| Zehn Jahre nach Seattle: Rückzug in sichere Häfen

Januar 2010  Druckansicht
Von Franco »Bifo« Berard

Wir sehen einer langen Periode mönchhaften Rückzugs entgegen und müssen zugleich mit der Möglichkeit einer plötzlichen Verschiebung der globalen politischen Landschaft rechnen. Im November 1999 begann eine politische-ethische Rebellion: der Protest unterschiedlicher Gruppen aus aller Welt gegen die Folgen kapitalistischer Globalisierung, sozialer und ökologischer Zerstörung kristallisierte sich an diesem Ort des WTO-Gipfels. In den folgenden zwei Jahren entwickelte eine globale Bewegung eine effektive Kritik neoliberaler Politiken und machte Hoffnung auf einen radikalen Wandel. Dann, nach dem G8-Gipfel in Genua, bricht die Erzählung um –  Krieg rückte in den Vordergrund.

Die Bewegung lies nach, ihre Wirkung reduzierte sich nahezu auf Null. Sie verfehlte es, in den Alltag der Weltgesellschaft auszustrahlen. Sie verfehlte es, einen Prozess der alltäglichen Selbstorganisation der techno-wissenschaftlichen Arbeiter in Gang zu setzen.

Zehn Jahre nach Seattle müssen wir eine neue Strategie der Bewegung  entwickeln. Neoliberale Politik hat die Idee des Öffentlichen zerstört.  Sie hat Produktion, Kommunikation, Sprache und Affekte privatisiert und inwertgesetzt. Konkurrenz hat den Platz der Solidarität eingenommen. Die vorherrschende Form ökonomischer Beziehungen ist kriminell geworden. Krieg begleitet diese kriminelle Mutation der kapitalistischen Produktionsweise. Eine systematische Verwahrlosung der physischen und psychischen Umwelt ist logische Folge dieser Mutation.

Die Wahl von Barack Obama öffnete ein Fenster von Möglichkeiten. Doch die gegenwärtige Situation ist unübersehbar paradox. Die USA hat ihre militärische Vorherrschaft verloren, weil religiöser Fanatismus, Fundamentalismus, Nationalismus und Terror in weiten Teilen der Welt befördert wurden. Definitiv verliert die westliche Hegemonie an Grund. Die Finanzkrise bringt darüber hinaus den Zusammenbruch der finanziellen US-Vorherrschaft mit sich und führt zur Ausbreitung der Krise, produziert Unruhe und Misstrauen auch in den westlichen Gesellschaften.

Zu Zeiten der Präsidentschaft Bill Clintons war es möglich (wenn auch nie überzeugend) von einem amerikanischen Empire zu sprechen. Mit George W. Bush’s Staatsstreich innerhalb des Empires beginnt die Zeit des ‘permanenten’ Krieges. Sofern dies zutreffen sollte, hat der Staatsstreich seine Ziele erreicht. Bush und seine kriegerische Meute haben zwar ihre Kriege verloren (der Irak-Krieg ist ein vollständiger Mißerfolg, Afghanistan eine nicht endende Niederlage und der ‘Krieg’ gegen den Iran nicht zu gewinnen). Dennoch gewannen sie ihren Krieg zur Aneignung von Ölprofiten, ihren Krieg gegen den Frieden und Menschheit. Nun, da das Weiße Haus von einem Präsidenten mit genuine demokratischerer Kultur bewohnt wird, fällt das amerikanische Empire auseinander. Chaos ist der einzige Herrscher der Welt.

Was kann in einer solchen Situation getan werden? Es ist keine Hoffnung in Sicht, da die kriminelle Wende des Kapitalismus unumkehrbare Effekte in der Kultur und dem Verhalten der planetarischen Gesellschaft hervorgebracht hat. Ein Drittel der Menschheit ist vom Tode bedroht: Hunger verbreitet sich wie nie zuvor. Die Energiekrise füttert Aggressionen und Inflation. Ein Drittel der Menschheit arbeitet zu Bedingungen, die Sklaverei nahe kommen oder sind gezwungen Prekarisierung und Ausbeutung hinzunehmen. Ein Drittel der Menschheit ist bis an die Zähne bewaffnet, um seinen Lebensstandard gegen ein Heer von Migranten zu verteidigen. Wir sollten uns auf eine lange Phase der Barbarisierung und der Gewalt vorbereiten.

Wir sollten einige sichere Häfen für eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung schaffen, die das Erbe einer humanistischen Zivilisation und der Potenzen des General Intellect bewahrt, welche in ernsthafter Gefahr sind. Das bevorstehende Zeitalter ist durchaus zu vergleichen mit dem sog. europäischen Mittelalter. Während Invasoren durch das Land streiften und die Spuren antiker Zivilisationen zerstört wurden, retteten Gruppen von Mönchen die Erinnerung an die Vergangenheit und die Samen einer möglichen Zukunft.

Wir können nicht wissen, ob das anstehende Zeitalter der Barberei Jahrzehnte oder Jahrhunderte währen wird. Noch können wir sagen, ob unsere physische Umwelt die Verwüstungen des kriminellen Kapitalismus überleben wird. Aber wir wissen sicher, wir haben nicht die Waffen den Zerstörern entgegenzutreten. So müssen wir uns selbst und die Möglichkeit einer Zukunft retten. Eine Strategie reicht nicht aus, wenn die Dinge so unvorhersehbar sind wie gegenwärtig. Wir kennen weder die Konsequenzen des Niedergangs amerikanischer Vorherrschaft, noch die Entwicklung und Folgen der Kriege von Pakistan bis Gaza. Wir haben keine Vorstellung von den Folgen der ethnischen Bürgerkriege niedriger Intensität, noch welche Explosionen den krisenbedingten Verwüstungen der politischen Ökonomie der Arbeiter nachfolgen.

Wir sehen einer langen Periode mönchhaften Rückzugs entgegen und müssen zugleich mit der Möglichkeit einer plötzlichen Verschiebung der globalen politischen Landschaft rechnen. Stellen wir uns etwa die Revolte chinesischer Arbeiter gegen den national-kommunistischen Staatskapitalismus vor, die Unfähigkeit des US-Militärs einer neuen Welle des Terrors entgegenzutreten, den Kollaps von Ökosystemen in wesentlichen Teilen der Welt – Szenarios, die absolut realistisch sind. Solche Ereignisse könnten dramatische Veränderungen der politischen Haltungen einer Mehrheit der Weltbevölkerung nach sich ziehen. Auch darauf müssen wir vorbereitet sein, bereit eine solche Wendung zu erklären und aufzugreifen. Und wir sollten lebensbejahende Beispiele einer anderen Lebensweise entwickeln, die nicht auf Konsumismus, Wachstum und Konkurrenz basiert. Eine der wichtigsten Aufgaben ist die Redefinition der Verständnisses von ‘gutem Leben’, Wohlstand und Glück.

Unsere Aufgabe wird sein, Klöster zu errichten, in denen bescheiden, genügsames Wohlergehen gelebt und erprobt wird – eine gelebte Kritik der Naturalisierung der Wachstumsnotwendigkeit. Wir sollten Schritte einer kulturellen Produktion eines neuen Paradigmas gehen, weg vom obsessiven Wachstum, hin zu Genügsamkeit, kultur-intensiver Produktion, Solidarität, der Wertschätzung von Faulheit und Zurückweisung von Konkurrenz. Der Kapitalismus setzt gutes Leben mit Akkumulation gleich, Glück mit Konsumismus und Reichtum mit der Zerstörung von Natur. Wir hingegen sollten Lebensweisen vorleben, in denen gutes Leben Genügsamkeit bedeutet, Glück Großzügigkeit heißt und Reichtum den Genuss von Zeit einschließt.

Aus dem Englischen von Mario Candeias