| RISKANTE FREIHEITEN

Dezember 2009  Druckansicht
Von Eva Kreisky

DIE »VERMARKTUNG« VON DEMOKRATIE

»Ich glaube nicht, dass jemand, der nur Ökonom ist und soziale wie politische Gedanken ausklammert, irgendeine Bedeutung für die reale Welt hat«
(J. Kenneth Galbraith, zit.n. Kurnitzky 1994, 7)

Demokratie reflektiert zugleich normative Versprechen politischer Denker und sozialer Bewegungen sowie reale Herrschaftskonfigurationen alltäglicher Praktiken. Demokratie »in Vollendung« gab es in der neueren Geschichte noch nie. Stets fanden sich Demokratiedefizite und Demokratiedefekte. Demokratische Wahlregime bei undemokratischen sozialen Alltagspraktiken, Beteiligung an Politik ohne reale Entscheidungs- und Gestaltungsmacht, zunehmende Entpolitisierung im Sog antipolitischer Ambitionen politischer und ökonomischer Eliten verbinden sich zu einem unaufrichtigen Typ westlicher Demokratie.

Kapitalistisches Marktgeschehen setzt Freiheit und Gleichheit als Lebensform wie als Politikziel voraus. Das »bürgerliche« Bemühen um Kompromisse – im Sinne der Neutralisierung divergierender Interessenlagen – zeigten sich in den Prozessen der Republikanisierung und Parlamentarisierung (unter Berufung auf Karl Marx: vgl. Demirovic´ 1997, 12). So wurde Vereinbarkeit und Zusammengehörigkeit von Kapitalismus und Demokratie als politisches Narrativ gehegt. Dies galt für die fordistische Ära der Nachkriegsjahre ebenso wie für die postfordistische Wendephase anlässlich des Endes des Kalten Krieges.

Die politische Beteiligung sollte Massenloyalität herstellen und bewahren: nicht nur Zufriedenheit mit parlamentarischer Politik- und Staatsform, sondern Einverständnis mit der kapitalistischen Gesellschaftsform suggerieren. Doch die Geschichte bürgerlicher Demokratien war durch wiederkehrende autoritäre Intermezzi in Frage gestellt. Demokratieanalysen fokussierten zumeist auf die kurzen Momente der Konjunktur und blendeten rezessive Entwicklungen aus, die autoritäre Verfremdungen von Demokratien einleiteten und allmählich verfestigten. Die so begründeten Schönwettertheorien von Demokratie erlaubten nicht, die unlauteren Spiele mit Demokratie oder antidemokratische Gegenentwicklungen angemessen zu theoretisieren.

Selbst etablierte westliche Demokratien unterliegen der Ausdünnung demokratischer Strukturen und der Entleerung demokratischer Prozesse. Und sie werden einer zunehmenden »Monetarisierung« und »Vermarktung« unterworfen: Alle möglichen Lebenswelten werden kommerzialisiert, öffentliche Güter werden zu Waren gemacht, in Geld bewertet und über Märkte verhandelt. Selbst staatliche Gewalt wird (re)privatisiert und demokratische Phantasien werden auf straffes Marktdenken hingebogen. Demokratische Freiheit wird auf Markt- und Handelsfreiheiten ausgerichtet.

Es stellt sich die Frage: Welche Handlungsräume im Sinne politisch-demokratischer Gesellschaftsalternativen ergeben sich überhaupt im Rahmen weitgehend unverrückbarer kapitalistischer Produktions-, Verteilungs- und Konsumstrukturen?

DIE VERANKERUNG VON FREIHEIT UND GLEICHHEIT ALS LEBENSFORM

Demokratie und Kapitalismus stehen zueinander in einem widerspruchsvollen, rivalisierenden Verhältnis: Das Wertedepot von Demokratie steuert einerseits die soziale Beschaffenheit kapitalistischer Lebensverhältnisse bzw. den Umgang mit knappen Ressourcen für gesellschaftliche Ziele. Andererseits müssen Freiheit und Gleichheit als Lebensform angemessen verankert sein, um kapitalistische Marktformen überhaupt realisieren zu können.

Das Entstehen von Geldwirtschaft bildete die Grundlage zur Genese und Ausdifferenzierung von Märkten und modernen Marktgesellschaften. Trotz dieser engen Liaison stehen sie auch für gegensätzliche mentale Welten: Zum einen bilden Geld und Markt Kerninstitutionen realer ökonomischer, sozialer wie politischer Prozesse gesellschaftlicher Veränderung – sowohl in lokaler, nationalstaatlicher, transnationaler wie auch in globaler Hinsicht. Zum anderen bieten Geld und Markt trotz ihres Wirklichkeitsanspruchs auch phantasmagorische Schneisen in einer vermeintlich nüchtern-kapitalistisch geregelten Welt. Obwohl in kultischen und religiösen Erfahrungskontexten vormoderner Welten wurzelnd (Kurnitzky 1994), bestehen sie auch in modernen, weitgehend vernunftbestimmten Zivilisationen in Gestalt von (modernisierten) Mythen fort (Polanyi 1978, 19). Schon Marx hatte eine semantische Nähe zwischen »Credo und Credit«, zwischen »Schuld und Schulden« ausgemacht (Wirtz 1998). Ökonomische Sachverhalte sind daher stets auch in ihren »nicht-wirtschaftlichen« Dimensionen und Folgen zu erfassen. Max Weber (1920–1921) hat die kapitalistische Mentalität, das geradezu pathologische Streben nach Gelderwerb und Geldvermehrung, aus der asketischen Haltung im Kontext protestantischer Ethik hergeleitet.

Für das monetäre Denken und Fühlen der Gegenwart können Ähnlichkeiten zum sozialen Feld der Religion beobachtet werden: Neoliberale Marktgläubigkeit wird als »Sachzwang« in öffentliches Bewusstsein eingeschrieben, um sich nicht als »interessengeleitetes Handeln« zu entblößen, sondern als »unausweichliches Wirken anonymer Kräfte« zu erscheinen (Gerlach 2000, 1055). Die Gesetze des Marktes, aber auch die Sichtweisen der (neoklassischen) Ökonomen, muten »sakralisiert« an: An ihnen kann – Naturgesetzen gleich – nicht gerührt werden; Marktgesetze können verkündet, bekräftigt und administriert, nicht aber verändert werden. Auch Neoliberalismus beruht auf einem Fundament von »Gläubigkeit«, Marktgläubigkeit, und generiert dementsprechend eine »Glaubensgemeinde« jener, die materiell direkt von ihm profitieren, wie jener, die über ihn ihre politische Existenzberechtigung zu behaupten trachten und dazu die großen Massen der Bevölkerung zu bändigen haben (Bourdieu 1998, 110). Offene Interaktion und kritischer Dialog bilden kaum Regulative von Glaubenspraxis. Gläubigkeit, selbst jene an die paradiesischen Marktgesetze, mündet leicht in abgeschottete Orthodoxie, in einen Fundamentalismus des Marktes.

»Der Markt« erscheint ebenso als »utopischer Ort«, wie er sich auch als »Markt für neue gesellschaftliche Utopien« inszeniert (Kurnitzky 1994, 8f). Deshalb sehen neoliberale Ökonomen auch traditionell »außerökonomische« Lebenswelten mit ökonomischen Augen und ordnen sie nach ökonomischen Kalkülen (Bröckling 2007, 88). So bezeichnet Gary S. Becker seine Humankapitaltheorie selbst als »ökonomischen Imperialismus«: »Ökonomen können nicht nur über den Bedarf an Autos sprechen, sondern auch über Themen wie Familie, Diskriminierung und Religion, über Vorurteile, Schuld und Liebe« (Interview mit Gary S. Becker, in: Religion & Liberty 2, 1993, 3; zit. n. Bröckling 2007, 86).

Michel Foucault (1978–1979, 304) fasste Neoliberalismus – in Kontrast zum historisch reaktiven, »normativen« Ordoliberalismus – als universell gültige »Denkmethode« und als »Analyseraster«. Das impliziert, dass das Individuum selbst zur »ökonomischen Institution« wird. Es ist zugleich als Marktsubjekt zu begreifen und als Mensch, »der in eminenter Weise regierbar ist« (372). Er wird als »Kapitalist wie als Souverän seiner selbst« entworfen (Bröckling 2007, 93). Der Markt wird zum zentralen Ort, an dem sich die »Wahrheit über die Natur des Regierens« offenbart (79).

Wirtschaftsliberale Ideologen kreierten den Entwurf einer »Regierung der Freiheit« (Fach 2003). Sie entfalteten einen speziellen Eigensinn von Freiheit, der durch ihr Regierungsprojekt realisiert werden sollte. Demgemäß definierten sie ihre Politik als pragmatisches Management von Freiheit: »Es ist nicht das ›Sei frei‹, was der Liberalismus formuliert, sondern einfach Folgendes: ›Ich werde dir die Möglichkeiten zur Freiheit bereitstellen. Ich werde es so einrichten, dass du frei bist, frei zu sein‹« (Foucault 2004, 97). Freiheit im klassisch-liberalen, im ordoliberalen und im neoliberalen Verständnis bedeutet jeweils anderes: Das Spektrum reicht von »in der menschlichen Natur angelegt« bis zum »Artefakt der Zivilisation« (Bröckling 2007, 96f). Desgleichen ist der Kreis der durch Freiheit Begünstigten differenziert zu sehen. Gegenwärtig laborieren wir weltweit an riskanten Folgen neoliberaler Deregulierungspolitik vergangener Jahrzehnte: Träume fortschreitender Marktfreiheit, als Freiheit für alle propagiert, als definitive Freiheit von (wohlfahrts)staatlichen Eingriffen gedacht, scheinen mehr oder weniger entzaubert. Zugleich verblasst die »Magie« ökonomischer Losungen (Kurnitzky 1994, 7). Gesellschaftliches Vertrauen in »freies« Unternehmertum wie in »befreite« Finanzmärkte, zunächst vor allem durch Kritiker des Neoliberalismus missbilligt, schwindet allgemein. Die Blase der Scheingeschäfte ungeregelter Finanzmärkte ist – vorerst – geplatzt. Staatshilfe wird nun gerade von jenen, die sie stets diffamiert haben, vermehrt begehrt. Die Freiheiten des Marktes haben sich als allzu riskant erwiesen.

LIBERALISMUS UND DEMOKRATIE: EIN MISSVERSTÄNDNIS?

Liberalismus repräsentiert zum einen Ideen politischer Freiheit und bestimmte nötige Instrumente moderner Rechtsstaatlichkeit. Zum anderen steuerte er als wirtschaftsfreiheitliche Doktrin das machtpolitische Geschehen in kapitalistischen Gesellschaften. Politischer Liberalismus strebt Freiheit zur Politik an, während Wirtschaftsliberalismus die Freiheit von Politik zum Ziel hat. Liberalismus setzt »Autonomie des Politischen in einer sehr starken Form voraus«, er »arbeitet mit der Annahme, dass es möglich ist, das politische Leben auch dann in einer demokratischen Form zu organisieren, wenn dies auf der Grundlage sozioökonomischer und soziosexueller Strukturen geschieht, die systemische Ungleichheiten erzeugen« (Fraser 2001, 125f).

Wirtschaftsliberalismus, aktuell Neoliberalismus, konstituierte sich nie auf gleicher Augenhöhe, als Kompagnon politischen Freiheitsdenkens. Er verstand sich als besserer, authentischer Liberalismus, der den über das vermeintlich erträgliche Maß an Gleichheit hinausschießenden politischen Liberalismus bremsen sollte. In verschiedenen Ländern war die Verbreitung von Liberalismus mit der Entstehung von Demokratien zufällig zusammengefallen, was nicht heißt, dass er deshalb »mit der Praxis der Demokratie […] unauflöslich und unzweideutig verbunden« wäre (Schmitter 2003, 153). Liberale Rechtsstaatlichkeit und repräsentative Demokratie: im gegenwärtigen Denken scheinen sie identisch, dabei kamen sie keineswegs als Zwillinge zur Welt. Vielmehr liegen selbst in westlichen Gesellschaften beinahe 200 Jahre zwischen ihren Anfangspunkten. Die Ausformung des Typs liberaler/repräsentativer Demokratie ist daher als historische und territoriale Kontingenz einzuschätzen und kann keinesfalls als von vornherein kohärentes und Erfolgsmodell westlicher Provenienz vorgeführt werden.

Diese anarchisch gewachsene liberale Demokratie befindet sich aktuell in einem kritischen Zustand. Weniger ist »das Prinzip Demokratie umstritten als ihre alltägliche Praxis enttäuschend« (Leggewie/Bieber 2003, 124). So erweist sich die breite Bevölkerung dem »professionellen, auf Spektakel abhebenden« Politikbetrieb zunehmend entfremdet; selbst »gut informierte, urteilsfähige und argumentationsbegabte Bürger« (nach Pippa Norris, 1999, critical citizens, zit.n. Leggewie/ Bieber 2003, 128) ziehen sich zurück. Der Befund der Krise bezieht sich primär auf das formelle Gefüge politischer Entscheidung und Gestaltung, auf Parteien, parlamentarische Wahlen und BerufspolitikerInnen. Er »[betrifft] nicht notwendigerweise unkonventionelle Formen politischer Partizipation« in NGOs an den Rändern des formellen demokratischen Systems oder an zivilgesellschaftlichen und gesellschaftskritischen Bewegungen verschiedener Art (ebd.). In die Krise geraten ist nicht das Muster von »zusammen mit anderen handeln«, sondern Politik von oben herab, die »für andere« handelt (ebd.).

(Mangelnde) Demokratiequalität hängt mit dem jeweiligen Grad an Geschlechter(un)- gerechtigkeit in einer Gesellschaft zusammen. Nur in demokratiebereiten Gesellschafts- und Lebensverhältnissen können egalitäre Geschlechterverhältnisse gedeihen. Theoretische Demokratiearbeit sowie praktische Demokratie verblieben vom politischen Ziel der Geschlechtergerechtigkeit erstaunlich weit entfernt. Die Demokratiedebatte wurde »über Jahrhunderte hinweg geführt, als ob es keine Frauen gäbe« (Phillips 1995, 9). Dies gilt für androzentrische und sexistische Vordenker der Demokratie, die das eingeschriebene und sedimentierte männliche Geschlecht neutralisiert, unsichtbar, aber beständig an der Macht gehalten haben. Gleichermaßen bedeutsam waren triviale Praktiken von Männern, die Frauen ausgeschlossen oder politisch marginalisiert haben.

Zusätzlichen materiellen Flankenschutz bot die Eigentumsordnung, die unter besonderem »Schutz« des Rechtsstaates stand. Die Unstimmigkeit zwischen ökonomischer und politischer Gleichheit bildet eine dauerhafte diskursive wie politisch-praktische Folie sozialer und geschlechtlicher Diskriminierung, auf der die Vorstellung von liberaler und egalitärer Demokratie zu »ökonomisch determinierter Oligarchisierung« gerät. Auf deren Grundlage wird das Geschlechtermodell repatriarchalisiert und remaskulinisiert (Fischer 2006, 50).

DIE 1970ER JAHRE: LEDIGLICH EIN »AUGENBLICK DER DEMOKRATIE«?

Die Vorstellung von einem direkten Konnex von Demokratie und Gleichheit kam vergleichsweise spät auf. Im 19. Jahrhundert kamen auf Grund zunehmenden Drucks sozialer und frauenpolitischer Bewegungen auch die »soziale Frage« (Rödel/Frankenberg/ Dubiel 1989, 7) und die »Frauenfrage« auf die Agenda der Politik.

Die politische Ära des Postfaschismus war in Deutschland und Österreich durch zumeist feige, dürftige formale Demokratisierung staatlicher Institutionen gekennzeichnet. Konrad Adenauers Slogan »Keine Experimente!« drückt das bremsende Bestreben des restriktiven Paradigmas damaliger minimalistischer Demokratiepolitik und die Abwehr direkt demokratischer Formen oder partizipatorischer Demokratie nur zu deutlich aus.

Im Nachspiel zur 1968er-Bewegung wurden neue Ansprüche auf Erweiterung demokratischer Bürgerrechte, individuelle wie kollektive, artikuliert. Alltagsdemokratie sowie neue Praktiken sozialer und wirtschaftlicher Demokratie wurden eingefordert. Die offizielle (sozialdemokratische) Politik reagierte mit lautstarken Ankündigungen weiterer Demokratisierung, denen jedoch – mit Ausnahmen: z.B. Universitätsorganisation, Familien- und Eherecht – nur punktuell politische Umsetzung und rechtliche Kodifizierung folgten. Viele wurden aus neokonservativen oder neoliberalen Motiven angehalten oder aufgehoben. »[D]ie wahrhaft demokratischen Phasen [sind] begrenzt«, resümiert Crouch (2008, 20). Auch Zeiten, in denen es hieß, »wir wollen mehr Demokratie wagen« (Willy Brandt, Regierungserklärung 1969) sind heute als politische Entgleisungen und Konzessionen der Sozialdemokratie an die schrille 1968erund neue Frauenbewegung verfemt.

Angela Merkel instrumentalisierte in der Regierungserklärung 2005 die Popularität von Brandts Slogan und wendete ihn neoliberal zu »Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen«. Gemeint waren »weniger Bürokratie, weniger Wachstumsbremsen, weniger Rituale und Regeln bei der Entwicklung politischer Entscheidungen«. »Unbeschränkte Freiheit« lautet die Devise, die vor allem wirtschaftliche Eliten einfordern. Korruption und Wirtschaftskriminalität flankieren nicht zufällig die aktuell populären Pfade der Deregulierung. »Wir können den Schwachen mehr abgeben, wenn es mehr Starke gibt« (Merkel, Regierungserklärung 2005). Entsprechend muss Politik zunächst Reiche und Reichtum fördern, um dann gegen Armut vorgehen und eine Demokratisierung des Alltags einleiten zu können. Die fordistischen Antriebe des »demokratischen Augenblicks« (Crouch 2008, 17) werden seit den auslaufenden 1970er Jahren Schritt für Schritt außer Kraft gesetzt, die Prekarisierung von sozial Schwachen und politisch Marginalisierten schreitet voran und befördert eher antidemokratische Bewegungen und antipolitische Verhaltensmuster denn umgekehrt.

DEMOKRATIERÜCKBAU IM ZEICHEN NEOLIBERALER BESCHRÄNKUNGEN

Seit den 1990er Jahren wird verlautbart, dass es nun so viel Demokratie gebe wie noch nie. Gemessen wird dies an der Zahl der Fassadendemokratien (»defekte Demokratien«, Merkel 1999, 361), weniger aber an ihren faktischen sozialen oder integrativen Qualitäten. Die politische Konstruktion zunehmender Unsicherheit seit 9/11 begünstigt stillschweigende Einschränkung bürgerlicher Freiheiten und verdeckten Abbau von Grund- und Menschenrechten bei gleichzeitig überproportionalem öffentlichen Ressourcenverbrauch für private Sicherungsmaßnahmen. Sicherheit wird zur Ware und als privatisierte Dienstleistung auf speziellen Märkten feilgeboten. Soziale Bürgerrechte hingegen werden der neoliberalen Schwächung des Sozialstaats ausgeliefert. Die zu beobachtende »Verarmung öffentlicher Haushalte« läuft offensichtlich auf »Zerstörung von Demokratie« hinaus. Soziale Demokratie bräuchte hingegen erstarkte öffentliche Budgets und lebenswichtige Budgetentscheidungen wären als kollektive zu treffen (vgl. die Konzepte der Sozialforen der globalisierungskritischen Bewegung: social budgeting, gender budgeting usw.). Dazu müsste auch großes Eigentum vermehrt in die soziale Pflicht genommen werden, um die »Steuergrundlagen der Demokratie« zu sichern (Brie o.J., 3).

Die in die Krise geratene repräsentative Demokratie entfacht eine Vielzahl antiegalitärer, elitärer und autoritärer »Spielarten einer Neodemokratie« (Barber 1994, 12), die seitens der politischen Öffentlichkeit und der Politikwissenschaft ohne großen Widerspruch hingenommen wird. Diese Transformationen von Demokratie, ihre Entleerung und Entwertung, sind nicht allein auf verantwortungslosen Massenjournalismus, auf skrupellose Marketingstrategen und Politikberater zurückzuführen. Vielmehr gerät die Utopie eines egalitären Politikprojekts selbst in Bedrängnis. Demokratie büßt politische Substanz und aktives Potenzial ein (Crouch 2008, 13). Demokratiequalität wird nicht mehr bestimmt durch partizipatorischen oder integrativen Input (z.B. zunehmende Inklusion von Frauen, MigrantInnen, Jugendlichen). Nur effektiver Output für ökonomische Interessen vermag als einzig rational scheinendes Kriterium das demokratische System noch zu rechtfertigen. Unlegitimierte Expertennetze, wirtschaftliche Eliten oder Unternehmenslobbys erhalten zunehmenden Einfluss. Gleichzeitig werden »postdemokratische Ansätze des Regierens« in Gestalt neokorporatistischer Governance-Formen institutionalisiert (137, 142). Strukturen der Demokratie bleiben erhalten, während soziale Grundlagen der Politik, die eigentliche Substanz des Demokratischen, ausgelöscht werden. Zusammen führen diese Entwicklungen zum Syndrom der Postdemokratie.

Demokratie wird immer mehr als »minimale«, als »magere« praktiziert: Neopopulistische Meinungs- und Führungstechniken, Personalisierung und Elitisierung von Politik, Fassadendemokratie in Gestalt formaler Wahlbeteiligung für eine politisch vorwiegend passive Bevölkerung, weit reichende Entfaltungsmöglichkeiten für Lobbyisten der Wirtschaft bei gleichzeitigem Verzicht der Politik auf Interventionen in die kapitalistische Ökonomie. Zwar werden nach wie vor Wahlen abgehalten, aber »konkurrierende Teams professioneller PR-Experten [kontrollieren] die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark«, dass sie zum Spektakel verkommt. Politik erweist sich abermals als »eine Angelegenheit von Eliten« (ebd., 23). Symptome für tendenziellen Rückfall in vordemokratische und vorfeministische Zeiten sind nicht zu leugnen. Die Chancen stehen »schlecht für egalitäre politische Projekte zur Umverteilung von Wohlstand und Macht sowie die Eindämmung des Einflusses mächtiger Interessengruppen« (11).

Es soll keineswegs ein Ende der Demokratie herbeigeredet werden. Doch wenn die genannten Veränderungen wirksam bekämpft werden sollen, gilt es, Tendenzen entleerender und entwertender Transformationen des Demokratischen auszumachen und jene Aspekte des neoliberalen Regimes zu stoppen, die Demokratie zerstören. Es gab Zeiten, da galt Demokratieentwicklung als Gegenstand utopischen Denkens und alternativer politischer Praktiken. Demokratie wurde nicht als bloße Regierungstechnik erträumt, sie wurde als »Lebensform« (John Dewey, zit.n. Barber 1994, 25), als egalitäre »Form menschlicher Beziehungen« (10), eingefordert. Daran wäre für eine andere Zukunft wieder anzuknüpfen.

 

LITERATUR

Barber, Benjamin, 1984: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994
Bourdieu, Pierre, 1994: Der Neoliberalismus. Eine Utopie grenzenloser Ausbeutung wird Realität, in: ders., Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz, 109–18
Brie, Michael, o.J.: So viel Demokratie war noch nie. Beitrag für ein Seminar auf dem Europäischen Sozialforum, www.Brangsch.de/partizipation/mbriedemo.htm
Bröckling, Ulrich, 2007: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M
Crouch, Colin, 2008: Postdemokratie, Frankfurt/M
Demirovic´, Alex, 1997: Demokratie und Kapitalismus, in: ders., Demokratie und Herrschaft. Aspekte kritischer Gesellschaftstheorie, Münster, 12–20
Fach, Wolfgang, 2003: Die Regierung der Freiheit, Frankfurt/M Fischer, Karsten, 2006: Die jüngste Versuchung der Demokratie. ›Postdemokratie‹ und Politik-Netzwerke, in: Forschungsjournal NSB, 4, 47–57
Foucault, Michel, 2004: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 2, Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979, Frankfurt/M
Fraser, Nancy, 1997: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frankfurt/M 2001
Gerlach, Thomas, 2000: Die Herstellung des allseits verfügbaren Menschen. Zur psychologischen Formierung der Subjekte im neoliberalen Kapitalismus, in: UTOPIE kreativ, 121/122, 1052–65
Kurnitzky, Horst, 1994: Der heilige Markt. Kulturhistorische Anmerkungen, Frankfurt/M
Leggewie, Claus, und Christoph Bieber, 2003: Demokratie 2.0. Wie tragen neue Medien zur demokratischen Erneuerung bei? in: Claus Offe (Hg.), Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge, Frankfurt/New York, 124–51
Losurdo, Domenico, 1993: Demokratie oder Bonapartismus. Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts, Köln 2008
Merkel, Wolfgang, 1999: Defekte Demokratien, in: Wolfgang Merkel und Andreas Busch (Hg.), Demokratie in Ost und West, Frankfurt/M, 361–81
Mill, John Stuart, 1861: Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, Paderborn 1971
Norris, Pippa, (Hg.) 1999: Critical Citizens: Global support for Democratic Government, Oxford
Phillips, Ann, 1991: Geschlecht und Demokratie, Hamburg 1995
Polanyi, Karl, 1944: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M 1978
Rödel, Ulrich, Günter Frankenberg und Helmut Dubiel, 1989: Die demokratische Frage. Ein Essay, Frankfurt/M
Schmitter, Philippe C., 2003: Wie könnte eine »postliberale« Demokratie aussehen? in: Claus Offe (Hg.), Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge, Franfurt/New York, 152–65
Weber, Max, 1920–1921: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1988
Wiesenthal, Helmut, 2004: Wahrheit und Demokratie. »Neoliberale« Reformen als Katalysator eines neuen Parteiensystems? in: Die Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur, 4, 56–67
Wirtz, Thomas, 1998: Kultischer Kapitalismus. Wallfahrt zum Warenfetisch: Ein Fragment Walter Benjamins, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.4.1998