| Rationale Diskriminierung

Dezember 2015  Druckansicht
Von Stefan Selke

oder: die Ausweitung der sozialen Kampfzone durch Lifelogging

Lifelogging – zur Relevanz eines Booms

Lifelogging, also die digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung, spiegelt den Zeitgeist perfekt: Nach einer Studie von Yougov können sich 32 Prozent der BundesbürgerInnen vorstellen, gesundheitsbezogene Daten an Krankenversicherungen weiterzuleiten, um Vorteile zu erhalten. Jede/r fünfte Befragte zieht die digitale Vermessung der eigenen Kinder in Betracht.1 Die Techniker Krankenkasse (TK) kommt gar zu der Einschätzung, dass ›Gesundheits-Apps‹ verlässlich zum eigenverantwortlichen Umgang mit Gesundheit beitragen.2 Wer genauer hinhört, kann aber auch andere Stimmen vernehmen: Die meisten der Befragten in der Yougov-Studie haben ein Gespür für die Schattenseiten. 73 Prozent ahnen, dass bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit einer Beitragserhöhung zu rechnen ist. Und sogar 81 Prozent glauben, dass ihre Daten missbraucht werden. Diese Sorgen sind berechtigt: Die IT-Sicherheitsfirma Symantec untersuchte Angebote zur Selbstvermessung und kam zum Ergebnis, dass der Datenschutz einer Vielzahl von Anbietern egal ist.3 Selbst die TK räumt ein, dass es den meisten ›GesundheitsApps‹ noch an »Qualität« und »Nachhaltigkeit« mangele. Zudem weitet sich die Zone der Selbstvermessung immer mehr aus: Neben einfachem Gesundheitsmonitoring sind Sleeplogging, Moodlogging, Sexlogging, Worklogging und sogar Deathlogging möglich (Selke 2014). Digitale Selbstvermessung bringt zweifellos Chancen mit sich. Doch es gibt auch Pathologien und Risiken.

Pathologien der Quantifizierung

In einer »Always-on-Gesellschaft« (Henning 2015) verschieben sich Normen der Selbstbeobachtung hin zu permanenter Selbst- überwachung und zur Kontrolle zwischen Peer-to-peer-Bezugsgruppen. Daten wird dabei eine kaum hinterfragte Wertigkeit zugesprochen. Woher aber rührt diese Kennzahlengläubigkeit?

Die neue Lust an der Selbstverdatung korrespondiert mit dem Anwachsen von Komplexität und Kontingenz sowie der Angst vor Kontrollverlust. Daten haben dabei die Funktion von Deichen: Sie schützen vor dem jähen Einbruch des Unbekannten und Unvorhergesehenen. Hieraus resultiert als Strategie der Rückzug auf die Maßstabsebene des Beherrschbaren – und die wird vor allem mit dem eigenen Körper assoziiert. Die damit erzielte Umwandlung des Körpers zum Lifestyle-Produkt kann anhand des Konzepts des korporalen Kapitals nachvollzogen werden (Schröter 2009): Die Baustelle Körper erhält den Status eines Investitionsobjekts, das eigene Leben mutiert zu einem Projekt. Lebensprojekte folgen ökonomischen Logiken. Strategien wie Effizienzsteigerung und Selbstoptimierung pervertieren zum Dopingmittel, da das Leben unter modernen Wohlstandsbedingungen bedeutet, sich unter Wettbewerbsbedingungen selbst so zu konfigurieren, als wäre man eine Maschine, die optimal funktioniert. In der Selbstvermessungsszene finden sich in der Tat viele mechanistische Bilder eines in Einzelteile zerlegbaren Körpers, der bei Defekten (selbst) ›repariert‹ werden soll.

Durch die zunehmenden Vermessungsmöglichkeiten wird in den Vollzug des Lebens selbst eingegriffen: Überall müssen wir unser Leben ›unter Beweis‹ stellen. Wir sind ständig als ›Lebendbewerbung‹ unterwegs, wir müssen ›performen‹ und fühlen uns dabei beobachtet. Da inzwischen fast alles marktförmig organisiert ist, lernen wir, anhand von Kennwerten zu navigieren, anstatt uns auf Intuition oder andere Hinweise zu verlassen. Der Mythos der Objektivität von Zahlen nährt den fast alternativlosen Glauben an scores und rankings: Nur was sich messen lässt, kann auch verbessert werden – so der an Managementtheorien geschulte Common Sense.

Das Wissen um das eigene ›Ich‹ wird letztlich zur Pflichtübung. In allen nur denkbaren Bereichen des Lebens sind Nützlichkeits- überlegungen, Kosten-Nutzen-Analysen und Effizienzberechnungen gegenwärtig. Leistung wird in allem gesucht, was quantifizierbar ist: »Joggen wird zur Leistung ebenso wie Sightseeing oder das verfügbare Repertoire an Sexpositionen.« (Distelhorst 2014) Berechenbarkeit gilt als idealtypischer Ausdruck leistungsgerechter Lebensführung. Dadurch senkt sich außerdem der »Boden der sozialen Respektabilität« immer weiter ab, indem ganze Bevölkerungsgruppen durch Prekarität (das heißt konkret: Vereinzelung und Verunsicherung) stigmatisiert und exkludiert werden.

Das Prinzip rationaler Diskriminierung

Die Zunahme von Verunsicherungsphänomenen legitimiert ein horizontales Kontrollregime, das auf der Abweichung von Sollwerten basiert und eine Normalgesellschaft installiert. Daten dienen dazu, vorhandene soziale Erwartungen zu ›übersetzen‹. Der Eingriff in den Vollzug des Lebens resultiert daraus, dass Daten nicht allein der Beschreibung von Sachverhalten dienen. Messung funktioniert vielmehr erst durch soziale Kontextualisierungen der Daten. Durch Kontextualisierungen werden aus deskriptiven Daten normative Daten. Normative Daten ›übersetzen‹ soziale Erwartungen an ›richtiges‹ Verhalten, ›richtiges‹ Aussehen, ›richtige Leistung‹ usw. in Kennzahlen und fordern damit ein bestimmtes sozial erwünschtes Verhalten ein.

Diese übersetzten Erwartungen erzeugen schleichend ein neues Organisationsprinzip des Sozialen. Durch die Allgegenwart von Vermessungsmethoden kommt es zu ständiger Fehlersuche, sinkender Fehlertoleranz und gesteigerter Abweichungssensibilität. Menschen werden zunehmend über die (negative) Abweichung von Idealen und Idealwerten wahrgenommen. Große Bereiche des Lebens, die sich nur in qualitativen Dimensionen abbilden lassen und zugleich die Grundlage für positive soziale Wahrnehmungen sein könnten, geraten in den Hintergrund. Menschen werden insgesamt zu numerischen Objekten degradiert.

Das führt zum Phänomen rationaler Diskriminierung. Unter diesem Begriff wird ein negativ konnotiertes soziales Organisationsprinzip verstanden, das aus der Verbreitung und Verbreiterung von Selbstvermessungspraktiken resultiert. Der erste Begriffsanteil betont die Methode, der zweite die Folgen. Rational heißt diese Form der Diskriminierung, weil sie davon ausgeht, dass prinzipiell alles messbar und somit erklärbar ist. Dabei werden aus Selbstexperimenten vermeintlich objektive Daten mithilfe transparenter Messverfahren abgeleitet, wobei vordergründig keine irrationalen Abwertungsmotive handlungsleitend sind, sondern ›bloß‹ der Wunsch nach Dokumentation. Es handelt sich gleichwohl um eine Form der Diskriminierung, die sich typologisch zwischen sozialer und statistischer Diskriminierung einordnen lässt. Unter sozialer Diskriminierung wird meist die kategorische Ablehnung oder Benachteiligung von Personen aufgrund von (tatsächlichen oder zugeschriebenen) gruppenspezifischen Merkmalen (z.B. Ethnie, Geschlecht, Alter) sowie politischer, religiöser oder sexueller Orientierung verstanden. Der Diskriminierungsaspekt kann von sprachlichen und symbolischen Abwertungen über sozialräumliche Exklusion bis hin zu manifester Gewalt reichen. Unter statistischer Diskriminierung wird die pauschale Be- und Verurteilung von Personen aufgrund wahrscheinlichkeitstheoretischer Ansätze verstanden. Der Diskriminierungsaspekt liegt darin begründet, dass individuelle Ausprägungen, also zum Beispiel die tatsächliche Arbeitsleistung oder die tatsächliche Kaufkraft, für zahlreiche Entscheidungen (Einstellung in einem Unternehmen, Kreditvergabe, Strafverfolgung etc.) keine Rolle mehr spielen. Statistische Diskriminierung verstößt gegen Gleichbehandlungspflichten in den Bereichen Versicherungsschutz, Arbeitsmarkt oder Altersversorgung (vgl. Richter 2011).

Das Phänomen der rationalen Diskriminierung kann zwischen statistischer und sozialer Diskriminierung verortet werden, weil einerseits Einzelwerte mit Gruppen-, Mittel- oder Idealwerten abgeglichen werden, anderseits Vorabdefinitionen des Normalen festgelegt werden. Selbstvermessung basiert auf Meta-Annahmen zur Normalität, zu der damit verbundenen Scheinnormalität sowie dem daraus resultierenden Konformitätsdruck. Um nur drei Beispiele zu nennen: Rationale Diskriminierung findet immer dann am Arbeitsplatz statt, wenn etwa im betrieblichen Gesundheitsmanagement einzelne MitarbeiterInnen unter Druck gesetzt werden, weil durch deren normabweichendes Verhalten der health score der gesamten Belegschaft schlechter ausfällt. Aus diesem kollektiven health score, der von Firmen wie dacadoo aus individuellen Werten errechnet wird, ergibt sich inzwischen der Versicherungsbeitrag für die Betriebskrankenkasse. Rationale Diskriminierung findet außerdem dann statt, wenn Leistungen (z.B. von Versicherungen und Krankenkassen) zunehmend auf der Basis des Risikoäquivalenzprinzips vergeben werden, also nur in Abhängigkeit von zuvor berechneten Wahrscheinlichkeiten oder nachweisbaren präventiven Aktivitäten. Rationale Diskriminierung findet schließlich auch im Rahmen technischer Assistenzsysteme statt, die immer häufiger im Bereich der Pflege älterer Menschen eingesetzt werden. Durch diese wird Verantwortung für Fürsorge zunehmend in technische Systeme verlagert. Wo früher Menschen für Menschen Entscheidungen getroffen haben, tun dies heute Sensoren.

Folgen rationaler Diskriminierung

Die Folge ist eine ›digitale Klassengesellschaft‹, deren gesellschaftliche Konflikte vorgezeichnet sind. Lifelogging kann hierbei als eine »disruptive Technologie« (Coupette 2014) verstanden werden, die in sehr kurzer Zeit massiv in das Wertegefüge unserer Kultur eingreift. Dieser Eingriff erzeugt neue strukturelle Bedingungen für soziale Abwertungen, die sich zusehends in vielfältigen Praxisfeldern institutionalisieren.

Die expressive Normativität der Daten mündet schließlich im Zerfall des (noch vorhandenen) Solidaritätsgefüges. Rationale Diskriminierung basiert zwar auf vermeintlich objektiven und rationalen Messverfahren. Dennoch werden mit den Vermessungsmethoden digitale VersagerInnen und GewinnerInnen produziert – und zwar nicht zuletzt, weil diesen irrationales Verhalten unterstellt wird. So trennen sich LeistungsträgerInnen von LeistungsverweigererInnen, KosteneinsparerInnen nehmen Abstand von KostenverursacherInnen, Health-on-Menschen (Gesunde) fühlen sich Health-off-Menschen (Kranken) überlegen. Oder allgemein: Nützliche stehen den Entbehrlichen gegenüber. Vor allem kommt es zu einer Renaissance vormoderner Anrufungen von Schuld im modernen Gewand der Rede von Eigenverantwortung. Lifelogging kann vor diesem Hintergrund auch als shame punishment verstanden werden. Das funktioniert gerade dann, wenn sich die Diskriminierung hinter den Fassaden von spielerischen Wettbewerben oder Belohnungssystemen verbirgt.

Selbstvermessung als Bürgerpflicht?

Dieser doppelte Prozess der Normierung (Standardisierung) und Normalisierung (Kontrolle) verengt die Zone des Normalen und Menschlichen und läuft Gefahr, eine »vollkommen disziplinierte Sozialstruktur« (Mills 1963) auf der Basis rationaler Konsistenz zu erzeugen. Werden wir also Teil einer funktionell rationalen Totalität, indem wir uns selbst zunehmend rationalisieren? Macht uns das vielleicht sogar glücklicher und zufriedener?

Wohl kaum. Denn rationale Diskriminierung verändert schleichend die Behandlung von Menschen und erzeugt dort Gerechtigkeitsprobleme, wo es um existenzielle Entscheidungen geht. Wenn aus Menschen Zahlenkörper werden, weil Daten soziale Erwartungen übersetzen, kann mit Menschen viel rücksichtsloser und gleichgültiger verfahren werden. Verschwinden die persönlichen Umrisse durch die Quantifizierung, bedeutet dies auf lange Sicht die Ausschaltung der differenzierten Persönlichkeit und die Etablierung eines eindimensionalen Menschenbildes. Und aus dieser Entpersönlichung resultiert letztlich eine Verdinglichung des Sozialen und die Kommodifizierung des Menschen: Die Frage nach dem »richtigen Maß des Lebens« verschiebt sich immer weiter hin zur Frage nach dem »Wert des Menschen«.

Hieraus ergibt sich eine generalisierte Ideologie der Ungleichwertigkeit. Rationale Diskriminierung ist die Grundlage für die Konstruktion neuer sozialer Kategorien und die Etablierung neuer sozialer Sortierungen, die Abweichungen, Verdächtigungen, Risiken, Defizite und vor allem Kostenfaktoren in den Mittelpunkt stellen. Rationale Diskriminierung kann in Zukunft sogar zu einem legitimen Element der Strafverfolgung mutieren. Am Ende dieser Entwicklung stünde dann die Notwendigkeit zur Umkehr der Beweislast. Die Default-Situation wäre dann die ›Verdächtigung‹. Der Mensch würde also primär als Risiko, als Fehler, als Störfall angesehen. Erst ausgehend davon müsste dann die eigene Nützlichkeit, Ungefährlichkeit, Passung etc. nachgewiesen werden.

Wir sind nicht mehr weit von diesem Szenario entfernt. Bereits jetzt werden Daten zunehmend als fiktive Autoritäten anerkannt. Der Protagonistin des Romans Limit legt der Erzähler (Frank Schätzing) folgende Worte in den Mund: »Das Ende der Kontrolle ist das Ende der Existenz.« Gut, dass dem noch nicht so ist. Noch ist Zeit, dieser Sichtweise durch Aufklärung die Notwendigkeit von Zonen der Intransparenz als Signatur des Menschlichen entgegenzusetzen.

Dieser Beitrag geht zurück auf einen Vortrag auf der Jahrestagung des Deutschen Ethikrats am 21. Mai 2015 in Berlin mit dem Titel »Die Vermessung des Menschen – Big Data und Gesundheit«.

 

Literatur

Coupette, Jan, 2014: Digitale Disruption erfordert Bewegung – das Internet of Everything, in: Wirtschaftsinformatik & Management 2, 20–29
Distelhorst, Lars, 2014: Leistung. Das Endstadium einer Ideologie, Bielefeld
Gertenbach, Lars und Sarah Mönkeberg, 2015: Lifelogging und vitaler Normalismus. Kultursoziologische Betrachtungen zur Neukonfiguration von Körper und Selbst, in: Stefan Selke (Hg.), Lifelogging. Digitale Selbstvermessung zwischen disruptiven Technologien und kulturellem Wandel, Wiesbaden, i.E.
Henning, Markus, 2015: Sicherheit im Always-On, Vortrag auf dem Tag der IT-Sicherheit in Karlsruhe, 19.5.2015
Mills, Wright C., 1963: Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied am Rhein
Richter, Tobias, 2011: Gleichbehandlungspflichten in der Privatversicherung. Schutz vor personenbezogener statistischer Diskriminierung im Privatrecht, Baden-Baden
Schröter, Klaus, 2009: Korporales Kapital und korporale Performanzen in der Lebensphase Alter, in: Herbert Willems (Hg.), Theatralisierung der Gesellschaft, Wiesbaden, 163–181
Selke, Stefan, 2015: Die Vermessung des Menschen – Big Data und Gesundheit
Ders., 2014: Lifelogging. Wie die digitale Selbstvermessung unsere Gesellschaft verändert, Berlin Stark, Christopher, 2014: Neoliberalyse. Über die Ökonomisierung unseres Alltags, Wien

Anmerkungen

1 Vgl. d25d2506sfb94s.cloudfront.net/r/19/Studienflyer_Quantified_Health.pdf.
2 Vgl. www.tk.de/tk/pressemitteilungen/politik/724460.
3 Vgl. www.symantec.com/content/en/us/enterprise/ media/security_response/whitepapers/how-safe-is-yourquantified-self.pdf.