| Prekär und widerständig

April 2015  Druckansicht
Von Ingrid Artus

»Zum Zuschlagen brauchst Du paar feste Meter zum Stehn«

»Die Prekarität beeinträchtigt diejenigen, die sie erleiden, in tiefgehender Weise; indem sie die gesamte Zukunft unsicher macht, untersagt sie jede rationale Antizipation, und insbesondere jenes Minimum an Glauben und Hoffnung in die Zukunft, die nötig sind, um sich aufzulehnen, vor allem in kollektiver Form, gegen die Gegenwart, sei diese noch so unerträglich.«

Dieses Zitat von Pierre Bourdieu (1998) betont die Schwierigkeiten kollektiven Widerstands unter prekären Verhältnissen. Dennoch sind Arbeitskämpfe auch hier möglich, wie eine ganze Reihe von Streiks in Branchen mit überwiegend prekären Arbeitsbedingungen zeigt. Es seien hier nur einige eindrückliche Beispiele der letzten Jahre genannt: der erfolgreiche Streik um den Erhalt des Manteltarifvertrags im Einzelhandel 2013 (vgl. Zeise in LuXemburg 1/2014), der bis heute andauernde Arbeitskampf der Pflegekräfte für eine Personalbemessung an der Berliner Charité (vgl. Wolf in LuXemburg 1/2013), der Streik im privaten Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen und hier besonders erfolgreich in der privaten Flugsicherung, besonders hartnäckig, wenn auch leider nicht ganz so erfolgreich der neun Monate dauernde Streik bei Neupack in Hamburg (vgl. Birke in LuXemburg 1/2013) sowie unlängst der Streik beim italienischen Unternehmen Autogrill, einem Gastronomie- und Einzelhandelskonzern mit etwa 1 200 Niederlassungen und 75 000 Beschäftigten in 43 Ländern. Nicht unerwähnt bleiben darf freilich der Streik beim Internethändler Amazon, der in seiner Verbissenheit ein geradezu paradigmatischer Konflikt ist – dessen Ausgang nach wie vor offen scheint.

Zur Logik prekärer Streiks

Die genannten Beispiele zeigen, dass sich Kämpfe im prekären Dienstleistungsbereich häufig um grundlegende Themen drehen, um existenzsichernde Löhne, erträgliche Arbeitsbedingungen oder um die Verteidigung beziehungsweise Anbindung an einen Tarifvertrag. Konfliktträger ist oft nicht ›die breite Masse‹, sondern sind eher kleine, kampfstarke Gruppen, die es meist mit renitentem Widerstand der Arbeitgeberseite zu tun haben. Letztere kämpft mit ›harten Bandagen‹, die von Streikbruch durch LeiharbeiterInnen wie bei Neupack bis hin zu Drohungen, Standorte zu verlagern, reichen, wie zuletzt bei Amazon. Es sind lang andauernde, verbissene Kämpfe, die oft medial aufgeladen und zugespitzt sind. Typischerweise sind nicht alle Beschäftigten bereit, diese erbitterten Auseinandersetzungen einzugehen. Es kommt zu Spaltungen innerhalb der Belegschaften und zu Konflikten zwischen den Beschäftigten. Gleichzeitig führt diese Konflikteskalation zu Prozessen forcierter normativer Integration: Es entstehen solide, zusammengeschweißte ›Kampfgemeinschaften‹, viele treten der Gewerkschaft bei. Im Zuge des Einzelhandelsstreiks konnte ver.di nach eigenen Angaben etwa 30 000 neue Mitglieder werben. Betrachtet man die materiellen Ergebnisse dieser Konflikte, so fällt die Bilanz gemischt aus: Manche Streiks enden erfolgreich, andere mit Kompromissen oder gar Niederlagen. Hoffnungen auf schnelle Erfolge in prekärem Gelände sollte man sich nicht machen. Meistens geht es den Beschäftigten aber nach den Streiks besser als vorher – und etwas gelernt haben sie, sowie die Gewerkschaften allemal.

Prekäre Verhältnisse

Will man die Bedingungen prekärer Dienstleistungsarbeit verallgemeinernd beschreiben, so trifft es »Arbeit in Häppchen für wenig Geld« (Jaehrling et al. 2006) recht gut. Der Lohn ist meist nicht existenzsichernd, die Beschäftigung oft befristet, zeitlich reduziert, Mini- und Midi-Jobs sind weit verbreitet. Dienstleistungsarbeit findet oft flexibilisiert statt, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten und bietet keine langfristig sichere Lebensperspektive, sondern einen beschränkten individuellen Planungshorizont. Es handelt sich um bad jobs, die kaum Quelle von Anerkennung, gar ›Lebenssinn‹ darstellen, sondern häufig mit Erfahrungen der Missachtung verknüpft sind. Dennoch ist es falsch, diese Jobs als ›einfache‹ oder ›unqualifizierte Dienstleistungsarbeit‹ zu bezeichnen. Es herrscht meist ein hoher Leistungsdruck, und die Beschäftigten müssen einiges können, um sie auszuführen. In vielen Bereichen sind mehrjährige Fachausbildungen nötig. Gemeinsam ist diesen Jobs, dass sie gering bewertet und von Menschen erledigt werden, die einen niedrigen gesellschaftlichen Status besitzen: überproportional oft von Frauen und MigrantInnen. Außerdem sind die bad jobs meist nur ein Aspekt der prekären Lebenslage der Beschäftigten. Hinzu kommen: Alleinzuständigkeit für Kinder, gesundheitliche und psychische Beschwerden, zerrüttete Familienverhältnisse, Schulden, aufenthaltsrechtliche oder Sprachprobleme, Drogenabhängigkeit oder Gewalterfahrungen. Das ›Kaleidoskop der Schwäche‹ ist umfassend und konstituiert die typische Problematik prekärer Kämpfe. Christian Geissler brachte sie in seinem Roman Das Brot mit der Feile prägnant auf den Punkt, indem er eine alte Boxerweisheit zitiert: »Zum Zuschlagen brauchst Du paar feste Meter zum Stehn« (1973, 142). Diese »paar festen Meter« haben viele prekär Beschäftigte nicht. Das heißt nicht, dass prekärer Widerstand unmöglich wäre, aber: Widerstand ist schwieriger als anderswo.

Oft dauert es deshalb lange, bis Konflikte nicht mehr verdrängt, sondern ausgetragen werden. Typisch ist ein langes Leiden der Belegschaften. Bei Neupack gingen zwanzig Jahre ins Land, bevor ein Tarifvertrag gefordert wurde. Die Menschen machen viel mit, weil sie nicht daran glauben, aus eigener Kraft etwas ändern zu können. Schließlich ist das Machtungleichgewicht groß zwischen ›schwachen‹ Beschäftigten mit geringen Machtressourcen und gefährdetem Standing in ihrem Lebenszusammenhang und häufig multinationalen Konzernen, die über ein immenses Kapital, juristische Expertise und Repressionswillen verfügen. Angst und Ohnmacht sind die zentralen Schlagworte. Immer wieder haben die Beschäftigten erfahren, dass man ›die Dinge nicht ändern kann‹ – sei es im Betrieb oder beim Gang aufs Arbeits- und Sozialamt. Der erste Grund für die lange Leidensfähigkeit ist daher die Perspektivlosigkeit, der zweite die Vereinzelung: Die Beschäftigten haben häufig wenig miteinander zu tun, Vergemeinschaftung ist schwierig. Räumlich sind oft viele Tausend Beschäftigte einer Belegschaft auf eine Vielzahl von Filialen, Baustellen, Restaurants oder Pflegehaushalten verteilt. Sie arbeiten in Teilzeit, in flexiblen Schichtsystemen und oft in kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen. Die Fluktuation ist hoch. Wer die Arbeitsbedingungen nicht mehr erträgt, kündigt oder kommt einfach nicht mehr. Da kann sich Kollegialität und Vertrauen nur schlecht entwickeln. Auch kulturell gesehen, arbeiten Beschäftigte mit sehr heterogenen Lebenserfahrungen Seite an Seite. Es werden unterschiedliche Sprachen gesprochen. Dies ist schwierig für kollektive Interessenvertretung. Und last but noch least: Gewerkschaft oder auch einen Betriebsrat gibt es meist nicht. Vielleicht wäre irgendwo ein Gesamtbetriebsrat formal zuständig, aber falls man von dessen Existenz überhaupt etwas weiß, ist er meist weit weg, am Hauptsitz des Konzerns.

In dieser Situation versuchen die Menschen individuell irgendwie zu überleben, ihren Alltag zu meistern. Im Fall von Konflikten ergreifen sie eher Exit- als Voice-Strategien. Für Letztere fühlen sie sich zu schwach, es gibt wenig Hoffnung auf Erfolg und kaum Aussicht auf Unterstützung durch KollegInnen, einen Betriebsrat oder die Gewerkschaften. Die Idee von kollektivem Widerstand scheint geradezu »verrückt«. Dies ist eine Selbstbezeichnung von AktivistInnen, die von sich selbst sagen: »Wir waren so ein paar Verrückte, die es trotzdem versucht haben, einen Betriebsrat zu gründen« – und erfolgreich waren.

Verrückte Kämpfe

Es gibt immer wieder »verrückte« Menschen, die unter schwierigen Bedingungen kollektiv für höhere Löhne, Anerkennung und Gerechtigkeit kämpfen. Wer sind sie? Sie stammen oft aus der Stammbelegschaft der Unternehmen und sind schon länger im Betrieb. Manchmal haben sie sich durch Engagement und gute Leistungen einen beschränkten betrieblichen Aufstieg erarbeitet und sind Mitglied des unteren Managements. Dies ist ein Grund, weshalb sie im Fall von Schwierigkeiten den Betrieb nicht einfach verlassen. Sie verfügen über gute Kontakte zu anderen Beschäftigten und haben über Jahre hinweg betriebliches Wissen angesammelt. Sie besitzen oft überdurchschnittliche Qualifikationen und, was ganz wichtig ist, einen individuellen Erfahrungshintergrund, der es ihnen erlaubt, die betriebliche Realität an einem Maßstab außerhalb dieser Welt zu messen. Das kann ein politischer Referenzrahmen sein, das können gewerkschaftliche Solidaritätsnormen sein, mit der sie im familiären Umfeld oder Freundeskreis in Kontakt gekommen sind; es können aber auch religiöse Überzeugungen sein oder auch ein Migrationshintergrund. Es kommt recht häufig vor, dass Menschen, die in ihren Herkunftsländern zur Mittel- oder Oberschicht gehörten, in Deutschland um einen gesellschaftlichen (Wieder-)Aufstieg kämpfen. Nicht selten dienen Migrations­erfahrungen auch als eine Art Negativ­horizont, nach dem Motto: »Da wo wir herkommen, gibt es kein Recht auf gewerkschaftliche Organisierung. Hier gibt es sie, also müssen wir sie nutzen.« Höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen sind den verrückten AktivistInnen wichtig, aber sie sind nicht das einzige und nicht das wichtigste Ziel ihres Engagements. Im Kern geht es meist um eine veränderte Kultur des Umgangs, um ein Mindestmaß an Respekt, Würde und Anerkennung.

Die AktivistInnen haben nur dann Erfolg, wenn sie ›überzeugend‹ und ›repräsentativ‹ sind. ›Überzeugend‹ sein heißt, die betriebliche Realität gegenüber den KollegInnen auf eine Art und Weise so darzustellen, dass diese als illegitim erscheinen. Es geht um die Transformation von Unzufriedenheit in das Gefühl von Ungerechtigkeit (Kelly 1998, 27). Sie müssen glaubhaft machen, dass die Verhältnisse ›empörend‹ sind, das heißt entsprechend gängiger moralischer Maßstäbe nicht länger hinnehmbar. Dann ist Widerstand legitim. ›Repräsentativ‹ sein heißt, als glaubwürdige Vertreter der kollektiven Empörung zu agieren. Sie müssen als vertrauenswürdige und durchsetzungsfähige SprecherInnen auftreten, denen man zutraut, dass sie in dem Konflikt vorangehen und auch bei Repression nicht zurückweichen werden. Nur dann erscheint Widerstand nicht nur legitim, sondern auch erfolgsträchtig.

Häufig wissen die verrückten AktivistInnen am Anfang nicht, was sie tun, sie ahnen nicht das Ausmaß des Konfliktes, den sie provozieren. Und selbst im Nachhinein urteilen sie oft: »Wenn ich es gewusst hätte, worauf ich mich einlasse, dann hätte ich es nicht gemacht.« Aber die Dialektik der Konfliktereignisse formt ihre Akteure: Zuweilen entwickeln die AktivistInnen und die kämpfenden Belegschaften ein Ausmaß an Durchhaltefähigkeit und Kampfkraft, von dem sie vorher nichts geahnt haben. Aber die verbissenen Grabenkämpfe fordern eine Menge Energie und Entschlossenheit. Die Gegner sind stark. Die verrückten AktivistInnen brauchen also einen langen Atem, solide Machtpotenziale und UnterstützerInnen vor Ort. Die Belegschaft muss hinter ihnen stehen, aber oft ist es die Unterstützung von außen, die entscheidend ist – sei es von der Gewerkschaft, vom Gesamtbetriebsrat, von anderen Standorten oder von sonstigen UnterstützerInnen.

Prekäre AktivistInnen und  Gewerkschaften

In unserer Studie über Betriebsratsgründungen (Artus et al. 2014) haben wir viele Fälle einer engen, intensiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen prekären betrieblichen Kämpfen und lokalen GewerkschaftsfunktionärInnen gefunden. Die vielleicht wichtigste Funktion der Gewerkschaft besteht darin, die Angst der Beschäftigten zu mindern. Wenn »die starke« ver.di oder IG Metall den Kampf unterstützt, scheint es aussichtsreicher, sich mit dem vermeintlich übermächtigen Arbeitgeber anzulegen. Manchmal kommt es zu fast ›erdrutschartigen‹ Eintrittswellen. Die Mitgliedschaft sichert dann nicht nur Rechtsbeistand im Konflikt, sondern dient auch der wechselseitigen Versicherung von Solidarität. Die Rolle der Gewerkschaft in prekären Kämpfen ist essentiell, als rechtliche und strategische Ratgeberin, als moralische Unterstützung, für die mediale Politisierung und für die überbetriebliche Vernetzung der Kämpfe. In vielen Fällen klappt das gut. Aber es gibt auch systematische Problemlagen, die erkannt und benannt werden müssen, um sie bearbeiten zu können:

Erstens existiert häufig eine kulturelle Kluft zwischen einer zuweilen bürokratischen gewerkschaftlichen Organisationsrealität und den prekären betrieblichen Kämpfen. Die Lebenslagen von in Vollzeit beschäftigten, gut bezahlten GewerkschaftsfunktionärInnen, teils aus (klein)bürgerlichem Hause, mit akademischem Abschluss und den vielfach verwundbaren AktivistInnen haben manchmal wenig gemeinsam. Auch gängige Politikkonzepte passen nicht immer auf die repressiven Verhältnisse, in denen das klassische Vorgehen nach dem Motto »na, dann wählt eben einen Betriebsrat« nicht so einfach möglich ist. Zwar gibt es mittlerweile einen deutlich erweiterten Diskussionsstand zum Thema union busting und aggressive Betriebsratsbekämpfung (vgl. Rügemer/Wigand 2014), dieser ist jedoch längst nicht in alle Winkel der Gewerkschaft vorgedrungen. Es kommt noch immer zu strategischen Fehlberatungen und Misserfolgen, welche die noch junge Beziehungsgeschichte zwischen prekär Beschäftigten und Gewerkschaften oft im Keim ersticken.

Zweitens prallen im Fall prekärer Konflikte oft differente Logiken aufeinander: Die GewerkschaftsfunktionärInnen orientieren sich in ihrer Alltagsarbeit primär an der organisationspolitischen Logik einer effizienten Ressourcenallokation mit dem Ziel der Mitgliederbindung und -werbung. Angesichts beschränkter Zeitbudgets engagiert man sich dort, wo die Stammklientel betroffen ist oder Mitgliederzuwächse möglich scheinen. Die prekären AktivistInnen befinden sich dagegen oft in existenziell schwierigen Situationen, sie werden mit Klagen überzogen, ihr Arbeitsverhältnis und ihre materielle Lebensgrundlage sind bedroht, ihre Reputation und ihr Selbstbewusstsein sind in Gefahr, sie führen einen stark moralisch geprägten und zum Teil uneigennützigen Kampf – eine ähnliche bedingungslose Kampf- und Opferbereitschaft erwarten sie auch von der Gewerkschaft. Hier kommt es zuweilen zu bitteren Missverständnissen – in der Form eines Vertrauensverlusts und im schlimmsten Fall durch wechselseitige Anfeindungen: Korruptionsvorwürfe in Richtung Gewerkschaft stehen einer Stigmatisierung der betrieblichen Kämpfe als unverantwortliche ›Verrücktheiten‹ gegenüber.

Drittens verläuft das Nebeneinander von gewerkschaftlicher Unterstützung und anderen, breiteren Bündnissen nicht immer konfliktfrei. Autonome oder studentisch geprägte Unterstützungskollektive evozieren auf gewerkschaftlicher Seite teils Angst vor Kontrollverlust, obwohl eine Vernetzung vielfältiger Kräfte des Widerstands und unterschiedlicher sozialer Bewegungen gerade in prekären Beschäftigungsbereichen ein Gebot der Stunde wäre.

Und viertens erweisen sich auch Organizing-Kampagnen in prekärem Gelände manchmal als problematisch. Grundsätzlich sind diese zu begrüßen und haben insbesondere bei ver.di ein deutliches Organisationslernen über Möglichkeiten der Organisierung von prekär Beschäftigten bewirkt. Eine typische ›Organizing-Falle‹ besteht jedoch darin, dass Kampagnen zu kurzfristig und zu wenig nachhaltig angelegt sind. Sie zielen zu stark auf Mitgliederwerbung und zu wenig auf eine authentische Stärkung einer Organisierung von unten. Sie finden nicht unbedingt dort statt, wo die betriebliche Realität am kritikwürdigsten wäre, sondern dort, wo man am leichtesten Mitglieder findet oder spezielle tarifpolitische Ziele verfolgt werden. Nicht selten bricht das Erreichte daher teilweise wieder zusammen, wenn die gewerkschaftlich bezahlten AktivistInnen abgezogen werden.

Die Aufzählung der genannten Probleme ist nicht als besserwisserische, unsolidarische Mängelliste gemeint, sondern als Hinweis darauf, dass noch ein Stück Weg zu gehen ist, um prekär Beschäftigte in den DGB-Gewerkschaften heimisch werden zu lassen. Abschließend sei noch einmal betont: Es hat sich viel getan in den letzten Jahren. Zu nennen wäre etwa die erfolgreiche Mindestlohnkampagne – selbst wenn sie in Zukunft hoffentlich noch erfolgreicher wird, indem die umfangreichen Ausnahmeregelungen abgeschafft werden. Auch die Organizing-Kampagnen und die Strategien der ›Organisierung am Konflikt‹ haben viel bewegt. Aber: Die Zeiten bleiben hart. Es gibt nach wie vor weite Bereiche von Beschäftigung in Deutschland, zu denen Gewerkschaften kaum Zutritt haben und in denen sie keine Rolle spielen. Dort ist Gewerkschaftsarbeit eine Art Sisyphosarbeit unter schwierigen Bedingungen. Hart erkämpfte Organisierungserfolge werden zunichte gemacht durch die hohe Fluktuation der Beschäftigten und professionelle sowie ausdauernde Repressionsstrategien der Unternehmer, die immer wieder am längeren Hebel zu sitzen scheinen. Dagegen gibt es nicht die eine richtige Strategie, sondern es bedarf einer Vielfalt von Strategien, die an die Bedingungen der Branche und auch der einzelnen Betriebe angepasst sind. Wenn es überhaupt einen gemeinsamen Nenner dieser Kämpfe gibt, so ist es das Prinzip der Vernetzung zwischen verschiedenen Betrieben, Akteuren, UnterstützerInnen und Gewerkschaften, am besten international. Mit anderen Worte: Es ist das Prinzip der Solidarität. Und vielleicht bedarf es auch einer etwas ›verrückteren‹ Gewerkschaftspolitik, die – jenseits notwendiger Steigerung von Mitgliederzahlen – die Durchsetzung von Gerechtigkeit und Würde im Bereich der Arbeitswelt zu ihrer unbedingten Prämisse macht.

Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung ihres Vortrags auf der zweiten Streikkonferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die in Kooperation mit ver.di veranstaltet wurde.

Literatur

Artus, Ingrid, 2008: Interessenhandeln jenseits der Norm. Mittelständische Betriebe und prekäre Dienstleistungsarbeit in Deutschland und Frankreich, Frankfurt/M, New York

Dies., Constanze Kraetsch und Silke Röbenack, 2014: Sicherung der betrieblichen Mitbestimmung durch Betriebsratsgründungen. Prozesse und Strategien der Betriebsratsgründung, Erlangen

Bourdieu, Pierre, 1998: La précarité est aujourdʼhui partout, in: ders., Contre-feux; Propos pour servir à la résistance contre lʼinvasion néo-liberale, Paris, 95–101

Geissler, Christian, 1973: Das Brot mit der Feile, Hamburg

Jaehrling, Karen, Thorsten Kalina, Achim Vanselow und Dorothee Voss-Dahm, 2006: Niedriglohnarbeit in der Praxis – Arbeit in Häppchen für wenig Geld, in: Gabriele Sterkel, Thorsten Schulten und Jörg Wiedemuth (Hg.), Mindestlöhne gegen Lohndumping. Rahmenbedingungen – Erfahrungen – Strategien, Hamburg, 114–141

Kelly, John E., 1998: Rethinking Industrial Relation. Mobilization, Collectivism and Long Waves, London/New York

Rügemer, Werner und Elmar Wigand, 2014: Union-Busting in Deutschland. Die Bekämpfung von Betriebsräten und Gewerkschaften als professionelle Dienstleistung, OBS-Arbeitsheft 77, Frankfurt/M