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Rein-Raus. Flexibel streiken

von Catharina Schmalstieg

Arbeitskämpfe werden in Deutschland zunehmend ›spektakulär‹ und öffentlichkeitswirksam geführt, auch die Formen des Streiks haben sich gewandelt. Ein ›Tapezierstreik‹, bei dem die Beschäftigten einfach zu Hause bleiben, wenn gestreikt wird, reicht nicht mehr aus. Tarifauseinandersetzungen wurden in den vergangenen Jahren härter geführt, Arbeitskämpfe dauerten länger. Das Spektrum reicht von Lokführerstreiks (2008) über Streiks der GebäudereinigerInnen (2009) und der ErzieherInnen (2009) bis hin zu den Streiks der FlugbegleiterInnen (2012) und der Flughafensicherung (2012). Immer häufiger muss die Kampfkraft der Beschäftigten unter Beweis gestellt werden, was den Druck auf die kollektiven Interessenvertretungen erhöht – denn nicht immer ist es im konkreten Fall möglich, einen erfolgreichen Arbeitskampf zu führen. Wie Organisationsmacht aufgebaut und gestärkt werden kann, lässt sich beispielhaft anhand von Strategien diskutieren, die im ver.di-Bezirk Stuttgart im Öffentlichen Dienst entwickelt wurden.

Dass Organisationsmacht immer häufiger mit der ›Macht der Füße‹ demonstriert werden muss, ist Resultat sich verändernder Rahmenbedingungen gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit und von der Gegenseite härter geführter Auseinandersetzungen; letztlich ist es auch ein Zeichen der Schwä- chung der Institutionen der Lohnabhängigen (vgl. Rehder u.a. 2012). War es in den 1980er Jahren im Öffentlichen Dienst noch möglich, einzelne Berufsgruppen der Stadtbetriebe zum Streik aufzurufen, um Verbesserungen für alle durchzusetzen, so ist dies spätestens seit Beginn der neoliberalen Haushaltskonsolidierungen nicht mehr der Fall. Neue Berufsgruppen mussten in die Lage versetzt werden, streiken zu können. Der ver.di-Bezirk Stuttgart hat in den letzten Jahren daher versucht, gezielt Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst, in den Kliniken sowie neue Beschäftigtengruppen in den Verkehrsbetrieben (z.B. beim Fahrkartenverkauf) zu organisieren. Zusammen mit den ›klassischen‹ Streikgruppen bilden die Genannten vier Säulen eines Streiks, der ökonomisch und politisch Wirkung entfalten kann.

Vereint streiken, Solidarität erleben

In der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst legten 2012 im Bezirk Stuttgart mehr als 7000 Beschäftigte am ersten Warnstreiktag ihre Arbeit nieder. Mit einer gemeinsamen Demonstration zeigten sie, dass sie gewillt waren, ihre Forderungen durchzusetzen. Früh morgens hatten die Streikenden im DGB-Haus eine Streikversammlung abgehalten und von dort aus den Demonstrationszug zum Stuttgarter Rathaus gestartet.

Statt einzelne Berufsgruppen mit jeweils ein paar hundert Beschäftigten zum Streik aufzurufen, werden bei der »Alle-Gemeinsam-Strategie« zum Auftakt eines Streiks alle Beschäftigten, deren Tarifvertrag neu verhandelt wird, dazu aufgefordert, die Arbeit niederzulegen.

Für die Außenwirkung eines Warnstreiks ist wichtig, dass für die Gegenseite erkennbar ist, dass sie mit einem starken gewerkschaftlichen Gegenüber konfrontiert ist. Wenn nicht alle Beschäftigtengruppen gleicherma- ßen zum Streik bereit sind, lassen sich mit dieser Strategie größere Teilnehmerzahlen erzielen.

Werden hingegen nur einzelne Berufsgruppen zum Streik aufgerufen, beteiligen sich in der Regel auch weniger Beschäftigte an ihm. Die auf Berufsgruppen beschränkte Strategie birgt zudem die Gefahr, Schwächen der aktuellen Machtposition aufzudecken. Selbst angenommen, es würden alle zum Streik Aufgerufenen die Arbeit niederlegen: Es macht einen Unterschied, ob eine Streikkundgebung 50 oder 500 Personen umfasst – auch dann noch, wenn diese 500 am Ende vielleicht nur fünf Prozent aller zum Streik aufgerufenen Beschäftigten ausmachen. Ein Berufsgruppenstreik mag zwar zunächst die gewerkschaftlichen Finanzen schonen, weil nur wenig Streikgeld ausgezahlt werden muss. Allerdings verzichtet die Gewerkschaft mit diesem Ansatz auf eine effektive Machtdemonstration und auf die Chance, ihre Organisationsmacht im Streik zu stabilisieren und auszubauen (vgl. Dribbusch 2011). Denn allein während der Warnstreikphase der Tarifrunde 2012 traten im ver.di-Bezirk Stuttgart mehr als 400 Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes in die Gewerkschaft ein.

Mit der Form des gemeinsamen Streiks schafft die Gewerkschaft außerdem eine kollektive Situation, die im Alltag nicht besteht. Dies zeigt erhebliche Binnenwirkung. Zunächst bietet sie den beteiligten Mitgliedern die Erfahrung gemeinsamer Stärke und kollektiven Handelns. Für Angehörige verschiedener Berufsgruppen, die oftmals gar keinen oder kaum Kontakt zueinander haben, wird die neue Gelegenheit geschaffen, gemeinsam etwas zu tun und ihren Forderungen in der Öffentlichkeit Nachdruck zu verleihen. Es stärkt aber auch die Gewerkschaft, wenn die Mitglieder den Tarifvertrag »aufgrund gemeinsamer Erfahrung als gemeinsame Sache anschauen«, so ein Hauptamtlicher.

Außerdem bietet die neue kollektive Situation Beschäftigten die Möglichkeit, sich aktiv an der Tarifbewegung zu beteiligen, und zwar unabhängig davon, wie viele der unmittelbaren KollegInnen mitziehen. Es lässt sich also festhalten, dass die »Alle-GemeinsamStrategie« die Bereitschaft und Fähigkeit zum Arbeitskampf stärkt.

Flexibel streiken – Neue Formen, Organisationsmacht auszuüben

Die Mobilisierung der Beschäftigten allein reicht jedoch oft nicht aus, die gegnerische Seite zum Einlenken zu bewegen. Ein Streik muss ökonomische oder (im Öffentlichen Dienst) politische Folgen haben. Gewerkschaften wiederum müssen mit ihren finanziellen und personellen Ressourcen haushalten und auch in dieser Hinsicht ökonomisch streiken. Angesichts dieses Dilemmas wurden von ver.di im Bezirk Stuttgart eine Reihe flexibler Streikstrategien entwickelt. Sie sind an Besonderheiten von Arbeitssituationen oder Berufsgruppen angepasst. Es gehört dazu, die Arbeitgeber im Unklaren darüber zu lassen, wann gestreikt wird oder wer streikt oder wo.

Rein-Raus

Die »Arbeiten-Streiken-Arbeiten-Streiken-Strategie« wurde 2006 in Stuttgart von den Beschäftigten der städtischen Müllabfuhr entwickelt, um den Einsatz privater Entsorgungsunternehmen zu verhindern bzw. zu behindern, die von der Stadt Stuttgart zum Unterlaufen des Streiks im Öffentlichen Dienst eingesetzt worden waren. Teil dieser Strategie ist, dass die Streikenden morgens wie gewohnt zur Arbeit kommen und mit ihren Müllwagen auf die Straße fahren. Die Stadt hat dann keinen Anlass, Fremdfirmen einzusetzen, und die bestellten privaten Entsorger müssen wieder abfahren. Sind diese erst einmal weg, legen die städtischen Müllwerker ihre Arbeit nieder. Aufseiten der Belegschaft konnte so die sinkende Streikmoral wieder aufgebaut, der Streik über mehrere Wochen weitergeführt und die Rückkehr an den Verhandlungstisch erzwungen werden.

Die Entwicklung dieses Vorgehens erfolgte in einer Situation, in der die alte Strategie des unbefristeten Streiks nicht die beabsichtigte Wirkung erzielt hatte und aufseiten der Belegschaft der Wille sank, ihn weiter fortzusetzen. Obwohl bekannt war, dass die Stadt private Entsorger einsetzen würde, gab es noch keine Strategie, darauf zu reagieren, und die Streikenden verließ langsam die Kraft. Als es zum Einsatz der privaten Firmen kam, rief die ver.di-Bezirksleitung die Streikenden sofort zur Streikversammlung. Noch am selben Tag entschied man sich für eine spontane Blockade des lokalen Müllheizkraftwerks, die zwei Wochen aufrechterhalten wurde. Der Versuch der Stadt Stuttgart, den Streik der Müllwerker zu brechen und die Streikenden zur Aufgabe zu bewegen, konnte abgewehrt werden. Mit Mut zum Experiment und beherzter Entschlossenheit war es gelungen, in die Offensive zu gehen und den Streik zu neuen Bedingungen fortzusetzen.

Obwohl das alte Streikmodell nicht funktionierte, war es schwierig, die alte, vertraute Vorstellung vom »typischen« Streik, bei dem alle unbefristet streiken, durch ein neues, unerprobtes Modell zu ersetzen: Um eine Niederlage langfristig abzuwenden, wurden in mehreren Streikversammlungen mit den Beschäftigten Handlungsmöglichkeiten diskutiert, Bedenken und Schwierigkeiten abgewogen und eine neue Strategie überlegt. Ein Ehrenamtlicher erinnert sich: »Wir haben [unsere Strategie] verändert […]. Wir werden arbeiten, streiken, arbeiten, streiken, damit der Arbeitgeber nie weiß, wann arbeiten wir, wann streiken wir. […] Das Rein-Raus ging dann so anderthalb Wochen« und hat entscheidend dazu beigetragen, dass ein Kompromiss geschlossen werden konnte.

Mit der flexiblen »Rein-Raus-Strategie« konnte der Einsatz privater Unternehmen nicht verhindert, aber die zersetzende Wirkung auf die Streikbereitschaft erheblich abgemildert werden. In der Öffentlichkeit war der Streik weiterhin wahrnehmbar, durch die Berichterstattung über die Blockade des Heizkraftwerks vielleicht sogar noch stärker als zuvor.

Auch die Binnenwirkung der Strategie war von großer Bedeutung. In den gemeinsamen Diskussionen wurde Vertrauen in die neue Strategie geschaffen. Die Strategie selbst enthielt auch einen nicht zu unterschätzenden Spaßfaktor. Das spielerische Moment, immer wieder neue Varianten zu überlegen, wie die privaten Unternehmen von der Arbeit abgehalten werden könnten, bot der Fantasie Raum und hielt das Interesse am Arbeitskampf wach. Kollektivität wurde erfahrbar. Die gemeinsam erlebten Situationen der Regelüberschreitung und Normverletzung – erst später stellte ein Gericht klar, dass die Blockade innerhalb des erlaubten rechtlichen Rahmens stattfand – und die darin erfahrene Solidarität über Beschäftigtengruppen hinweg stärkten zudem das Zusammengehörigkeitsgefühl der Mitglieder und die Organisationsmacht.

Diese Strategie erfordert ein hohes Maß an Kommunikation und Verlässlichkeit. Es muss sichergestellt sein, dass die jeweiligen Informationen alle zum Streik bzw. zur Arbeit Aufgerufenen erreichen. Gleichzeitig dürfen sie nicht an die Arbeitgeberseite gelangen, damit die Strategie wirksam bleibt. An einem Tag zu streiken und am nächsten wieder zu arbeiten, ist für die Gewerkschaft auch ein Weg, die Ressourcen der Streikkasse effektiv und sparsam zu verwenden.

Intervallstreiks

Die Strategie des flexiblen Wechsels von Arbeiten und Streiken kann nicht von allen Berufsgruppen gleichermaßen angewandt werden. Besonderheiten der jeweiligen Arbeitssituationen müssen bei der Strategiewahl und -entwicklung berücksichtigt werden. In Stuttgart entwickelten ErzieherInnen für ihren Arbeitsbereich passende flexible Strategien, mit denen die Angehörigen ihrer Berufsgruppe einen Streik über einen längeren Zeitraum führen können, ohne dass es zu einer gleichzeitigen Arbeitsniederlegung aller in diesem Arbeitsfeld Beschäftigten kommen muss.

Die Strategie des Intervallstreiks wurde ebenfalls 2006 entwickelt und orientiert sich an den kommunalen Strukturen – in Stuttgart und vielen anderen Städten sind die Kindertagesstätten nach regionalen Organisationsbereichen aufgeteilt – und sieht wie folgt aus: In der ersten Woche schließen die Betreuungseinrichtungen eines kommunalen Bereichs und die dort beschäftigten ErzieherInnen streiken in einem Intervall von mindestens zwei bis maximal vier aufeinanderfolgenden Tagen. In der zweiten Woche schließen alle Einrichtungen eines anderen Bereichs ebenfalls für zwei bis vier Tage und in der dritten die Beschäftigten eines weiteren Bereichs und so weiter. Auf diese Weise kann ein Streik über mehrere Wochen aufrechterhalten werden, ohne die Kinderbetreuung komplett einzustellen. Der Streik bleibt in der Öffentlichkeit sichtbar, und es kann Druck aufgebaut werden. Außerdem werden die besonderen Anforderungen und Belastungen der Beschäftigten berücksichtigt, die ein Streik für sie mit sich bringt, und auch Ermüdungserscheinungen der Streikenden kann vorgebeugt werden.

Für die Erzieherinnen und Erzieher in Einrichtungen, die über den gesamten ver.diBezirk verteilt sind, bietet der Streik außerdem eine willkommene Gelegenheit, endlich einmal zusammenzukommen und über ihre Arbeitssituation zu diskutieren. Kollektive Situationen zu schaffen, so eine Personalrätin, trage dazu bei, den Streik aufrechtzuerhalten.

Die Beschäftigten der Erziehungsdienste sind im Streik besonderen Belastungssituationen ausgesetzt. Vor und nach dem Streik sind die Beschäftigten mit den Eltern der Kinder konfrontiert, die an den Streiktagen eine Ersatzbetreuung finden oder Urlaub nehmen müssen. Haben viele Eltern zu Beginn des Arbeitskampfs meist noch Verständnis für die Streikenden, nimmt das mit Dauer der Auseinandersetzung ab. Eine Rein-Raus-Strategie wäre in diesem Bereich unangemessen.

Flankierend wurde eine Entlastungsstrategie der »Elternarbeit« organisiert, die vor Streikanfang einsetzt. Dazu gehören ein »Elternbrief« und Elternabende, an denen mit den Eltern über die Hintergründe des Streiks diskutiert wurde. Mit Erfolg wurde das Ziel verfolgt, dass die Eltern ihren Ärger gegen die für die schlechten Arbeitskonditionen Verantwortlichen richten und sich mit den Streikenden solidarisch erklären.

Mit der Entscheidung für das Recht auf einen Kindergartenplatz ist perspektivisch auch ein Ausbau der Kindertagesstätten und eine Erhöhung der Beschäftigtenzahlen verbunden. Ver.di Stuttgart hat diese strategische Option erkannt, und die Bemühungen, den Bereich gezielt gewerkschaftlich zu organisieren, sind erfolgreich. Rückblickend lässt sich feststellen, dass mit dem Streik im Jahr 2006 bei den ErzieherInnen eine wichtige Basis geschaffen wurde, die bereits 2009 sichtbar wurde, als bundesweit mehrere Wochen gestreikt wurde.

Partizipative Strategieentwicklung

Es lässt sich festhalten, dass die vorgestellten Strategien die Arbeitskampffähigkeit von Gewerkschaften erhalten beziehungsweise wieder herstellen können. Insbesondere den flexiblen Streiks kommt die Funktion zu, schonend mit den Ressourcen der Organisation umzugehen. Dazu gehört, die Belastung der Streikenden zu reduzieren. Der Erfolg eines Streiks hängt zunächst von der Beteiligung der Beschäftigten ab. Die Beispiele zeigen, dass Streikstrategien dann passgenau sind und die Beteiligung steigt – und damit die Erfolgsaussichten –, wenn die Beschäftigten und ihre Kenntnisse der Betriebsabläufe und Arbeitssituationen bereits im Vorfeld in die Strategieentwicklung einbezogen werden. Eine solche Herangehensweise der Gewerkschaftsarbeit stärkt sowohl die personale Handlungsfähigkeit der Mitglieder als auch ihre kollektive Handlungsfähigkeit, das heißt Organisationsmacht (vgl. Schmalstieg 2009). Mit partizipativer Strategieentwicklung können zudem Wege gefunden werden, die es erlauben, mit wenigen Streikenden gute Ergebnisse zu erzielen. Gewerkschaftliche Anliegen mit den Anliegen Dritter zusammenzuführen, wie es in Stuttgart bei den Streiks der ErzieherInnen versucht wurde, eröffnet zudem neue Handlungsperspektiven. Bislang haben wir es hier noch mit einer Art Experimentierfeld gewerkschaftlichen Handelns zu tun, dessen Potenzial für die Erneuerung der Organisation wie für die Erweiterung der Machtressourcen abhängig Beschäftigter noch weiter auszuloten ist.

 

Literatur

Dribbusch, Heiner, 2011: Organisieren am Konflikt: Zum Verhältnis von Streik und Mitgliederentwicklung, in: Thomas Haipeter und Klaus Dörre (Hg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, Wiesbaden, 231–263
Rehder, Britta, Olaf Deinert und Raphaël Callsen, 2012: Arbeitskampfmittelfreiheit und atypische Arbeitskampfformen, Frankfurt/M
Schmalstieg, Catharina, 2009: Organisierung Prekärer in den USA – Gewerkschaft als Handlungsplattform, in: Das Argument 284, 905–915, www.linksnet.de/de/artikel/25211