

Insgesamt empfand ich die Situation allerdings als ziemlich chaotisch. Die Kinder schrien durcheinander, die meisten Versuche, mit ihnen zu spielen, zu malen oder zu basteln, scheiterten nach bloß fünf Minuten: Ihr Bewegungsdrang war kaum zu bändigen. Die Benutzung der deutschen Sprache beschränkte sich weitgehend auf fordernde Rufe nach Schere und Kleber für Bastelarbeiten. Die Namen der Kinder waren für mich nur schwer verständlich und lernbar, sodass ich immer wieder auf ihre Zugangskärtchen (elektronische Ausweise für die Bewohner*innen) schielen musste. Obwohl mir unser Ange-bot etwas hilflos und unstrukturiert schien, kamen die Kinder gern und regelmäßig, zumal ihr Alltag in den beengten Zimmern der Familien kaum Abwechslung bot. Nach und nach kamen auch einige Mütter mit. Die Frauen waren überwiegend Jesidinnen aus dem kurdischen Teil des Irak, die nach dem Massaker vom 3. August 2014 im Gebiet um Shingal vor dem IS geflohen waren.

Nachdem für die Vorschulkinder in der Unterkunft eine professionelle Betreuung eingerichtet worden war, blieben uns die Mütter, die fast alle Analphabetinnen waren. Flüchtlinge sind nach ihrer Anerkennung durch das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) grundsätzlich dazu verpflichtet, einen Deutsch- und Integrationskurs zu absolvieren. Solange die Frauen jedoch Kleinkinder unter einem Jahr haben, können/dürfen sie noch nicht an Kursen teilnehmen. Es blieb ihnen daher nicht viel anderes übrig, als in der Unterkunft die Zeit totzuschlagen. Also boten wir ihnen täglich zwei Stunden Deutschunterricht an. Bis wir geeignete Arbeitsbücher organisiert hatten, arbeiteten wir mit ausgeschnittenen Buchstaben, Bilderbüchern und Sprechübungen. Der Einstieg ins Deutsche war für die Frauen unendlich mühsam und sie machten nur langsam Fortschritte. Dennoch warteten sie oft schon eine Viertelstunde vor Beginn des Unterrichts vor der Tür auf uns. Der erste Erfolg war für sie, den eigenen Namen schreiben und damit selbst unterschreiben zu können.

In der Zeit der Schulferien brachten die Mütter ihre Schulkinder mit. Nun hatten wir auch die Größeren im Raum, die sich langweilten und offenbar beschäftigt werden wollten. Der Lärmpegel stieg. Einige Schulkinder hatten von der Schule Arbeitsmaterialien für die Ferien mitbekommen und erbaten sich Hilfe von uns. Nach einiger Zeit bat auch einer der Väter um Unterstützung bei den Hausaufgaben seines Deutschkurses. Mein Mann war bereit dazu und schließlich ergab sich daraus für uns beide die Betreuung einer ganzen Familie. Sukzessive bildeten sich engere, spezifisch-personalisierte Betreuungsverhältnisse heraus. Insbesondere für weitere Schulkinder gab es bald regelmäßige Verabredungen (auch mit meinem Mann), um die Hausaufgaben gemeinsam zu machen. Als ich im ersten Jahr in den Urlaub fuhr, bekam ich am vierten Tag von einem Jungen eine WhatsApp-Nachricht: »Hallo Oma, wann kommst du nach Deutschland?«
Ende 2017 wurde die Notunterkunft in Wilmersdorf aufgelöst und die Bewohner*­innen auf drei Container-Standorte (»Tempohomes«) verteilt. Die von uns betreuten Familien zogen zusammen in eine Gemeinschaftsunterkunft für 250 Personen in einem anderen Bezirk. Der Umzug machte ihnen große Sorgen. Nicht nur, dass die angebotenen Wohncontainer sehr klein waren, viele der Kinder hatten gerade einen Schul- oder Kindergartenplatz gefunden und sollten nun erneut wechseln. Die Erwachsenen hatten sich gerade in ihrem Wohnviertel orientiert und fanden sich zurecht – und schließlich hatten sie Sorge, dass die Ehrenamtlichen, zu denen sie ja persönliche Beziehungen entwickelt hatten, nicht mehr zum neuen Standort kommen würden.

Auch wir Ehrenamtlichen hatten Vorbehalte. Der Umzug in die Tempohomes war auch ein Signal dafür, dass für die Flüchtlinge das Ziel einer eigenen Wohnung für weitere Jahre unrealistisch blieb. Die Container – die die Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Elke Breitenbach, als »weit entfernt von Schöner Wohnen« bezeichnete – bieten auf 45 Quadratmetern jeweils Platz für vier Personen (zwei Zimmer, Küche, Toilette und Dusche). Die meisten Familien sind jedoch deutlich größer. Besteht die Familie zum Beispiel aus sieben Personen, so hat sie ein Anrecht auf zwei benachbarte (nicht verbundene) Container, der achte Platz wird allerdings an eine alleinlebende, oftmals aus einem anderen Land kommende Person vergeben, was natürlich Konfliktpotenzial birgt.

Dennoch – der neue Standort und die Container hatten auch Vorteile. So konnten die Bewohner*innen nach einer langen Zeit der Kantinenverpflegung nun endlich selber kochen, eine riesige Erleichterung. Sie konnten die Tür ihrer Wohnung abschließen, auch das war vorher nicht möglich.

Als wir die Anlage zum ersten Mal sahen, waren wir positiv überrascht. Das Gelände selbst wirkte mit seinem alten Baumbestand parkähnlich und lag mitten in einem bürgerlichen Wohngebiet. Der Betreiber zeigte großen Einsatz und ließ einen Kinderspielplatz, einen Fußballplatz und einen Grillplatz bauen und brachte einen Basketballkorb an. Für private Feiern und Treffen mit den Ehrenamtlichen gab es Gemeinschaftsräume, in denen auch Deutschunterricht und Nachhilfe möglich waren. Inzwischen macht die Anlage im Sommer am Wochenende den Eindruck eines Dorfplatzes, die Frauen sitzen vor den Wohnungen, die Männer spielen Backgammon oder grillen und die Kinder spielen Fangen und Verste­cken. Dennoch ist nicht zu unterschätzen, wie bedrückend die Enge der Container bei schlechtem Wetter und im Winter ist.

Meine Sorge, dass die Nachbarschaft feindselig reagieren könnte, bestätigte sich nicht. Im Gegenteil: Bereits vor dem Einzug hatte der Betreiber einen Tag der offenen Tür mit Programm und Musik organisiert. Es kamen 511 Besucher*innen aus der Nachbarschaft. Die Ehrenamtskoordinatorin wurde vom Ansturm potenzieller Ehrenamtlicher fast überrannt. Es gab erstaunlicherweise so gut wie keine negativen Reaktionen, vereinzelte verbale Provokationen liefen ins Leere oder wurden argumentativ aufgefangen; die vorsorglich informierte Polizei wurde nicht benötigt.

Irritierend war für mich zunächst die Umzäunung der Einrichtung und die Ein-lasskontrolle durch einen Sicherheitsdienst. Der Vorteil: Die (oft kleinen) Kinder können nicht verloren gehen und sich auf dem Gelände frei bewegen. Nicht freundlich gesinnte Fremde können nicht unkontrolliert auf das Grundstück gelangen. Der Nachteil: Für Nachbar*innen ist eine derartige Schleuse erst einmal abschreckend und sie isoliert die Bewohner*innen. Besucher*innen müssen nach 22 Uhr die Anlage verlassen, sodass kein Übernachtungsbesuch möglich ist. Das ist für Familien, die sich nach ihren Angehörigen aus anderen Städten sehnen, sehr schwer zu akzeptieren.

Der Zugang zu den Einrichtungen ist auch für die Ehrenamtlichen mit einer Kon­trolle des Personalausweises beziehungsweise einer vom Betreiber ausgestellten Zugangskarte (mit Bild) verbunden. Um eine solche ausgestellt zu bekommen, ist ein aktuelles polizeiliches Führungszeugnis erforderlich, welches für diesen Zweck kostenlos und ohne langwierige Terminvereinbarung beim Bürgeramt beantragt werden kann. Wir haben verschiedene Sicherheitsdienste kennengelernt, mit deren Angestellten wir schnell ein persönliches Verhältnis hatten; wie locker oder rigide kontrolliert wurde, hing sowohl von den einzelnen Beschäftigten als auch von der Sicherheitsfirma ab.

Ein weiterer Vorteil für die Flüchtlinge, die in der Einrichtung wohnen, ist die große Unterstützung, die sie durch die Hauptamtlichen erhalten. Sie helfen ihnen dabei, amtliche Schreiben zu übersetzen, den Bürokratiedschungel zu durchdringen, Schul- und Kindergartenplätze zu organisieren oder Arzttermine zu vereinbaren. Durch zunehmende Einsparungen des Senats in diesem Bereich und den knappen Personalschlüssel, der sich an der Zahl der Bewohner*innen orientiert, ist diese Unterstützung aber immer schwerer zu leisten. Je mehr Familien eine Wohnung außerhalb der Einrichtung finden, desto weniger Personal wird finanziert. Die Betreiber haben in der Regel nur Jahresver-träge und wissen oft bis Dezember nicht, ob und wie es im nächsten Jahr weitergeht. Für die Beschäftigten bedeutet das Zeitverträge, selten oder nie in Vollzeit. Die Einrichtungen sind daher froh über jede*n Ehrenamtliche*n, der die Bewohner*innen zu Behörden oder zum Arzt begleitet.

Angebote wie Sprachcafés, Spielnachmittage – insbesondere in der Ferienzeit – und Hausaufgabenkreise für Erwachsene und Kinder sind daher nur mit Ehrenamtlichen realisierbar. Die Bedeutung der hauptamtlichen Ehrenamtskoordination ist mir erst mit der Zeit klargeworden: Ohne ihre Hilfe wäre die Abstimmung zwischen den Ehrenamtlichen ungleich schwerer.
Nach den Planungen des Senats sollen die Tempohomes drei Jahre bestehen bleiben. Nicht nur deswegen suchen die Bewohner*innen dringend Wohnungen. Die Probleme liegen auf der Hand: zu wenige und teure Angebote, zu kleine Wohnungen für die großen Familien, Probleme bei der Antragstellung oder bei Verhandlungen mit der Hausverwaltung mangels fundierter Sprachkenntnisse. Aber manchmal klappt es dann doch – oft auch mit Unterstützung von Ehrenamtlichen. Wohnungen, die verfügbar sind, liegen jedoch erfahrungsgemäß oft am Rand von Berlin. Folglich müssen die Kinder wieder die Schule oder den Kindergarten wechseln und die Eltern brauchen für die Fahrt zum Deutschkurs manchmal jeweils eine Stunde hin und zurück. Die Ehrenamtli-chen können – wenn überhaupt – seltener kommen. Die Freund*innen aus der Wohnanlage sind weit weg, die Familie ist – zunächst – weitgehend isoliert.

Nach meinem Eindruck sind die Erfolge beim Deutschlernen für Kinder und Erwachsene das Wichtigste, um ihnen eine Per­spektive in Deutschland zu eröffnen, so äußern es die Betroffenen auch selbst. Meine Erfahrung ist jedoch, dass die professionellen Deutschkurse, die das Jobcenter bezahlt, für viele Erwachsene zu anspruchsvoll sind und deren sehr unterschiedliche Erfahrungs- und Bildungshintergründe zu wenig berücksichtigen. Ohne Hilfe bei den Hausaufgaben und ohne regelmäßiges Deutschsprechen haben nur wenige die Chance, die Prüfungen zum B1-Niveau zu schaffen, B2 scheint fast unerreichbar.[ref]Die Deutschkurse beginnen mit A1 (A1.1, A1.2) und A2. Danach soll den Teilnehmenden eine einfache Verständigung sowie das Lesen und Schreiben simpler Sätze möglich sein. Daran schließt ein Kurs auf B1-Niveau mit Prüfung an, nach dem die Teilnehmer*innen sich auch über neue Themen verständigen und kleine Texte schreiben können. Im Falle des Bestehens der B2-Prüfung sollen komplexe Texte und Aussagen verstanden und Berichte geschrieben werden können. Für eine Ausbildung wird in der Regel das B2-Niveau vorausgesetzt.[/ref] Das wichtigste Ziel für die Erwachsenen ist, eine gute Arbeit zu finden. Ihre anfängliche Hoffnung, hier eine Ausbildung zu machen, scheitert meist an den fehlenden Sprachkenntnissen. Eins der Probleme besteht darin, dass es kein geeignetes Wörterbuch Deutsch-Kurdisch gibt, das heißt, viele Wörter muss man mit Bildern oder durch Umschreibungen und Gesten erklären. Da gibt es oft komische Szenen und viel Gelächter. So wurde mir erzählt, die Kinder hätten jetzt »Führerscheine« bekommen – gemeint waren »Zeugnisse« – also auch offizielle Dokumente. Für die Flüchtlinge ist nicht nur die deutsche Schrift neu, viele haben überhaupt noch nie geschrieben. Warum schreibt man im Deutschen manches groß, anderes klein? Auch die Logik oder mangelnde Logik von »der/die/das« kann man nur schwer erklären. Trotzdem stoßen wir immer wieder auf großen Lerneifer und den Willen, sich zu verbessern. Der Radiergummi ist das wichtigste Utensil. Und alle halbe Stunde ein Seufzer: »Deutsch ist sehr schwer.«

Etwas anders ist die Situation der Schulkinder. Sie kommen (in der Regel) nach einem Jahr in einer sogenannten Willkommensklasse gleich in eine altersadäquate Schulklasse. In der ersten Zeit verstehen sie nur Bahnhof und sind oft isoliert. Was ist eine Brücke, ein Tal, ein Berg – alles muss man erst mit Bildern zeigen. Die Lehrer*innen versuchen, die Sprachprobleme der Kinder zu berücksichtigen, können aber auch nicht jedes zweite Wort erklären. Die Klassenarbeiten werden in der Anfangszeit zumindest nicht benotet. Für mich war überraschend, dass es nicht nur am deutschen Wortschatz hapert, sondern auch bei dem hierzulande geforderten kulturellen Wissen (z. B. Briefmarke, Ratenzahlung – was etwa in Mathematik-Textaufgaben vorkommt). Die größeren Kinder haben oft zwei Jahre durch die Flucht »verloren«, in denen sie keine Schule besucht haben. Die können in Deutschland nicht einfach nachgeholt werden.

In Berlin ist für die Kinder so gut wie alles neu. Für mich war eine erfreuliche Erfahrung, wie hilfsbereit und engagiert die Lehrer*innen reagierten, mit denen wir Kontakt hatten. Alle zeigten sich interessiert, zum Teil auch überrascht, den persönlichen Hintergrund der Kinder zu erfahren. Die Lehrer*innen waren gegenüber uns ehrenamtlichen Betreuer*innen auf-geschlossen und luden uns zu Elternabenden und -gesprächen ein. Auch die Eltern waren gern bereit, uns zu diesen Terminen mitzunehmen. Es ist ihnen wichtig, dass ihre Kinder viel lernen und sehr gut in der Schule sind. Die Note »ausreichend« ist für sie nicht akzeptabel. Dabei wären vielleicht viele deutsche Kinder froh, in allen Fächern auf ein »ausreichend« zu kommen.

Wenn wir also Hausaufgabenhilfe anbieten, stehen die Kinder mit ihren Schulsachen schon pünktlich vor der Tür – in der Regel drei Mal pro Woche. Nach unserem Eindruck ist ihnen klar, dass sie die Hausaufgaben allein nicht schaffen würden, oft verstehen sie schon die Aufgabenstellung nicht. Aber sicher-lich spielt auch das persönliche Verhältnis zwischen uns und den Kindern eine Rolle, zumal wir mit ihnen auch außerschulische Aktivitäten unternehmen. Das Ziel der Kinder: ein guter Schulabschluss, um damit später eine Ausbildung in dem erwünschten Beruf machen zu können. Aber bis dahin bleibt noch viel zu tun.

Wie wird es weitergehen? Nach und nach werden »unsere« Familien in eigene Wohnungen ziehen. Sie wohnen dann in den verschiedenen Ecken Berlins und es wird schwieriger, den Kontakt zu halten. Bislang ist uns das gelungen, denn inzwischen sind uns alle so ans Herz gewachsen, dass wir sie ungern aus den Augen verlieren wollen.

Wenn ich von der Arbeit mit den Flüchtlingen erzähle, wird mir oft gesagt, das sei bewundernswert. Ehrlich gesagt ist mir das immer etwas peinlich, denn man will nicht für etwas bewundert werden, was einem großes Glück bereitet. Ich habe selten so viele nette Leute in meinem Alter kennengelernt wie in der Gemeinschaftsunterkunft und die Herzlichkeit und Zuwendung seitens unserer großen und kleinen Schüler*innen ist ohnehin unbezahlbar.

Der Wermutstropfen? Es gibt leider nicht nur einen. Wir erhalten so viele persönliche Bitten und Anfragen, dass wir nicht allen gerecht werden können. Und: In den Schulen wurde uns deutlich, wie viele Kinder generell – mit und ohne sogenannten Migrationshintergrund – Unterstützung bräuchten.